Was ist neu

Nanakuli, Hawaii

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27.08.2007
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Nanakuli, Hawaii

Nanakuli, Hawaii

für Heather

Der Moment zwischen Schlaf und Aufwachen ist grausam. In dieser Grauzone, wenn sie sich halbwach schon fast vom Traum verabschiedet hat, kracht es mit der Wucht eines Zwölftonners auf sie ein: Er ist tot. Er ist gestorben, er kommt nicht mehr wieder. Er ist weg.
Träumt sie nicht nur, wird sie nicht gleich aufwachen und sich alles als gräßlicher Alptraum erweisen? Wird sie wankend aufstehen und vor Glück fast heulen, weil es Gott sei dank nicht wahr ist?
In dem Moment, wo sie mit nassem Gesicht die Augen aufschlägt, wird es zur Gewissheit - jeden Tag aufs Neue, brutal und unwiderbringlich.
Ja, er ist tot.
Er kommt nicht mehr wieder.
Das Einzige, was jeden Tag wiederkommt, ist der schreckliche Moment zwischen Schlafen und Wachen.
Tagsüber kann sie sich ablenken.
Im Halbschlaf ist sie gefangen, wie in einem Käfig. Es gibt kein Erbarmen.


Sarah kippte gerade Katzenfutter in die helle Schüssel auf dem Fußboden. Trockenfutter, das andere klebte so eklig nach einer Weile. Die fröhlichen Stimmen von Megan und Will klangen hell im Garten, sie betrachteten die neuen Stabheuschrecken, die John ihnen in einem Anfall von väterlicher Idiotie letzten Samstag gekauft hatte. In einer Stunde würde er nach Hause kommen und konnte sich bitteschön selber um die seltsamen Viecher kümmern. Sie hatte Lust auf ein Glas Wein.
War es ein Anzeichen von Alkoholismus, sich schon vor achtzehn Uhr ein Glas Wein einzugießen? Alleine, wenn die Kinder noch draußen spielten?
Es war Frühling, es war lau, sie griff nach dem Merlot.
Das Telefon klingelte.
“Mrs. Bryant?”
Eine unbekannte Stimme. Ein Versicherungsverkäufer?
“Hier ist das St. Mary’s Krankenhaus in Nanakuli. Sie sind als Kontaktperson in den medizinischen Unterlagen ihres Bruders angegeben. Mrs. Bryant, ihr Bruder hatte eine Hirnblutung. Er liegt in einem künstlichen Koma. Wir brauchen die Zustimmung eines Familienangehörigen, um das Beatmungsgerät abzustellen. Mrs. Bryant, können Sie nach Hawaii kommen?”

Die Menschen im Flugzeug schwatzten fröhlich, gierten nach Strand und Sonne, machten Pläne. Ein Hauch von Sonnencreme lag in der Luft.
Nach Hawaii flog man doch nicht zum Sterben.
Seit dem Anruf am Nachmittag stand Sarah unter Strom. In ihrem Kopf tobten die Ereignisse der letzten Stunden, das Telefongespräch mit John, der im Pendlerzug festsaß, und immer nur wieder ins Telefon flüsterte: ”Schatz, ich bin gleich da, ich bin gleich zu Hause“. Sie sah Megans erstauntes rundes Gesicht, hörte wieder ihr “Mama was ist denn?” und den hysterischen Anruf ihrer Mutter.
Ihre Mutter würde nicht nach Nanakuli kommen.
“Ich kann das nicht!”, hatte sie geschrien, “ich kann das einfach nicht! Mein Baby!”
Ihre Mutter hatte sich schon immer bei Schicksalsschlägen erschöpft und weinend in ihr Schneckenhaus verkrochen. Warum sollte es diesmal anders sein.
Sarah verspürte Brechreiz und schob sich mit einem “Sorry!” an einem urlaubsfröhlichen, dicken Mann im Blumenhemd vorbei, zu der winzigen Flugzeugtoilette.
“Kein Problem”, erwiderte der Mann erstaunt.
Sie würgte Spucke in das verdreckte Klo, nichts war in ihrem Magen, das hätte herauskommen können. Im Spiegel sah sie ein aschgraues Gespenst.

Die milde, duftende Luft der Insel kam ihr so falsch vor. Warum war es nicht eiskalt, grau und öde, das hätte doch gepasst. Überall diese Blumen, dieses pralle, bunte Leben. Selbst im Krankenhaus standen diese fleischigen roten Blüten herum.
Das war doch nicht ihr kleiner Bruder, dieses verkabelte, wächserne Wesen. Das sollte Chris sein? Chris, der einen ganzen Raum mit seiner Schlagfertigkeit zum Lachen brachte, der brilliante Wissenschaftler, der sanfte Onkel ihrer Kinder - ihr kleiner Bruder, der brav mit ihr Puppenschule gespielt hatte? Chris, der als Fünfjähriger beinahe ertrunken wäre, der Kämpfer für Gerechtigkeit, der bücherverschlingende Träumer, dessen Gitarrespiel Mädchen aller Nationen dahinschmelzen ließ?
Es ergab keinen Sinn. Es konnte nicht sein.
Der hohle, klagende Ton im Zimmer kam aus ihrem Mund. Sie hielt seine weiche Hand fest und sah nichts mehr vor lauter Tränen.

Tante Meredith war gekommen. Meredith war schon immer eingesprungen, wenn Sarahs Mutter versagt hatte.
“Sie sagen, es ist hoffnungslos”, weinte Sarah in Merediths graue Haare hinein. “Er kann nicht überleben.”
Meredith legte ihren Arm auf Sarahs Schulter, als diese das Papier unterschrieb. Meredith rief alle an, die Bescheid wissen mussten. Meredith hielt ihre Hand, als Chris starb.

Die beiden Frauen gingen zu dem Strand, an dem Chris zusammengebrochen war. Sie setzten sich in den Sand und tranken eine Flasche Wein, aßen ein kleines Picknick. Betrachteten die atemberaubend schöne Landschaft, den blutroten Himmel, das wulstige Lavagestein, das üppige Grün. Es war das letzte, was Chris in seinem Leben gesehen hatte. Sarah kam sich vor, wie auf einem anderen Planeten. Das Handy klingelte ununterbrochen, alle wollten reden: entsetzte Freunde, John und die Kinder, Merediths Mann, Sarahs Mutter, die wie von Sinnen war.
Eine Gruppe einheimischer junger Leute sah sie weinen und kam mitfühlend näher. Meredith erzählte, wie Chris am Strand seiner Hirnblutung erlegen war, dieser heimtückischen Laune der Natur, die unangekündigt und gnadenlos zuschlug.
“Wer hat ihn denn gefunden?”, fragte eins der jungen Mädchen. Ihr Gesichstausdruck war seltsam angespannt. Sie war kräftig und hatte tätowierte Oberarme, die aus einem zu knappen hellblauen T-Shirt quollen.
“Touristen”, anwortete Sarah. “Sie sind hier spazierengegangen. Chris wollte hier zelten, seine Sachen lagen neben ihm.”
Die jungen Leute wechselten einen Blick, verabschiedeten sich mit tröstenden Worten und gingen weiter.

Im Flugzeug zurück nach New York überkam Sarah ein gewisser Frieden. Viel zu früh war Chris gestorben, aber wenn man schon so zeitig sterben musste, dann doch so: am Strand von Hawaii, näher kam man dem Paradies wohl nirgendwo. Sie brachte es fertig, die dunkelbraun gebrannten Passagiere mit ihren albernen Blumenketten um den Hals anzulächeln, sie waren glücklich, das war doch was. Das war doch das Einzige, was zählte. Sie nahm etwas zu sich, sie schaute einen Film an. Sie war so unendlich müde.
Die Beerdigung, darauf musste sie sich jetzt konzentrieren. Und darauf, nicht zu weinen.

Der Anruf kam mitten in der Nacht. War das schon wieder Sarahs Mutter?
“Mrs. Bryant, hier ist Inspektor Watford, Nanakuli Polizei. Es tut mir leid, ich habe schlechte Neuigkeiten.”
War der Mann nicht ganz bei Trost? Was für schlechte Neuigkeiten konnte es denn um alles in der Welt noch geben?
“Die Hirnblutung Ihres Bruders wurde durch einen Schlag an den Kopf ausgelöst. Wir haben eine Zeugin, die von einem Überfall am Strand berichtet hat.”
Das Schlafzimmer begann, sich um Sarah herum zu drehen.
“Warum erzählen Sie mir das?”, schrie sie voller Wut. Das winzige Gefühl des Friedens aus dem Flugzeug war verschwunden. Was sagte der Mann denn da? Jemand hatte Chris ermordet?
“John!”, weinte sie und schmiss das Telefon auf den Boden.

Meredith schickte ihr den Zeitungsartikel am nächsten Morgen per E-mail. Ein bulliger junger Mann mit niedriger Stirn und ohne Hals, ein menschlicher Troll. Ein Monster. Ein halbes Kind, brutal und dumm. Sarah starrte das Foto an und empfand gar nichts. Sie war so ausgebrannt.
Das tätowierte Mädchen hatte der Polizei alles erzählt, nachdem sie Sarah am Strand getroffen hatte. Der Schläger war ihr Freund und hatte in volltrunkenem Zustand seine Faust an den Kopf ihres Bruders geschmettert, weil dieser fotografierte und in der freien Natur zelten wollte.
“Chris, du Idiot”, flüsterte Sarah, “warum bist du nicht ins Hotel gegangen, wie alle anderen blöden Touristen?”
Dass die Einwohner Hawaiis nicht gut auf Touristen zu sprechen waren, war allgemein bekannt. Dass sie dabei das Fausrecht walten ließen, war neu.
Er könne sich nicht erinnern, hatte der Täter zu Protokoll gegeben, aber es täte ihm trotzdem leid.


“Das Schwein!”, kreischte ihre Mutter am nächsten Tag in Sarahs Küche. Die Neuentwicklung des Falles hatte sie elektrisiert und aus ihrem Schneckenhaus herausgelockt. Ihr brennender Schmerz hatte jetzt ein Ziel.
“Er gehört auf den Stuhl! Er hat mir mein Leben zerstört!”
“Mama…”
“Ich hasse ihn! Was macht die Polizei? Ist er angeklagt? Ich will, dass er lebenslang bekommt!”
Sarah blickte in den Garten hinaus, ohne etwas zu sehen. Ihr kleiner Bruder, mit dem freundlichen Lächeln und dem Fotoapparat um den Hals. Er hatte wahrscheinlich bis zuletzt nicht verstanden, was los war. Chris hatte Gefahr nie begriffen.
Sarah vermisste ihren Bruder so rasend und das sollte nun für immer sein?
“Ist Onkel Chris bei Gott?”, fragte Megan mit dünner Stimme.
“Wehe sie lassen ihn auf Kaution raus!” Sarahs Mutter tigerte durch das Zimmer.
Sarah schloß die Augen. Sie wollte keine Racheorgie.
Sie wollte ihren Bruder Chris anrufen, und ihm von dem schrecklichen Traum erzählen, in dem er gestorben war. Und wie sie beim Aufwachen erleichtert geweint hatte.

Aber der Moment des Aufwachens ist immer am schlimmsten.

 

Hallo sammamish,

die Geschichte lässt sich gut lesen, keine Stolpersteine in deinen Sätzen, man kann sich gut auf den Text konzentrieren.

Eine Geschichte über Trauer und Verlust, die zunächst den üblichen Weg geht, bis sich dann aber, durch eine unerwartete Wendung, eine neue Ebene erschließt. Gerade noch war man geneigt, sich den Gedankengängen der Prota anzuschließen, den Tod des Bruders als wahres Schicksal anzunehmen und auf diese Weise irgendwie einen versöhnlichen Frieden zu finden, und dann kommt die Nachricht, dass ... aber ich will nicht zuviel verraten. Nur verändert das plötzlich die Perspektive und das Urteil, d. h., auch ich als Leser habe einen richtigen Ruck in meinen Gedanken gespürt. Es gibt eben noch einen Unterschied zwischen einem "unvermeidlichem" Schicksal und der Tatsache, dass man einfach zur falschen Zeit am falschen Ort den falschen Leuten begegnet. Auch das ist natürlich Schicksal - nur fällt es einem viel schwerer, das so zu akzeptieren.

Eine interessante Geschichte. Mit Interesse gelesen.

Grüße von Rick

 

Hallo Rick,
ich bin froh, dass du genau das rausgelesen hast, worum es mir hier ging, das Sterben eben doch nicht gleich Sterben ist, fuer die, die uebrig bleiben...

Grus, sammamish

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo sammamish,

ich bin mir nicht sicher, ob ich deine Geschichte richtig verstanden habe. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob Chris am Ende tatsächlich tot ist, oder nicht. Meine Tendenz geht in die Richtung, dass Sarah alles nur geträumt hat. Schließlich will sie Chris ja von dem schrecklichen Traum erzählen. Allerdings wäre das ein ziemlich "abgeschmacktes" Ende, auch wenn du, durch den ersten Satz, so dezent drauf hinweist, dass man als Leser ein "Aha-Erlebnis" hat und die Geschichte dadurch doch irgendwie wieder recht gut ist. Aber ich hab trotzdem auch den Eindruck, dass ich mit meiner Interpretation daneben liege. Du schreibst, Sarah war beim Aufwachen erleichtert. Im nächsten (Schluss-)Satz schrteibst du, der Moment der Aufwachsens ist immer am Schlimmsten. Das, und diese Grauzone (hat die was mit dem Koma zu tun?) verstehe ich nicht. :)

Davon abgesehen hast du einen schönen Erzählstil, die Wortwahl ist treffend, die Sprache anschaulich. Der Inhalt kam sehr realistisch, spannend und dramatisch bei mir an. Dass die Hirnblutung durch einen Schlag auf den Kopf verursacht wurde, überraschte mich dabei ebenso sehr wie deine Protagonistin.

Hab die Geschichte gerne gelesen. :)

Detailanmerkungen Sprache/Rechtschreibung/Zeichensetzung:

erschöft - erschöpft
"Warum erzählen Sie mir das ?" - ohne Leerzeichen
e-mail - E-Mail
"weil dieser fotografierte, weil er in der freien Natur zelten wollte" - evtl. "wie er in der freien Natur zelten wollte? (doppelt "weil")
liessen - ließen

Viele Grüße
Michael

 

Hallo Michael,

da hast du wirklich etwas missverstanden. Der Bruder ist gestorben. Es soll wie eine Rahmenhandlung sein, der erste Teil ist die Gegenwart, wenn sie im Halbschlaf immer wieder glaubt, alles sei nur ein Traum. Dann kommt immer das grausame Erwachen. Dann kommt der Rückblick auf die Ereignisse. Am Schluss steht der Wunsch, doch einfach aus diesem Albtraum aufzuwachen und dem Bruder davon erzählen zu können, wie sehr sie ihn vermisst hat.
Aber es ist eben kein Traum. Hoffe, es ist jetzt klarer.
Allerdings spricht es ja nicht gerade für die Geschichte, wenn ich es im Nachhinein noch interpretieren muss …
Die Geschichte habe ich vor langer Zeit aus gegebenem traurigem Anlass geschrieben. Jetzt bin ich mir gar nicht so sicher, ob ich sie noch mal hier reinstellen würde.
Falls dich die Hintergründe interessieren:

http://www.kitv.com/news/13252204/detail.html


Danke für’s Lesen und viele Grüße,
Sammamish

 

Hallo Sammamish,

durch den Link und deine Erklärung ist mir der Inhalt nun klar geworden, vielen Dank. Hab mir die Geschichte noch mal angeschaut, macht schon Sinn. Der erste Absatz steht ja im Präsens; und durch den Schlusssatz kann man als Leser evtl. die richtigen Rückschlüsse ziehen. Dass die realen Ereignisse deine Protagonistin wie im Traum verfolgen, ist nachvollziehbar. Trotzdem hatte mich das Ende etwas verwirrt. Aber ich kann nur für mich sprechen. Evtl. ist das anderen Lesern gleich klar geworden; hier wäre eine unvoreingenommene, weitere Lesermeinung interessant.

Verständlicher wäre es für mich gewesen, wenn du am Ende z. B. eine kleine Ergänzung eingefügt hättest. Z. B.:

Aber es war kein Traum. Der der Moment des Aufwachens ist immer am schlimmsten.
Aber wie gesagt, ich kann nur für mich sprechen. ;)

Viele Grüße
Michael

 

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