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Nawalgarhs Zukunft

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24.01.2003
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Nawalgarhs Zukunft

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Das erste bläuliche Licht unterstrich noch die Morgenkälte, als Alexandra aus Frankreich, Michael aus Bratislava und ich in Nawalgarh ankamen. Auf dem Bahnsteig luden wir uns die Rucksäcke auf und sahen uns um: Wir standen auf einem menschenleeren Provinzbahnhof, inmitten von Sand und ein paar staubigen Büschen. Draußen vor der kleinen Halle stieg ein Mann aus einem weißen Auto und sah uns entgegen.

"Are you from the Hotel?", fragte ich ihn.

"I'm Ramesh", antwortete er. Dann entdeckte er Alexandra und umarmte sie stürmisch. Sie hatte uns nicht gesagt, dass sie Stammgast war.

Ramesh fuhr uns in seinem Ambassador zum Hotel, führte uns in einen überdachten Innenhof, wo fünf oder sechs Matratzen auf dem Boden lagen.

"My living room", erklärte Ramesh. "Sit down and relax."

Einige Matratzen waren schon vergeben: Die beiden Söhne und die Tochter von Ramesh schliefen dort. Wir krochen unter mehrere Schichten von Decken. Rameshs Frau brachte weitere heran; dann holte sie Chai und über die heiße Tasse hinweg hatte ich Gelegenheit, Ramesh näher zu betrachten.

Man sah ihm an, dass wir ihn aus dem Schlaf geklingelt hatten. Verwuscheltes, strohig wirkendes Haar, ein verblassendes Sweatshirt. Er unterhielt sich mit uns wie ein Backpacker mit dem anderen. Später kletterte ihm seine Tochter auf den Rücken, zerrte an seinen Haaren, boxte ihn in die Seite. Er lächelte dazu.

"My favorite daughter", sagte er, "in fact, it's my only daughter. She loves to play with my hair."

***​

Etwas später überraschte mich, als ich nach dem Duschen in meinem Zimmer die Steinstufen vom ersten Stock hinabstieg, eine fremde Gestalt im Hauseingang. Ein hochgewachsener Herr im schwarzen Anzug mit nach hinten gekämmtem Haar voller Brillantine. Ich hatte keine Ahnung, wer der Typ war, aber er sah mich permanent an, so dass ich schließlich "hello" in seine Richtung sagte.

"Everybody seems to be fresh now", sagte der Mann. "So you are ready to go?"

War das Ramesh? Ramesh, unser Gastgeber? Er musste es wohl sein. Aber der hatte doch vorhin noch mit verwuscheltem Haar im Sweatshirt neben uns gesessen. Ich hatte ihn nicht wiedererkannt, obwohl nur eine halbe Stunde verstrichen war.

Als die anderen auch da waren, machten wir uns auf den Weg: Ramesh wollte uns die Stadt zeigen. Er ging vor uns her, und dabei sah ich, dass seine braunen Füße in Birkenstocks steckten -– ein interessanter Kontrast zu seinem Anzug. Der Stilbruch war keine Marotte, sondern blanke Notwendigkeit angesichts der schlammigen Fahrrinnen und Pfützen auf den Lehmstraßen der Stadt.

Nach einer Weile führte die Straße durch ein Stadttor mit feinen, stellenweise abgebröckelten Reliefs. Dann wand sie sich zwei-, dreimal zwischen winzigen Geschäften hin und her, die mich an altmodische Tierkäfige erinnerten. Dann standen wir unvermittelt auf einem kleinen Platz. Bärtige Händler hockten an den Hauswänden, hinter Säcken voll rotem Chili, zu Pyramiden geschichteten Ingwerwurzeln und rotweißen Zwiebeln.

"The market of Nawalgarh", erklärte uns Ramesh, und schlappte ungerührt an dem Abfallhaufen in der Mitte vorbei, die Bügelfalten bedrohlich nahe am feuchten Lehm.

Wir folgten ihm. Aus den stinkenden Gemüseabfällen zogen zwei Kühe mit ihren langen Zungen ein paar Blumenkohlblätter heraus. Ein winziger Hund schlappte braunes Wasser aus der Pfütze daneben. An der Ecke hockte ein Junge und kochte Chai, so dass sich der Geruch des Unrats mit dem Duft von Kardamom und Ingwer mischte.

Ein paar Minuten später kamen wir am Museum vorbei. Als wir zwischen dem Gebäude und einem gegenüber geparkten Jeep durchgehen wollten – Ramesh ging wie immer voran – stand plötzlich ein Jugendlicher vor uns. Er wollte zur Seite ausweichen, aber Ramesh hatte sich dieselbe Richtung ausgesucht. Ramesh und der Fremde standen Auge in Auge. Unser Führer machte eine knappe Kopfbewegung nach links, aber der Junge blieb stehen.

Es war genug Platz zum Ausweichen; der Durchgang war so breit, dass drei Leute nebeneinander durchgepasst hätten, aber die beiden Männer standen sich gegenüber wie Bulldozer auf einer einspurigen Landstraße. Ich konnte die Augen von Ramesh nicht sehen, aber ich war mir sicher, dass sie nicht lächelten. Ich sah seine Stirn nicht, aber wahrscheinlich war sie nicht faltenfrei. Ich sah seine Fäuste nicht, aber wahrscheinlich sahen sie nicht aus, wie wenn er seine Tochter streichelte. Was würde nun kommen? Ramesh hätte lächeln und zur Seite gehen können. Aber Ramesh hatte einen schwarzen Anzug an. Er hatte eine wichtige Mission zu erfüllen: Er führte ausländische Gäste durch dieses schmutzige Nest. Er sorgte dafür, dass Geld nach Nawalgarh kam. Dieser Junge dagegen war ein Nichts, er war nicht wichtig für Nawalgarh. Ramesh wich nicht zur Seite. Der andere musste ausweichen.

Zwei Jungs in Schuluniform blieben stehen und sahen Ramesh an. Auch der Goldschmied in einem der Läden nebenan unterbrach sein Gespräch und sah zu den beiden Männern herüber. Doch keiner von den beiden rührte sich. Wir warteten. Die Zeit schien eingefroren.

Schließlich wurde es dem Jungen zuviel. Mit einem gehässigen Zungenschnalzen und einem Rucken des Kopfes machte er den Weg frei. Er drückte sich an der Museumswand entlang und verschwand eilig um die Ecke.

***​

"Also dieser Ramesh", sagte ich später im Innenhof des Hotels zu Alexandra -– auf Deutsch, denn sie hatte in Frankfurt studiert.

"Du meinst vorhin die Szene auf der Straße?" antwortete sie und zog die Decken über ihrem Schoß straffer. Dann
lächelte sie mich an: "Ja, ganz der stolze Brahmane."

"Ach, er ist Brahmane? Aber ich meine, Brahmane sein – das ist doch kein Grund ... Also ich würd' das schon als Arroganz bezeichnen", sagte ich.

"Er spielt nur Theater, glaub's mir", antwortete sie. "Das Dorf würde ihn sonst nicht akzeptieren. Weißt du, Ramesh ist ein reicher Mann in Nawalgarh. Er muss sie einfach von Zeit zu Zeit daran erinnern, dass er Brahmane ist. Ist doch bei uns auch so: Bei Schlecker junior ist es normal, wenn er einen Porsche fährt, aber ..."

Sie beendete ihren Satz nicht, denn in diesem Moment kam Ramesh die Treppe herunter. Er hatte sich erneut umgezogen: Der schwarze Anzug war weg, der Brahmane war weg. Er hatte sich abgeschminkt und ich hatte keine Zeit darüber nachzudenken, wie Alexandra das mit dem Porsche gemeint hatte.

 
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Hi,

wollte eigentlich eine andere Geschichte von Dir lesen. Diese hat mich glücklicherweise festgehalten. Ich denke, daß sich hier eine interessante Diskussion entwickeln kann, doch dazu später.

Insgesamt wirkt Dein Stil gefestigt und man nimmt dem Protagonisten den welterfahrenen Erzähler mit der besonderen Beobachtungsgabe für kleine Details durchaus ab, allerdings bekam dieses Bild im Laufe der Geschichte einige Risse, doch dazu später ebenfalls mehr.

Inhalt:
3 Rucksacktouristen kommen in einer indischen Stadt an und werden später von ihrem Führer durch die Stadt geführt. Hier kommt es zu einer kurzen, einprägsamen Begegnung zwischen zwei Einheimischen, von denen einer der Führer/Gastgeber des Protagonisten ist. Es ist das kurze Abwägen von Klassenunterschieden und demzufolge auch eine übertragene Austragung des Kampfes zwischen den Schichten.
Am Ende gibt es eine Entscheidung, die vom Prot. mit seiner Reisebegleiterin diskutiert wird.

Dass Du es geschafft hast, mich trotz Schilderung vieler Eindrücke zu halten, zeugt von Deiner Fähigkeit, eine Geschichte spannend aufzubauen und die Situation prägnant zu beschreiben.

Nicht ganz zufrieden bin ich mit der Umsetzung Deiner Intention:
Du baust es prima auf, indem Du Ramesh für den Leser aufbaust (vom Schmuddelguy zum Geschäftsmann, der aber seine Wurzeln (Birkenstocks) kennt). Dann die Szene auf der Straße, die sogar neben dem Prot. auch noch weitere Zuschauer bekommt.
Aus meiner Sicht gehst Du zu schnell über die spannende und entscheidende Stelle und ich frage mich: Wo ist hier der gute Beobachter, der uns die winzigen Details einfängt.
Ein gesenkter Blick, eine geballte Faust, ein runtergezogener Mundwinkel – irgendwas, was mir zeigt, was auf dem Spiel steht.

Womit ich auch nicht viel anfangen kann, ist das Gespräch zwischen Prot. und Alexandra.
Warum nimmt der umfassend informierte Prot. gleich ein solch hart bewertendes Wort, wie Arroganz in den Mund? Wann hat sich diese Meinung gebildet und warum gibt es oben bei seinen Beobachtungen nicht schon ein Hinweis darauf?

Nun in Deinem Fall nimmt sie die Verteidigerposition ein, aber für mich sind ihre Argumente zu dünn.
Schon der Hinweis auf den Brahmanen würde mir als Begründung ausreichen. Eine weitere ist das Alter von Ramesh, was in diesen Regionen noch ein wichtiger Faktor ist. Das dritte ist einfach seine Rolle als Fremdenführer.
Statt dessen wird Schlecker junior als Bild genommen, das finde ich etwas dünne.

Mein Vorschlag wäre, dieses abschließende Gespräch wegzulassen, sondern in die Schilderung mit einzubauen. Der Gang durch die Stadt und die nähere Vorstellung von Ramesh, dem Brahmanen (Alexandra könnte erzählen) und dann die Konfrontation mit dem entsprechenden Preis, dem Ansehen und Ruf von Ramesh.
Sowie eine abschließende Bewertung des Prots, so dass ich die Meinung des Autoren herauslesen kann.

Aus technischer Sicht folgende Anmerkungen:


1)

inmitten von viel Leere.
Mmh. Wenn Du sagen willst, dass sonst niemand da war und es irgendwie einsam war, dann versuch´s bitte noch mal. Ich denke, dass kann man auch besser beschreiben.

2)

"I'm Ramesh", antwortete er. Dann entdeckte er Alexandra: Er umarmte sie, hob sie dabei von den Füßen und schüttelte sie in der Luft. Sie hatte uns nicht gesagt, dass sie Stammgast war.
Mir baut sich hier kein Bild auf, da ich Inder allgmein als a) höflich und ziemlich respektvoll, wenn nicht gar ehrerbietig gegenüber Frauen sehe
b) ist es von der Statur möglicherweise etwas kompliziert, eine europäische Frau hochzuheben und dann auch noch in der Luft zu schütteln.
Möglicherweise fällt Dir noch was anderes ein, um die Verbindung zwischen Ramesh und Alexandra zu zeigen, die übrigens derzeit noch nicht besonder relevant für die Geschichte ist.

3)

Zwei Matratzen waren schon vergeben: Die beiden Söhne und die Tochter von Ramesh schliefen dort. Wir krochen unter mehrere Schichten von Decken. Rameshs Frau brachte weitere heran; dann holte sie Chai und über die heiße Tasse hinweg hatte ich Gelegenheit, Ramesh näher zu betrachten.
Durch das Bild mit den 5-6 Matrazen, die bereits 2 vergebenen Matrazen und das anschließende Kriechen in die Decken, hatte ich gedacht, dass die Reisenden direkt mit dem Hausherren dort schlafen. Darum bin ich später auch überrascht, als von Duschen und eigenem Zimmer die Rede ist.
Zumal am Ende der Prot. und Alexandra wieder mit Decken bedeckt sind.
Ich fand dieses Bild sehr stark, dass der Hausherr die Backpacker quasi in seinem Haus aufnimmt und es damit zum Hotel macht.
Ungeklärt bleibt auch, warum 2 Matrazen an 3 Kinder vergeben werden – willst Du damit zeigen, dass die Söhne noch klein sind und sich eine Matraze teilen?
Evtl. sind es aber auch Sitzmatrazen und dieses Lagerfeuerbild mit den Matrazen, was sich bei mir gebildet hat, ist falsch.

4)

Er hatte eine wichtige Mission zu erfüllen: Er führte ausländische Gäste durch dieses schmutzige Nest. Er sorgte dafür, dass Geld nach Nawalgarh kam. Dieser Junge dagegen war ein Nichts, er war nicht wichtig für Nawalgarh. Ramesh wich nicht zur Seite. Der andere musste ausweichen.
Hier bin ich nicht sicher, ob das die Meinung des Prot. ist oder die des Erzählers. Der Prot. dürfte sich so ein pauschales Urteil in dieser Situation nicht erlauben, da er weder Ramesh so richtig, aber noch weniger den Jungen (könnte auch der Sohn des Bürgermeisters sein) kennt. Außerdem würde ich den Prot. so einschätzen, dass er die Situation eher beobachtet, statt so schnell zu bewerten. Wenn es aber die allgemeine Beurteilung durch den Erzähler ist, dann ist es wohl ein Perspektivfehler an einer sehr wichtigen Stelle.
Ich habe oben ja schon ausgeführt, wie man aus meiner Sicht die Sache stärker gestalten könnte.

5)

Er drückte sich an der Museumswand entlang und verschwand eilig um die Ecke.
Steht im Widerspruch zum vorigen Satz, wo der Junge noch einen gewissen Stolz an den Tag legt. Warum soll er sich „entlangdrücken“ und eilig verschwinden?

6)

"Du meinst vorhin die Szene auf der Straße?" antwortete sie und zog die Decken über ihrem Schoß straffer. Dann lächelte sie mich an: "Ja, ganz der stolze Brahmane."

"Ach, er ist Bramahne? Aber ich meine, Bramahne sein – das ist doch kein Grund ... Also ich würd' das schon als Arroganz bezeichnen", sagte ich.

Einmal richtig und 2 mal falsch.
Abgesehen davon passt die Replik der m.E. nicht zum Prot., denn wenn er weiß, was Brahmanen sind, dann würde er nicht schnell meinen, dass dies kein Grund sei.

7)

Der schwarze Anzug war weg, der Brahmane war weg.
Auch das erscheint mir nicht schlüssig, denn es sagt aus, dass der Prot. die Menschen nach ihrer Kleidung bewertet und auch wenn dies aus meiner Sicht nicht zu ihm passt, so sollte er diese Lektion weiter oben gelernt haben.

Generell solltest Du überlegen, wann Du die Handlung spielen lässt. Ich hatte beim Lesen das Gefühl, dass sich der Spaziergang am späten Nachmittag abspielt und die Auswertung am Abend. Dann macht aber eine Ankunft am frühen Morgen (Ramesh war geweckt worden) keinen so richtigen Sinn, da man ja sehr zeitnah aufbricht.

Fazit:
Mir gefallen Geschichten mit so kleinen Details, in denen so viel passiert, was man eigentlich nicht sieht. Dementsprechend sorgfältig sollte man mit dem sichtbaren umgehen, um da keine Unschärfen reinzubekommen. Derzeit habe ich ein verwackeltes Bild vom Prot. und der Haltung des Autoren. Weiterhin wurde beim Höhepunkt einiges verschenkt.
Interessanterweise habe ich vor einiger Zeit eine ähnliche Konstellation beschrieben. Sollte Dir also stellenweise nicht ganz klar sein, was ich versuche auszudrücken oder in welcher Richtung ich mir die Geschichte vorstelle, kannst Du gern mal nachschauen.
Eine anschließende Diskussion fände ich sehr reizvoll. Ich habe absichtlich keinen Ich-Erzähler gewählt, um objektiv bleiben zu können. Somit vermeide ich dann auch subjektive Bewertungen durch den Prot. und kann ausschließlich auf den Konflikt fokussieren.
Allerdings gibt so ein Ich-Erzähler so einer Geschichte natürlich ein nicht unwichtiges Maß an Authenzität.

Grüsse
mac

 
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Hallo macsoja,

deine Kritik zeigt mir, dass du dir wirklich viel Mühe mit meiner Story gemacht hast. Vielen Dank dafür.

- Das Duell der Kampfhähne ist dir zu oberflächlich geschildert? Nun, ich werde nachdenken, ob ich was einfügen kann, das "zeigt, was auf dem Spiel steht".

Warum nimmt der umfassend informierte Prot. gleich ein solch hart bewertendes Wort, wie Arroganz in den Mund? Wann hat sich diese Meinung gebildet und warum gibt es oben bei seinen Beobachtungen nicht schon ein Hinweis darauf?
-> Good point. Ich werde noch ein bisschen über den Ich-Erzähler nachdenken.

- Zum Schluss: Ein Brahmane muss sich deiner Ansicht nach so verhalten, deswegen ist die Erklärung von Alexandra überflüssig. Hab ich dich richtig verstanden?

- Statt dessen wird Schlecker junior als Bild genommen, das finde ich etwas dünne.
-> Ein grundsätzlicher Punkt für mich. Ich finde, eine Geschichte über die indischen Kasten ist schön und gut, aber wenn sie keinen Bezug zum Hier und Jetzt des Lesers hat, dann bleibt es ein Reiseführer-Text.

Zu deinen technischen Anmerkungen:
1.) Inmitten von viel Leere -> Hab ich konkretisiert

2.) eine europäische Frau hochzuheben -> Die Stelle hab ich verbessert, vor allem, weil Alexandra ja noch den Rucksack hatte!

3.) Ungeklärt bleibt auch, warum 2 Matrazen an 3 Kinder vergeben werden -> Die Zahlen sind mir nicht wichtig, hab die Stelle deshalb etwas allgemeiner gemacht

4.) Er hatte eine wichtige Mission zu erfüllen -> Ich verstehe deine Einwände, sie sind irgendwie schlüssig, aber ich möchte dazu aber noch ein paar andere Reaktionen abwarten (auch offline).

5.) Er drückte sich an der Museumswand entlang...-> Dieses Schwanz-Einziehen halte ich für natürlich.

6. und 7.) Die Rächschreipfeler hab ich korrigiert. Zur Brahmanenproblematik hab ich mich oben geäußert.

Ich hatte beim Lesen das Gefühl, dass sich der Spaziergang am späten Nachmittag abspielt und die Auswertung am Abend -> Kann ich nicht nachvollziehen.

Deine Geschichte nehm ich mir morgen vor.

Bis dann sag ich nochmal vielen Dank für die hilfreichen Kommentare.

Grüße,
Stefan

 

- Zum Schluss: Ein Brahmane muss sich deiner Ansicht nach so verhalten, deswegen ist die Erklärung von Alexandra überflüssig. Hab ich dich richtig verstanden?
Das Wort "müssen" versuche ich als Autor zu vermeiden. Es hat alles zwei Medaillen. Darum lieber so:
- wenn ein Brahmane nicht ausweicht, dann kann ich das mit dem Wissen, was ich über Brahmanen habe, verstehen/ahnen/nachvollziehen

Was mich stört, ist die scheinbare Zurückführung auf die Kaste. Durch das Gespräch der beiden wird dieses Ereignis reduziert auf die Kaste. Das muß/ sollte nicht sein.
- es könnte "Alter" und "Junger", "Reicher" und "Armer"; "Wichtiger" und "Unwichtiger" sein

Alexandra und der Prot. könnten mutmaßen, daß es die Kaste ist, aber vielleicht ist es sehr viel mehr, was sie als Europäer eben nicht verstehen und fassen können. Bei der jetzigen Brahmanen-Fokussierung am Ende, fürchte ich allerdings, reduziert sich das Thema nur darauf, inzwischen bin ich aber etwas verunsichert und weiß nicht, ob es nicht vielleicht doch Deine Absicht war.

- Statt dessen wird Schlecker junior als Bild genommen, das finde ich etwas dünne.
-> Ein grundsätzlicher Punkt für mich. Ich finde, eine Geschichte über die indischen Kasten ist schön und gut, aber wenn sie keinen Bezug zum Hier und Jetzt des Lesers hat, dann bleibt es ein Reiseführer-Text.
Ich für meinen Teil befürworte keinen Text über das indische Kastensystem. Ich finde es reizvoll, wenn der Aspekt mitschwingt.
Für mich ist das weitaus allgemeinere Thema "Ehrgefühl" oder...mmh "Selbstwertgefühl" interessanter, da es m.E. in unseren Breiten nicht so stark im Bewußtsein ist. Nicht umsonst spielt meine Geschichte auch weiter im Süden.
Interessant ist darüber nachzudenken, warum es in südlichen Ländern, so wichtig ist, das Gesicht zu wahren - siehe auch Ehr-Morde.
Ich denke, in unseren Breiten gibt es das gar nicht und es lohnt sich, darüber nachzudenken, was die Gründe sind.
Willst Du damit sagen:
Bei uns gibt es Statussymbole (Porsche), aber die Menschen begegnen sich nicht mehr und dadurch werden die Konflikte nicht ausgetragen.
Ich glaube, das kommt nicht raus und ich weiß nicht, ob es ausreichend ist.
Denn die Parallel-Verschiebung
Brahmane+Anzug = Schlecker+Porsche
funktioniert in meinen Augen nicht.
Da ich den Anzug als wichtiges Arbeitsutensil von Ramesh ansehe und den Porsche als ausgelutschtes Statussymbol, denn es gibt auch Porsches zu 3000€ beim Gebrauchtwagenhändler.
Darum denke ich eben, daß die Reduzierung auf Sachen (siehe Umziehen von Ramesh) eben nicht funktioniert, weil zu kurz gesprungen.

5.) Er drückte sich an der Museumswand entlang...-> Dieses Schwanz-Einziehen halte ich für natürlich.
Ich eben nicht, da ich von dem "Ehr"-Motiv ausgehe und beide das Gesicht nicht verlieren dürfen. D.h. auch der Junge wird einen Abgang in Würde versuchen, wenn er schon ausweicht, einfach um nicht die nächsten Wochen zum Gespött der Straße zu werden und für seine eigene Psyche eine Version zu basteln, mit der er leben kann.

Fazit:
Möglicherweise sehe ich mehr in Deiner Geschichte, als Du aussagen wolltest.

Insofern ist auch dieses davon abhängig:

- Das Duell der Kampfhähne ist dir zu oberflächlich geschildert? Nun, ich werde nachdenken, ob ich was einfügen kann, das "zeigt, was auf dem Spiel steht".
Die Frage ist, was auf dem Spiel steht -> dementsprechend groß solltest Du dann das Kräftemessen machen.

Ich bin gespannt ;)

bis bald
mac

 
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Hi again,

Was mich stört, ist die scheinbare Zurückführung auf die Kaste.
-> Alexandra führt es auf sie zurück, es ist dir unbenommen, ihre Interpretation abzulehnen oder zu ergänzen durch Alter, Selbstwertgefühl etc.

vielleicht ist es sehr viel mehr, was sie als Europäer eben nicht verstehen und fassen können.
-> Genau, wahrscheinlich ist das der Fall. Aber das hier ist eine Geschichte aus der Perspektive eines Touristen. Mehr Wahrheit als das bisschen Kastentheorie ist für sie kaum drin.

und weiß nicht, ob es nicht vielleicht doch Deine Absicht war.
-> Ich möchte hier lieber den Text diskutieren als meine Absichten.

leixoletti: Dieses Schwanz-Einziehen halte ich für natürlich.
macsoja: Ich eben nicht, da ich von dem "Ehr"-Motiv ausgehe und beide das Gesicht nicht verlieren dürfen. D.h. auch der Junge wird einen Abgang in Würde versuchen, wenn er schon ausweicht...
-> Die amerikanische Creative-Writing-Schule sagt, man sollte immer die maximale Fallhöhe eines Konflikts auskosten. Aber muss das bedeuten, dass zwei Eheleute, die am Anfang einer Geschichte mit Tellern schmeißen, sich am Ende der Story umbringen? In diesem Fall gehe ich nicht bis zum Totschlag. Etwas Körpersprache (oder was der Ich-Erzähler davon erahnt) habe ich aber noch eingebaut.

Möglicherweise sehe ich mehr in Deiner Geschichte, als Du aussagen wolltest.
-> Das wäre der Idealfall. Ein Kunstwerk wird nicht vom Maler allein geschaffen; der Betrachter hilft mit.

Danke für dein Hirnschmalz-Geschenk, du hast mitgeholfen...

Grüße,
Stefan

 

Hallo leixoletti,

eine einfache Begebenheit machst du zum zentralen Element deiner Geschichte und - obwohl schon von vorneherein gut und unterhaltend zu lesen - ist rückblickend einiges für die Schlüsselszene wichtig, was dem ersten Eindruck nach vielleicht nur nebensächlich erscheint (vor allem die Beschreibung des Gastgebers).

Ein treffender Vergleich, u. a.:

„Es war genug Platz zum Ausweichen; der Durchgang war so breit, dass drei Leute nebeneinander durchgepasst hätten, aber die beiden Männer standen sich gegenüber wie Bulldozer auf einer einspurigen Landstraße.“

Überhaupt ist es dir gelungen, die ganze Szenerie sachlich und gut nachvollziehbar darzustellen. Einziger Kritikpunkt ist: nachdem du gezeigt hast, wie Ramesh und der Junge reagieren, dann wie die Umwelt (Goldschmied) das Geschehen bemerkt, wundert es mich, dass Rameshs Begleiter stumm bleiben, sich der Erzähler nicht wenigstens kritisch bewertende Gedanken über das Geschehen macht, später äußert er ja Kritisches.

„Ich sah seine Fäuste nicht, aber wahrscheinlich sahen sie nicht aus, wie wenn er seine Tochter streichelte.“

- Das hört sich so an, als ob er seine Tochter mit Fäusten streichelt.

L G,

tschüß… Woltochinon

 

Als zum ersten Mal der ungewöhnliche Name Nawalgarh auftauchte, dachte ich, aha, Stefan schreibt jetzt Science Fiction. Oder Fantasy. Aber dann kamen Chai und Kühe und es wurde mir klar: Das kann nur Indien sein. Was ich damit sagen will: Du hast hier eine typischen show don’t tell Geschichte geschrieben. Da ist kein Wort zuviel, die Sätze sind knapp gehalten, wenn auch manchmal zu kompliziert aufgebaut, doch davon später.

Das Tolle an dieser Art von Geschichten ist ja, daß man begierig weiter liest, selbst wenn anscheinend nichts geschieht. Und so entsteht aus Sätzen nach und nach ein Bild vor einem, wie aus lauten Mosaiksteinchen zusammengesetzt: Der Bahnhof, das Matratzenlager als Hotel, der verschlafene Ramesh samt Tochter, und dann derselbe Ramesh in Anzug und Latschen, würdig über Schmutz stampfend und auf seine Vorrechte als Brahmane pochend.

Ja, das alles gefiel mir sehr. Aber es gibt auch Mängel, natürlich nur aus meiner Sicht. Beispiel:

Etwas später überraschte mich, als ich nach dem Duschen in meinem Zimmer die Steinstufen vom ersten Stock hinabstieg, eine fremde Gestalt im Hauseingang.
Der Rhythmus wird beim ersten Komma unterbrochen, d.h. während man den Einschub liest, hängt der Satzteil davor in der Luft. Also ich hätte diesen Sartz so geschrieben: Etwas später, als ich nach dem Duschen in meinem Zimmer die Steinstufen vom ersten Stock hinabstieg, überraschte mich eine fremde Gestalt im Hauseingang.


Man sah ihm an, dass wir ihn aus dem Schlaf geklingelt hatten.
Wieso geklingelt? Der stand schon vor dem Bahnhof, als die Gruppe ankam.


… erklärte uns Ramesh, und schlappte ungerührt an dem Abfallhaufen…
[…]
Ein winziger Hund schlappte braunes Wasser aus der Pfütze daneben.
Zweimal schlappte so kurz hintereinander, finde ich nicht schön, selbst wenn es Absicht sein sollte – es gibt gerade für dieses Wort genügend Synonyme.


Ich sah seine Fäuste nicht, aber wahrscheinlich sahen sie nicht aus, wie wenn er seine Tochter streichelte.
Er streichelt seine Tochter mit Fäusten? Man könnte das „sie“ durch „seine Hände“ ersetzen, aber das würde nicht gut zu „seine Tochter“ passen – dir wird schon etwas Besseres einfallen. ;)


Ramesh wich nicht zur Seite. Der andere musste ausweichen.
Ich würde anstelle von ausweichen nur weichen schreiben. Es ist stärker, denn der Satz sagt eigentlich: Ich bin Brahmane, du, ein Nichts, mußt weichen.


"Ach, er ist Brahmane?
Ich würde hier schreiben: „Ah? Er ist Brahmane?“
Denn es gibt einen Unterschied zwischen dem Ah und dem Ach, doch auf kg.de wird bei allen Gelegenheiten fast ausschließlich ach verwendet, was ich für einen Fehler halte.


Sie beendete ihren Satz nicht, denn in diesem Moment kam Ramesh die Treppe herunter. Er hatte sich erneut umgezogen: Der schwarze Anzug war weg, der Brahmane war weg. Er hatte sich abgeschminkt und ich hatte keine Zeit darüber nachzudenken, wie Alexandra das mit dem Porsche gemeint hatte.
Wieso hat der Prot keine Zeit mehr, nachzudenken? Dieser Schluß befriedigt mich nicht, Stefan. Er wirkt zu gewollt, als ob du keine Lust mehr hattest und schnell zum Ende kommen wolltest. Oder es ist ein Wink mit dem Zaunpfahl: So lieber Leser, denkt darüber nach, was Alexandra gemeint haben könnte mit Schlecker junior und seinem Porsche!

Hat mir gefallen, Stefan, deine kleine Geschichte aus Indien – inklusive der Dialoge, die überzeugend wiedergegeben worden sind.

Dion

 

Hallo Dion,

danke für deine Bemerkungen. Schön, dass es dir im Großen und Ganzen gefallen hat.

"Etwas später überraschte mich, als ich nach dem Duschen..."
-> Ich habe den Satz aus Spannungsgründen so geschrieben: Wenn man am Anfang was von Überraschung liest, müsste man gespannt sein, was am Ende folgt, hab ich mir gedacht. Aber ich werd drüber nachdenken.

Was das Klingeln angeht, hast du wahrscheinlich recht - es sei denn, die Touristen haben per Handy aus dem Zug bei ihm angerufen.

Schade, dass das Ende für dich unbefriedigend war. Es war als Hinweis gemeint, aber wenn du das als Zaunpfahl empfindest, wars wahrscheinlich zuviel des Guten. Muss erst drüber nachdenken, wie ich das abschwächen kann.

Grüße und bis bald mal (hier oder im MLB),
dein Stefan

 

Hallo Woltochinon,

sorry, dass ich dein Posting übersehen habe.

Ich freue mich, dass dir die Story grundsätzlich gefallen hat - umso mehr, da ich weiß, wie gute Geschichten du selber schreibst.

Woltochinon schrieb:
Überhaupt ist es dir gelungen, die ganze Szenerie sachlich und gut nachvollziehbar darzustellen.
Wenn ich die Komplimente abziehe, bleibt genau das übrig, was ich selbst über meinen Stil denke: Ich schreibe etwas lakonisch. Manche mögen das, andere nicht. Ich selbst stehe zwischen diesen Extremen.

Woltochinon schrieb:
nachdem du gezeigt hast, wie Ramesh und der Junge reagieren, dann wie die Umwelt (Goldschmied) das Geschehen bemerkt, wundert es mich, dass Rameshs Begleiter stumm bleiben, sich der Erzähler nicht wenigstens kritisch bewertende Gedanken über das Geschehen macht, später äußert er ja Kritisches.
So wie ich das sehe, bleibt der Ich-Erzähler nicht stumm, sondern projiziert seine Gedanken auf Ramesh: Er hatte eine wichtige Mission zu erfüllen: Er führte ausländische Gäste durch dieses schmutzige Nest. Er sorgte dafür, dass Geld nach Nawalgarh kam. Dieser Junge dagegen war ein Nichts. Das ist m.E. nicht die "Realität" sondern das, was der Ich-Erzähler diesem Ramesh unterschiebt. Und zweitens: Am Schluss kanzelt der Ich-Erzähler den armen Ramesh etwas ab ("Arroganz"), das ist wahr. Ich halte das psychologisch für normal: Solang man mittendrin steckt, kann man manchmal oft das Geschehen noch nicht gleich werten, die Entrüstung kommt erst später - so geht's mir jedenfalls.

In puncto Fäuste hast du natürlich recht.

Grüße,
Stefan

 

Hallo Leixoletti,

eine faszinierende Geschichte, die meinen ständigen Hunger nach lakonischer und bildhafter Sprache mehr als gestillt hat.
Ich konnte mir alles sehr gut vorstellen, roch förmlich die Straße.
Ramesh finde ich sehr gut charakterisiert.
Eigenartigerweise musste ich bei der Straßenschilderung an die Freudbiografie denken und zwar an die Stelle, wo er die Kindheitserinnerung mit seinem Vater schildert. Sein Vater wurde vom Gehweg in den Rinnstein gestoßen, weil er Jude war. Ich weiß, kein Zusammenhang :confused: !!

Hat mir sehr viel Freude bereitet, diese Geschichte zu lesen ;)
Lieben Gruß,
Jurewa

 

Hallo leixoletti,

Zitat:
„So wie ich das sehe, bleibt der Ich-Erzähler nicht stumm, sondern projiziert seine Gedanken auf Ramesh: Er hatte eine wichtige Mission zu erfüllen …
… Ich halte das psychologisch für normal: Solang man mittendrin steckt, kann man manchmal oft das Geschehen noch nicht gleich werten, die Entrüstung kommt erst später - so geht's mir jedenfalls.“

- Interessant das so zu sehen, ich dachte, man würde eher gleich eine gewisse Entrüstung zeigen, später rationalisieren. Aber zu deinem Erzähler passt deine Vorgehensweise, er kennt die Mentalität der Menschen und die örtlichen Gegebenheiten.

L G,

tschüß Woltochinon

 

Hi Jurewa.

Freut mich sehr, dass dir die Story gefallen hat. Umso mehr, als ich außer Kroppzeugs länger nix geschrieben hab und mein erzählerisches Selbstbewusstsein ziemlich auf null ist. Das macht Mut.

lakonische(r) und bildhafte(r) Sprache
Das klingt für mich wie ein Gegensatz, sorry. Aber du meinst wohl, dass die Geschichte deine bildliche Fantasie angeregt hat.

... Freud ... Sein Vater wurde vom Gehweg in den Rinnstein gestoßen, weil er Jude war
Kasten- und Rassendenken sind sich ähnlich, aber die Konsequenzen waren bei ersterem bisher nicht so bitter-blutig. Dann nehme ich an, du fandest den jungen Inder sympathischer, richtig?

Danke fürs Lesen und Kommentieren. Leider hab ich deinen Kommentar bisher irgendwie übersehen.

Grüße,
Stefan

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi,
vielleicht war mein Kommentar irgendwie uninteressant. Kann ja auch sein. Wobei- dann hättest du nicht geantwortet.

Ciao,
Jurewa

 
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Nawalgarhs Zukunft (neue Version)

Das erste bläuliche Licht unterstrich die Morgenkälte, als Alexandra aus Frankreich, Michael aus Bratislava und ich in Nawalgarh ankamen. Auf dem Bahnsteig luden wir uns die Rucksäcke auf und sahen uns um: Wir standen auf einem menschenleeren Provinzbahnhof, inmitten von Sand und ein paar staubigen Büschen. Durch eine kleine Halle verließen wir die Station. Auf dem Platz davor stieg ein Mann aus einem weißen Auto und sah uns entgegen.

"Are you from the Hotel?", fragte ich ihn.

"I'm Ramesh", antwortete er. Dann entdeckte er Alexandra und umarmte sie stürmisch. Sie hatte uns nichts davon gesagt, dass sie Stammgast war.

Wir setzten die Rucksäcke ab und Ramesh lud sie, nachdem er sich hastig nach allen Seiten umgesehen hatte, in den Kofferraum. Meine Kraxe und die von Alexandra waren schon drin, als ein Mann auf einem Motorroller auftauchte, bis über den Mund in einen braunen Schal gewickelt. Er verschwand genauso schnell wieder wie er gekommen war, aber Ramesh war blitzartig im Auto verschwunden. Michael musste seine Tasche selbst einladen.

Ramesh fuhr uns in seinem Ambassador zum Hotel. Dort führte er uns in einen überdachten Innenhof, wo fünf oder sechs Matratzen auf dem Boden lagen.

"My living room", erklärte Ramesh. "Sit down and relax."

Offenbar war Ramesh der Eigentümer des Hotels. Mein Reiseführer hatte die familiäre Atmosphäre erwähnt, aber überrascht war ich doch von diesem Wohnzimmer. Einige Matratzen waren schon vergeben: Die beiden Söhne und die Tochter von Ramesh schliefen dort. Wir krochen unter die Decken, und Rameshs Frau schichtete weitere darauf, bis wir uns kaum mehr bewegen konnten. Dann holte sie Chai und über die heiße Tasse hinweg hatte ich Gelegenheit, Ramesh näher zu betrachten.

Man sah ihm an, dass der Wecker ihn aus dem Schlaf geklingelt hatte. Verwuscheltes, strohig wirkendes Haar, ein verblassendes Sweatshirt. Er unterhielt sich mit uns wie ein Backpacker mit dem anderen. Später kletterte ihm seine Tochter auf den Rücken, boxte ihn in die Seite und zerrte an seinen Haaren,.

"My daughter", sagte er lachend. "She loves to play with my hair."

***​

Als ich nach dem Duschen in meinem Zimmer wieder in Rameshs Wohnzimmer stand und auf die anderen wartete, bemerkte ich eine fremde Gestalt im Hauseingang. Ein hochgewachsener Herr im schwarzen Anzug, mit nach hinten gekämmtem Haar voller Brillantine lehnte dort am Pfosten. Ich hatte keine Ahnung, wer der Typ war, aber er sah permanent in meine Richtung, so dass ich ihm schließlich ein "hello" zurief.

Der Mann trat ins Haus und kam näher.
"Everybody seems to be fresh now", sagte er. "So you are ready to go?"

War das Ramesh? Ramesh, unser Gastgeber? Er musste es wohl sein. Ich hatte ihn nicht wiedererkannt, obwohl nur eine halbe Stunde verstrichen war.

Als auch die anderen fertig waren, machten wir uns auf den Weg: Ramesh wollte uns die Stadt zeigen. Er ging vor uns her, und dabei sah ich, dass die braunen Füße, die aus seiner Anzughose kamen, in Birkenstocks steckten. So latschte er die Lehmstraße entlang, über Pfützen hinwegsteigend, und ab und zu mit knatschendem Geräusch durch schlammige Stellen in der Fahrrinne.

Unser Weg führte durch ein bröckelndes Stadttor auf einen kleinen Platz. Bärtige Händler hockten an den Hauswänden hinter Säcken voll rotem Chili, zu Pyramiden geschichteten Ingwerwurzeln und rotweißen Zwiebeln.

"The market of Nawalgarh", erklärte uns Ramesh, und schlappte ungerührt an dem Abfallhaufen in der Mitte vorbei. Aus den Gemüseabfällen zogen zwei Kühe mit ihren langen Zungen ein paar Blumenkohlblätter heraus. An der Ecke hockte ein Junge und kochte Chai, so dass sich der Geruch des Unrats mit dem von Kardamom und Ingwer mischte.

Ein paar Minuten später kamen wir am Museum vorbei. Als wir zwischen dem Gebäude und einem gegenüber geparkten Jeep durchgehen wollten – Ramesh ging wie immer voran – stand plötzlich ein Jugendlicher vor uns. Er wollte zur Seite ausweichen, aber Ramesh hatte sich dieselbe Richtung ausgesucht. Ramesh und der Fremde standen Auge in Auge. Unser Führer machte eine knappe Kopfbewegung nach links, aber der Junge blieb stehen.

Es war genug Platz zum Ausweichen; der Durchgang war so breit, dass drei Leute nebeneinander durchgepasst hätten, aber die beiden Männer standen sich gegenüber wie Bulldozer auf einer einspurigen Landstraße. Ich konnte die Augen von Ramesh nicht sehen, aber ich war mir sicher, dass sie nicht lächelten. Ich sah seine Stirn nicht, aber eine senkrechte Falte zwischen den Brauen hatte sich wohl hineingegraben. Ich sah seine Hände nicht, aber wahrscheinlich sahen sie anders aus, als wenn er seine Tochter streichelte. Was würde nun kommen? Ramesh hätte lächeln und zur Seite gehen können. Aber Ramesh hatte einen schwarzen Anzug an. Er hatte eine wichtige Mission zu erfüllen: Er führte ausländische Gäste durch dieses schmutzige Nest. Er sorgte dafür, dass Geld nach Nawalgarh kam. Dieser Junge dagegen war ein Nichts, er war nicht wichtig für Nawalgarh. Ramesh wich nicht zur Seite. Der andere musste ausweichen.

Zwei Jungs in Schuluniform blieben stehen und sahen Ramesh an. Auch der Goldschmied in einem der Läden nebenan unterbrach sein Gespräch und sah zu uns herüber. Doch keiner von den beiden rührte sich. Wir warteten. Die Zeit schien eingefroren.

Schließlich bewegte sich der Junge. Es sah aus, als sei sein Kopf plötzlich locker geworden. Er machte eine eiernde Bewegung damit. Dann senkte er den Blick und gab den Weg frei. Mit einem Mal ganz schmal geworden, drückte er sich an der Museumswand entlang und verschwand eilig um die nächste Ecke.

***​

"Also dieser Ramesh", sagte ich später im Hotel zu Alexandra – auf Deutsch, denn sie hatte in Frankfurt studiert.

"Du meinst vorhin die Szene auf der Straße?" fragte sie.
"Er spielt nur Theater, glaub's mir. Das Dorf würde ihn sonst nicht akzeptieren. Ramesh ist nun mal ein reicher Mann in Nawalgarh. Er muss sie einfach von Zeit zu Zeit daran erinnern, dass er Brahmane ist."

Ich hatte keine Zeit, mich weiter mit ihr zu unterhalten, denn in diesem Moment kam Ramesh die Treppe herunter. Er hatte sich erneut umgezogen: Der schwarze Anzug war weg, der Brahmane war weg. Er hatte sich abgeschminkt.

 

Hallo,

ich poste eine neue Version, in der einige Schnitzer behoben sind und das Ende hoffentlich etwas weniger lehrhaft ist.

Grüße,
Stefan

 

Hallo leixoletti!

Etwas nachträglich wünsche ich Dir alles Gute zum Geburtstag! :)

In der überarbeiteten Version gefällt mir sehr gut, wie Du die beiden Gesichter von Ramesh zeigst und wie er der Hierarchie wegen von einer Rolle in die andere schlüpft. Das kommt jetzt viel besser rüber als ursprünglich. Das Kürzen, besonders am Ende, hat sich meiner Meinung nach ausgezahlt. :)

Wir setzten die Rucksäcke ab und Ramesh lud sie, nachdem er sich hastig nach allen Seiten umgesehen hatte, in den Kofferraum. Meine Kraxe und die von Alexandra waren schon drin, als ein Mann auf einem Motorroller auftauchte, bis über den Mund in einen braunen Schal gewickelt. Er verschwand genauso schnell wieder wie er gekommen war, aber Ramesh war blitzartig im Auto verschwunden. Michael musste seine Tasche selbst einladen.
Schön eingestreuter Hinweis, dessen Bedeutung mir erst beim zweiten Lesen auffiel. :)

Schnörkelloser leixoletti-Stil, gern gelesen – da gibts nicht viel zu meckern:

»Das erste bläuliche Licht unterstrich noch die Morgenkälte,«
– »noch« würde ich streichen

»Er unterhielt sich mit uns wie ein Backpacker mit dem anderen.«
– statt »Backpacker« hätte mir ein richtig deutsches Wort besser gefallen

»"My daughter", sagte er lachend, "She loves to play with my hair."«
– lachend. "She

»Er ging vor uns her, und dabei sah ich, die braunen Füße, die aus seiner Anzughose kamen, in Birkenstocks steckten. Damit latschte er die Lehmstraße entlang,«
– keinen Beistrich nach »ich«
– stecken statt steckten (sah ich die braunen Füße […] in Birkenstocks stecken.)
– dabei/Damit, vielleicht kannst Du auf eins davon verzichten?

»Unser Weg führte durch ein bröckelndes Stadttor auf einen kleinen Platz.«
– bröckelt es jetzt gerade oder ist es eher ein abgebröckeltes/verfallenes Stadttor?

»Bärtige Händler hockten an den Hauswänden, hinter Säcken voll rotem Chili, zu Pyramiden geschichteten Ingwerwurzeln und rotweißen Zwiebeln.«
– keinen Beistrich nach »Hauswänden«

»Ich konnte die Augen von Ramesh nicht sehen, aber ich war mir sicher, dass sie nicht lächelten. Ich sah seine Stirn nicht, aber eine senkrechte Falte zwischen den Brauen hatte sich wohl hineingegraben. Ich sah seine Hände nicht, aber wahrscheinlich sahen sie anders aus,«
– etwas zu viel sehen/sah/sahen

»sagte ich später im Hotel zu Alexandra -– auf Deutsch,«
ein Gedankenstrich reicht ;-)


Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hallo Susi,

sorry, dass ich so lang nicht geantwortet hab auf deine Geburtstagskritik. Ich bin umgezogen und war deshalb ziemlich lange offline - vom 1. August bis vorgestern, um genau zu sein.

Schnörkelloser leixoletti-Stil, gern gelesen – da gibts nicht viel zu meckern
Schnörkellos sagst du. Da hast du wohl nicht unrecht. Man könnte auch sagen ein bisschen kahl. Aber so hart will ich mal nicht zu mir sein.

Bei deiner Detailkritik hast du wie immer in den meisten Fällen recht. Backpacker lass ich aber, sonst sag ich irgendwann auch Beistrich statt Komma wie du. :)

»Ich konnte die Augen von Ramesh nicht sehen ... Ich sah seine Stirn nicht ... Ich sah seine Hände nicht«
– etwas zu viel sehen/sah/sahen
Wortwiederholungen passieren mir oft, diese hier war aber beabsichtigt. Eine Anapher, wie bei Cicero: "Scipio hat Numantia vernichtet, Scipio hat Karthago zerstört, und Scipio hat Frieden gebracht."

Grüße,
Stefan

 

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