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Nawalgarhs Zukunft
Das erste bläuliche Licht unterstrich noch die Morgenkälte, als Alexandra aus Frankreich, Michael aus Bratislava und ich in Nawalgarh ankamen. Auf dem Bahnsteig luden wir uns die Rucksäcke auf und sahen uns um: Wir standen auf einem menschenleeren Provinzbahnhof, inmitten von Sand und ein paar staubigen Büschen. Draußen vor der kleinen Halle stieg ein Mann aus einem weißen Auto und sah uns entgegen.
"Are you from the Hotel?", fragte ich ihn.
"I'm Ramesh", antwortete er. Dann entdeckte er Alexandra und umarmte sie stürmisch. Sie hatte uns nicht gesagt, dass sie Stammgast war.
Ramesh fuhr uns in seinem Ambassador zum Hotel, führte uns in einen überdachten Innenhof, wo fünf oder sechs Matratzen auf dem Boden lagen.
"My living room", erklärte Ramesh. "Sit down and relax."
Einige Matratzen waren schon vergeben: Die beiden Söhne und die Tochter von Ramesh schliefen dort. Wir krochen unter mehrere Schichten von Decken. Rameshs Frau brachte weitere heran; dann holte sie Chai und über die heiße Tasse hinweg hatte ich Gelegenheit, Ramesh näher zu betrachten.
Man sah ihm an, dass wir ihn aus dem Schlaf geklingelt hatten. Verwuscheltes, strohig wirkendes Haar, ein verblassendes Sweatshirt. Er unterhielt sich mit uns wie ein Backpacker mit dem anderen. Später kletterte ihm seine Tochter auf den Rücken, zerrte an seinen Haaren, boxte ihn in die Seite. Er lächelte dazu.
"My favorite daughter", sagte er, "in fact, it's my only daughter. She loves to play with my hair."
Etwas später überraschte mich, als ich nach dem Duschen in meinem Zimmer die Steinstufen vom ersten Stock hinabstieg, eine fremde Gestalt im Hauseingang. Ein hochgewachsener Herr im schwarzen Anzug mit nach hinten gekämmtem Haar voller Brillantine. Ich hatte keine Ahnung, wer der Typ war, aber er sah mich permanent an, so dass ich schließlich "hello" in seine Richtung sagte.
"Everybody seems to be fresh now", sagte der Mann. "So you are ready to go?"
War das Ramesh? Ramesh, unser Gastgeber? Er musste es wohl sein. Aber der hatte doch vorhin noch mit verwuscheltem Haar im Sweatshirt neben uns gesessen. Ich hatte ihn nicht wiedererkannt, obwohl nur eine halbe Stunde verstrichen war.
Als die anderen auch da waren, machten wir uns auf den Weg: Ramesh wollte uns die Stadt zeigen. Er ging vor uns her, und dabei sah ich, dass seine braunen Füße in Birkenstocks steckten -– ein interessanter Kontrast zu seinem Anzug. Der Stilbruch war keine Marotte, sondern blanke Notwendigkeit angesichts der schlammigen Fahrrinnen und Pfützen auf den Lehmstraßen der Stadt.
Nach einer Weile führte die Straße durch ein Stadttor mit feinen, stellenweise abgebröckelten Reliefs. Dann wand sie sich zwei-, dreimal zwischen winzigen Geschäften hin und her, die mich an altmodische Tierkäfige erinnerten. Dann standen wir unvermittelt auf einem kleinen Platz. Bärtige Händler hockten an den Hauswänden, hinter Säcken voll rotem Chili, zu Pyramiden geschichteten Ingwerwurzeln und rotweißen Zwiebeln.
"The market of Nawalgarh", erklärte uns Ramesh, und schlappte ungerührt an dem Abfallhaufen in der Mitte vorbei, die Bügelfalten bedrohlich nahe am feuchten Lehm.
Wir folgten ihm. Aus den stinkenden Gemüseabfällen zogen zwei Kühe mit ihren langen Zungen ein paar Blumenkohlblätter heraus. Ein winziger Hund schlappte braunes Wasser aus der Pfütze daneben. An der Ecke hockte ein Junge und kochte Chai, so dass sich der Geruch des Unrats mit dem Duft von Kardamom und Ingwer mischte.
Ein paar Minuten später kamen wir am Museum vorbei. Als wir zwischen dem Gebäude und einem gegenüber geparkten Jeep durchgehen wollten – Ramesh ging wie immer voran – stand plötzlich ein Jugendlicher vor uns. Er wollte zur Seite ausweichen, aber Ramesh hatte sich dieselbe Richtung ausgesucht. Ramesh und der Fremde standen Auge in Auge. Unser Führer machte eine knappe Kopfbewegung nach links, aber der Junge blieb stehen.
Es war genug Platz zum Ausweichen; der Durchgang war so breit, dass drei Leute nebeneinander durchgepasst hätten, aber die beiden Männer standen sich gegenüber wie Bulldozer auf einer einspurigen Landstraße. Ich konnte die Augen von Ramesh nicht sehen, aber ich war mir sicher, dass sie nicht lächelten. Ich sah seine Stirn nicht, aber wahrscheinlich war sie nicht faltenfrei. Ich sah seine Fäuste nicht, aber wahrscheinlich sahen sie nicht aus, wie wenn er seine Tochter streichelte. Was würde nun kommen? Ramesh hätte lächeln und zur Seite gehen können. Aber Ramesh hatte einen schwarzen Anzug an. Er hatte eine wichtige Mission zu erfüllen: Er führte ausländische Gäste durch dieses schmutzige Nest. Er sorgte dafür, dass Geld nach Nawalgarh kam. Dieser Junge dagegen war ein Nichts, er war nicht wichtig für Nawalgarh. Ramesh wich nicht zur Seite. Der andere musste ausweichen.
Zwei Jungs in Schuluniform blieben stehen und sahen Ramesh an. Auch der Goldschmied in einem der Läden nebenan unterbrach sein Gespräch und sah zu den beiden Männern herüber. Doch keiner von den beiden rührte sich. Wir warteten. Die Zeit schien eingefroren.
Schließlich wurde es dem Jungen zuviel. Mit einem gehässigen Zungenschnalzen und einem Rucken des Kopfes machte er den Weg frei. Er drückte sich an der Museumswand entlang und verschwand eilig um die Ecke.
"Also dieser Ramesh", sagte ich später im Innenhof des Hotels zu Alexandra -– auf Deutsch, denn sie hatte in Frankfurt studiert.
"Du meinst vorhin die Szene auf der Straße?" antwortete sie und zog die Decken über ihrem Schoß straffer. Dann
lächelte sie mich an: "Ja, ganz der stolze Brahmane."
"Ach, er ist Brahmane? Aber ich meine, Brahmane sein – das ist doch kein Grund ... Also ich würd' das schon als Arroganz bezeichnen", sagte ich.
"Er spielt nur Theater, glaub's mir", antwortete sie. "Das Dorf würde ihn sonst nicht akzeptieren. Weißt du, Ramesh ist ein reicher Mann in Nawalgarh. Er muss sie einfach von Zeit zu Zeit daran erinnern, dass er Brahmane ist. Ist doch bei uns auch so: Bei Schlecker junior ist es normal, wenn er einen Porsche fährt, aber ..."
Sie beendete ihren Satz nicht, denn in diesem Moment kam Ramesh die Treppe herunter. Er hatte sich erneut umgezogen: Der schwarze Anzug war weg, der Brahmane war weg. Er hatte sich abgeschminkt und ich hatte keine Zeit darüber nachzudenken, wie Alexandra das mit dem Porsche gemeint hatte.