Nebelschwaden
In einem Restaurant saß ein Mann. Er war um die vierzig, etwas korpulent. Seine Kahlköpfigkeit trug er genauso offensichtlich wie seine schwarz umrandete Brille, Sehstärke fünf. Auf der linken Wange saß dick und fett eine Warze. Hannes hieß er. Seinen Sitzplatz hatte er sich sorgfältig ausgesucht. Gegen Zugluft reagierte er empfindlich, daher war die Ecke genau richtig. Auf dem Tisch lag eine Tischdecke, darauf stand eine kleine Vase mit künstlichen Blumen. Diese stand in seinem Blickfeld, deshalb rückte er sie etwas zur Seite. Es gab nur eine Bedienung. Sie hatte ein rasantes Tempo, obwohl schwergewichtig, schaute zu ihm hin und lächelte. Er lächelte zurück. Kam an seinen Tisch.
„Grüß Gott, was darf´s denn sein, bittschön?“, fragte sie und strich dabei die Tischdecke glatt. Ein paar Falten waren entstanden. Hannes nahm die Arme vom Tisch. Neulich hatte er an einem Faltenwettbewerb teilgenommen, und den Hauptpreis gewonnen. Ein silberner Pokal. Unbewußt faltete er deshalb alle Tischdecken, die er zu fassen bekam.
„Ich möchte eine Maß Bier“, meinte Hannes. Die Kellnerin war sehr schnell. Zu schnell. Er öffnete den Mund, um noch Essen zu bestellen. Sein Mund blieb offen. Die Dame war schon verschwunden. Nur eine Staubwolke erinnerte an sie. Zigarettenqualm konnte nicht damit konkurrieren. Die Tischdecke knüllte er erneut zusammen. Faltete nach einer speziellen Technik. Legte sie neben sich. Der Tisch war blank. Die Maserung der Platte stach ihm ins Auge. Das rechte war es. Das linke hielt sich wacker. Mit stechendem Blick schaute er in die Runde. Aus Langeweile klopfte er mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte. Immer lauter, intensiver.
Ein paar Tische entfernt saßen vier Dunkelhäutige. Sie stammten aus Afrika. Die langen, bunten Gewänder sowie der kleine aufgesetzte Hut wiesen darauf hin. Sie lächelten und nickten ihm freudig zu. Ihre weißen Zähne erinnerten an Zahnpastareklame. Der Rhythmus stimmte, deshalb trommelten auch sie. Weitere Gäste fügten sich ein. Alle standen auf. Im Sog des Trommelfeuers vollführten sie irrwitzige Tanzaktionen. Das Bier von Hannes wurde warm. Die Warze auf seiner Wange hüpfte im Takt der Musik auf und ab. Die orientischen Männer staunten darüber. Hannes‘ Magen meldete sich mit einem lauten Knurren. So laut, dass alle Tanzenden augenblicklich still standen. Das Brummen weitete sich zu einem Dröhnen aus. Es war unangenehm. Pfiff. Die Sitzplätze wurden wieder eingenommen. Hannes nahm die auf dem Tisch liegende Speisekarte und begann darin zu lesen. Ein Menue bot sich an: Suppe, Braten, Salat und Nachtisch; dies wollte er bestellen und die Kellnerin rufen. Diese war noch immer mit ihrem Dauerlauf beschäftigt. Galoppierte wie ein Pferd durch die Schänke. Einen Hauptpreis hätte sie bestimmt gewonnen, ging es Hannes durch den Sinn. Wieder knurrte sein Magen. Es war an der Zeit.
„Hal... lo!“, wollte er rufen. Schon war sie entwischt. Eine weitere Staubwolke hinterlassend. Nebelschwaden undurchdringliche. Hunger. Die Zeit verstrich. Auf dem Bierdeckel machte er Striche. Aus einem wurden zehn. Aus zehn zwanzig. Dreißig folgten. Er musste wenden, auf der Rückseite weiterschreiben. Eine spontane Idee beendete seine Schreibarbeit. Gerade eben sauste sie wieder an ihm vorbei. Sein Tisch schwankte etwas. Auch er war diesem Tempo nicht gewachsen. Hannes hielt ihn fest. Er streckte nun die Hand aus. Die Kellnerin bremste. Quietschend kam sie zum Stehen. Ein Wettrennen wollte Hannes mit ihr veranstalten. Im Guiness-Buch der Rekorde eingetragen werden. Sein Hunger war verschwunden. Mit ein paar kurzen Worten machte er ihr klar, was er im Schilde führte. Sie lachte darüber. Machte auf dem Absatz kehrt und lief. Hannes stand auf und wollte sich in ihren Lauf einfügen. Es gelang ihm nicht. Mit einem dumpfen Geräusch landete er auf dem Boden. Er war auf einem Essensrest ausgerutscht. Die Kellnerin blieb davon unberührt. Seine linke Seite schmerzte. Mit einem „Au!„ rieb er sich diese Stelle. Das Gesicht zu einer Grimasse verzogen, versuchte er aufzustehen. Immer wieder, aber er schaffte es nicht. Die übrigen Gäste schauten fassungslos, die Hände mit einem „Oh ...“ vor den Mund gepresst. Hannes lieferte ein Schauspiel, das jede inszenierte Vorstellung in den Schatten stellte. Die Afrikaner meinten, es wäre eine erneute Aufforderung, es ihm gleichzutun und legten sich ebenfalls bäuchlings auf den Boden, eine Hand in die linke Seite gestemmt und wehklagend.
Hannes fand es weniger lustig. Auch die Kellnerin nicht. Abrupt blieb sie stehen. „Haben sie sich weh getan?“, fragte sie noch und bückte sich zu ihm hinunter. Schaute ihn an. Er hatte sich einen Hexenschuss zugezogen, konnte sich nicht mehr rühren. Die Dunkelhäutigen begriffen nun den Ernst der Lage und standen wieder auf. Der Tanz war zu Ende. Die Vorstellung vorbei. Das Essen nicht bestellt. Das Bier warm. Sein Magen knurrte. Die Hexe in der Seite eingenistet. Alle schrien durcheinander. Keiner tat etwas Sinnvolles. Sein Versuch, im Guiness-Buch der Rekorde zu landen, vorbei. Der Boden voller Menschen.
Mit einem „Oh Gott! ... und ... nein!“ wachte er auf. Tastete an seine linke Seite. Spürte keinen Schmerz. Er hatte es nur geträumt.