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Narziss und Felicitas
"Du kannst dein Leben erst dann völlig genießen, wenn du imstande bist, dich selbst mit jeglichen Dingen zu umgeben, die dir Freude bereiten", bemerkte er während er das Weinglas vom Tisch nahm und sich lässig auf der Ledercouch zurücklehnte, sieh her, genau diese Dinge meine ich, und führte dann seinen Monolog fort, "und solange das nicht so ist, musst du hart dafür arbeiten. Du darfst den Zustand der Unvollkommenheit nicht tatenlos hinnehmen, Felicitas. In eindimensionalen Realitäten musst du deine 3D-Brille aufsetzen." Er lachte, sich der lächerlichen Simpelheit seiner Aufforderung bewusst. "Du bist ein Niemand, aber tu so, als gehörte dir die Welt. Kleide dich in das Gewand der Lüge, wenn die Wahrheit bloß nackt und hässlich ist wie eine alte Hure. Verstehst du, was ich meine?", fragte er, erwartete aber keine Antwort von ihr und nahm einen großen Schluck von seinem Chardonnay. Sie verstand sehr gut und teilte auch die meisten seiner Ansichten, jedoch verabscheute sie die Sicherheit, die er ausstrahlte, als könne ihn nichts auf der Welt erschüttern. Kleide dich in das Gewand der Lüge. Das würde letztendlich bedeuten, dass die beiden sich belügen würden wenn die Wahrheit hässlich würde. Und macht das Sündigen es einem selbst nicht unmöglich, den anderen für seine Sünden zu verurteilen? Was passiert, wenn zwei Diebe sich gegenseitig bestehlen und erfahren, was der jeweils andere getan hat? Außer in Lügen kleidete er sich offensichtlich gerne in Armani, hüllte sich in eine Wolke von Chanel und ließ seine ledernen Slipper von Hand anfertigen. Er hasste Sandalen wie die Pest, wie er ihr sagte. Einerseits fand sie die Vorstellung, mit einem aüßerlich unattraktiven Mann, der keinen Gedanken an seine Kleidung verschwendete und zu Sandalen, durch die seine weißen Socken zu sehen waren, grüne oder lilafarbene Jogginganzüge bevorzugte, zusammen zu sein, abstoßend, aber genauso abstoßend war die Vorstellung, mit einem Mann zu leben, der die meiste Zeit damit verbrachte, seine äußere Erscheinung zu perfektionieren. Wahrscheinlich traf diese Beschreibung genau auf den Mann zu, der neben ihr auf dem Sofa saß. Sie stellte ihr Glas ab. Es gab keine Bilder in seinem Wohnzimmer; lediglich Spiegel. Er selbst sollte das prunkvolle Porträt an seiner Wand sein. "Glaubst du an Wiedergeburt?", fragte sie ihn plötzlich und unverblümt. "Nein", gab er ohne langes Überlegen zurück, "ich glaube, Glauben ist ein Haufen Scheiße." Er lachte. In einem früheren Leben hätte er nur ein einziger sein können: der junge Narziss, der sich unsterblich in sein Spiegelbild verliebt, mit jedoch einem Unterschied: Er hätte Echo, die lediglich Narziss' sich selbst gewidmeten sehnsüchtigen Worte wiederholen konnte, nicht über seiner Schönheit ignoriert, sondern er hätte sie ein, zwei Mal genommen, und sich dann wieder in seiner unerfüllten Liebe verloren. Vielleicht war er in einem früheren Leben auch ein Dandy, mit verschiedenen Friseuren, zuständig für verschiedene Partien seiner Kopfbehaarung, mit verschiedenen Schneidern, zuständig für die einzelnen Finger seiner Handschuhe, ein Mann, dessen höchstes Ziel es war, seine Countenance zu bewahren und der das männliche Geschlecht bevorzugte und seine sexuelle Erfüllung in Analverkehr und Fellatio fand? Nein. Er liebte die Frauen. Er liebte es, sie mit Materiellem zu beeindrucken, er liebte ihre Beine, ihre Brüste, vor allem ihre Brüste. Ein gewöhnlicher Mann, der sich für außergewöhnlich hielt. Sie hatte seinen Namen vergessen, den er bei ihrem Treffen ein paar Stunden vorher kurz erwähnt hatte; deshalb taufte sie ihn nun auf den Namen Narziss, er erschien ihr als der geeignetste. Und was suchte sie bei Narziss? Es tat ihr gut begehrt zu werden, unabhängig davon, wer derjenige war, der es tat, vielleicht saß sie deswegen jetzt bei ihm auf der Couch. Mittlerweile hielt er zu einem nachdenklichen Gesichtsausdruck den Wein gegen das Licht. Ich kenne mich aus. Zu diesem hatte er sie eingeladen, nachdem die beiden bei einem Nobelitaliener zu Abend gegessen hatten. Zuerst Essen, dann Wein, dann Sex? War das nicht alles, worauf es hinauslief? Ein Mann und eine Frau, allein in einem großen Haus, mittelmäßig alkoholisiert? Es war so simpel, ein Klischeé. Vielleicht brauchte sie etwas einfaches, etwas, das sie nicht erschütterte, jemanden der sie wollte, ja genau in diesem Moment.
Zwischen zwei Küssen, mit denen er sie fast erstickt hätte, schaute er in den Spiegel, der als Rückenlehne seines Bettes diente und lächelte. Selbst beim Sex hätte er eine schlecht sitzende Frisur nicht hingenommen. Sie nahm ihre Beine hoch, legte sie auf seine Schultern und drehte ihren Kopf zur Seite, um seiner Zunge zu entkommen. Mit jedem seiner Stöße drang er sehr tief in sie ein, war ihr aber gleichzeitig nicht nah. Was fand sie in diesem Akt, der Vertrautheit zwischen zwei praktisch Fremden vorgaukelte? Und was fand er in ihr? Tränen liefen ihre Wangen herunter, fast lautlos, sie fühlte sich verloren, unvollständig. In diesem Bett gab es bloß zwei Körper, die sich in verschiedenen Stellungen umeinander und ineinander wanden, die ein bedeutungsloses Spiel spielten. Er war nun auf dem Höhepunkt seiner Lust angekommen, er stöhnte, er schrie beinahe, seine Stöße würden heftiger, härter, nachdrücklicher. Sie spürte, wie er in ihr abspritzte, wie das Sperma sich seinen Weg durch sein hartes Glied bahnte, um dann an der Gummiwand zu scheitern. Erschöpft ließ er von ihr ab und fiel neben sie, um wenig später einzuschlafen, und das war der Zeitpunkt als dem Supermann das Kostüm, das er immer ängstlich festgehalten hatte, vom Körper rutschte und nur noch ein einfacher Mann mit Hühnerbrust übrig blieb. Wenn er sich nur sehen könnte, er wäre in Scham versunken. Um das Klischeé zu perfektionieren zündete sie sich eine Zigarette an und blies den Rauch in die von seinem Schnarchen erfüllte Nacht. Sie fragte sich, ob sie einem Menschen jemals gleichzeitig so nah und doch so fern gewesen war.