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Nebelwald
Obwohl seit der schrecklichen Ereignisse erst neun Tage verstrichen sind bin ich immer noch außer mir, kann nicht mehr sagen, was Einbildung war und was tatsächlich passiert ist. Im Wahn setze ich meinen Weg fort, quer durch den Schwarzwald, wie ich es geplant hatte.
Ich suche nicht mehr nach Arbeit und Lohn, bin nur noch auf der Flucht.
Meine Feldflasche ist ausgelaufen, sie war löchrig, ich bin ganz allein, habe nichts mehr zu essen, bin ausgezehrt und völlig kraftlos.
Aufgebrochen bin ich vor nunmehr neun Wochen, hatte mich von meiner Familie verabschiedet und bin mit meinen sechzehn Jahren fortgereist, um die Tischlerei zu lernen. Mein loser Plan sah vor, aus meiner Geburtsstadt Lapus, in der Nähe von Basel gelegen, nach Deutschland zu wandern, hauptsächlich über die langen Wege des Schwarzwaldes, der in der Literatur als so schön und vielfältig beschrieben wird, dass diese Landschaft die hübschesten Merkmale Deutschlands in sich vereinen soll.
Ich ersann mir einen Weg, von Lapus aus bis zur Donau, den Fluss, der in einer Woche mehr von fernen Ländern sieht als ich wohl in meinem ganzen Leben. Ich wollte einmal mit eigenen Augen das Blau sehen, die Geschäftigkeit, mit der die breitschultrigen Männer die dicken Holzstämme auf kleinen Schiffen die Donau hinauf zu den Werkstätten transportieren. Auf einem dieser Schiffe wollte ich anheuern, um das Tischlerhandwerk zu lernen, in Lohn und Brot zu kommen, um dann in einigen Jahren als gemachter Mann wieder zurückzukehren, meine Eltern stolz zu machen.
Ach und was ersehnte ich die Ferne, mein Wissensdrang zog mich fort aus meiner beschaulichen kleinen Welt, in der ich doch alles hatte, es mir an nichts mangelte.
Ich verabschiedete mich von meiner Mutter und meinen beiden kleinen Schwestern, von meinen Freunden, von Gretchen, die weinte und sagte, sie würde in Lapus auf mich warten. Sie gab mir sogar vor den Augen der Anwesenden einen Kuss, was mein Herz schier zerspringen ließ.
Doch all das hielt mich nicht auf. Ich war glücklich in den Tagen meiner Wanderschaft. Ich schrieb meine Erkundungen in das dicke, schwere Lederbuch, in das auch meine jetzigen Worte fließen. Wenn ich die ersten Schilderungen meiner Reise lese, so war ich wohl froh, ich schrieb:
16ter Mai 1687, Scherlach, 23 Kilometer südlich von Lörrach.
Nach drei Tagen der Wanderschaft bin ich frohen Mutes, mein Gepäck ist nicht zu schwer, ich bekomme Essen, treffe freundliche Menschen, meckernde Ziegen stehen auf den Wegen, frühe Blumen sprießen aus dem Boden und gestern sah ich einen Maikäfer! Ich merke, ich habe die richtige Entscheidung getroffen!
Weitere Einträge lauteten ähnlich, mir erging es gut, ich fand Arbeit, nicht immer mit Holz wie ich erhofft hatte, aber immer gab es zwei oder manchmal sogar drei Mahlzeiten am Tag. In Milltahl, nach anderthalb Wochen, blieb ich acht Tage, ich fand einen Schreinermeister, der begeistert von mir war. Wir arbeiteten hart, und abends saßen wir lange zusammen und unterhielten uns. Er war interessiert an meiner Schweizer Heimat, sodass ich viel erzählen konnte, und der Meister berichtete mir allerlei lustige Geschichten und Streiche aus seiner Jugend. Und er bot mir sogar an, eine Weile bei ihm zu lernen! Ich musste schwer schlucken, entschied mich dann aber, dieses großzügige Angebot abzulehnen, es zog mich einfach in die weite Welt hinaus. Der Meister war mir nicht böse, er verstand mich, glaube ich, wünschte mir viel Glück und stattete mich mit Geld und Proviant für die nächsten zwei Wochen aus, sogar ein Stück gepökelten Schinken gab er mir. Ich bedankte mich artig und versprach, auf meinem Weg zurück wieder bei ihm einzukehren, und ihm gleichfalls etwas aus dem Norden als Geschenk zu bringen. Darauf lachte der Meister, klopfte mir auf die Schulter und ich ging meines Weges, Richtung Norden, Richtung Donaueschingen, dort wollte ich ein Schiff besteigen, dass mich die Donau hinauf bringen sollte.
Tag um Tag wanderte ich, die Landschaft lud mich ein, oft wählte ich nicht den Weg zum nächsten Ort, sondern den der schöneren Aussicht. Große, dichte Nadelwälder verbreiteten erdigen Düfte, würzige Luft schimmerte in goldenen Sonnenstrahlen, dass mir das Herz lachte.
Schmerzten meine Füße anfangs noch an jedem Abend, so wirkten sich die langen Märsche bald nicht mehr aus, meine Waden waren kräftig, beschwingt beschritt ich die wundervollen Wege des Schwarzwaldes.
Und dann traf ich auf eine Reisegruppe aus sechs jungen Leuten, die so wie ich auch auf Wanderschaft waren. Markus, der Anführer der Gruppe, war mit vierundzwanzig Jahren der Älteste, sprach mich auf Pfeifentabak an, wir kamen ins Gespräch und er erzählte mir, dass er sich bereits seit einigen Jahren auf Wanderschaft befand und es für ihn kein schöneres Leben geben könne.
„Ich kenne den Schwarzwald wie meine nicht vorhandene Westentasche.“, schmunzelte er.
Markus war gewitzt, er feilschte mit den Marktschreiern, nur um des Feilschens Willen, ohne die Absicht, die Ware überhaupt zu kaufen, er redete viel und gerne, wo er gewesen war, was er schon alles erlebt hatte und ich muss sagen, ich war durchaus beeindruckt. Markus' Leben war zwar unstet, aber voller Späße und Abenteuer.
Aber auch die anderen waren interessant. Jan, Thomas und Jörg waren Musikanten. Sie waren auf Feste und dergleichen angewiesen, auf denen sie spielen konnten, um über die Runden zu kommen, und obwohl sie die abgetragenste Kleidung von allen hatten, und keinen Beruf, mit dem sie sich durchschlagen konnten, so waren sie doch immer fröhlich und machten jede Wanderung gemütlicher, durch ihr forsches Flötenspiel und ihre lustigen Lieder mit sehr zotigen Texten, die ausschließlich von Frauen und natürlich vom Bier handelten.
Und dann war da noch Stephan.
„Stephan hier ist sonderlich“, erklärte mir Michael bei der Vorstellung. Er sagte das, als wäre es nichts Besonderes, und die Anderen waren so an ihn gewöhnt, dass sie Stephan als einen der ihren betrachteten, egal wie er war.
Ich muss gestehen, dass ich vor sonderlichen Leuten Angst habe, sie sind so unberechenbar und folgen nicht den normalen logischen Grundsätzen. Ich hatte schon einmal einen Sonderlichen gesehen, in Basel, als mein Vater seine gegerbten Stoffe dort auf dem Markt verkaufte.
Der Mann lief auf dem Markt herum, schlenderte nicht, sondern ganz zielgerichtet. Mit großen, ausholenden Schritten, starr geradeaus schauend, lief er zu einem gewissen Punkt. Dort verharrte der Mann regungslos einige Minuten, bevor er kehrtmachte und zu einem anderen Platz des Marktes lief. Doch ab und zu stieß er ein Grunzen aus, dem Bellen eines Hundes nicht unähnlich, das mich erschauern ließ.
Doch wie ich bald merkte, war Stephan anders. Es gibt wohl scheinbar verschiedene Arten der Sonderlichkeit, und Stephan war die meiste Zeit ganz ruhig. Er hielt unser Tempo mit, ohne vom Weg abzukommen, er lächelte die meisten Leute an, und mit kindlicher Freude reagierte er auf Tiere oder auf Kinder, in denen er wohl Seelenverwandte sah. Stephan war immer fröhlich und nett, er lachte auch immer viel. Markus erzählte mir, dass er Stephan mitgenommen hatte, aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Freiburg, wo er immer gehänselt und geschlagen worden war. Markus griff sich ein Herz und zog mit Stephan an der Hand mitten in der Nacht los. Sie trafen andere Wanderer, schlossen sich zu Gruppen zusammen, lösten sich wieder auf, um dann schließlich die Musiker zu treffen. Die fünf beschlossen, nach Stuttgart zu ziehen, wo Thomas und Jörg Verwandte hatten.
Wir waren eine lustige Gruppe, ich fühlte mich wohl, es war schön, mal wieder mit Jungen in meiner Altersgruppe reden zu können. Dank der harten Schule meines leider viel zu früh gestorbenen Vaters war ich der beste Leser und Schreiber unserer Gruppe, was mir eine gewisse Akzeptanz einbrachte. Markus und Jan konnten auch lesen und ein bisschen schreiben, aber ich war deutlich flotter und sicherer.
Wir arbeiteten teilweise zusammen, auch Thomas, Jan und Jörg legten ihre Flöten zur Seite und halfen mit. Wir misteten die Ställe eines ganzen Dorfes aus, zwei Tage lang, und bekamen Suppe und Brot, und konnten zu Recht stolz auf uns sein. Wir bekamen guten Lohn für gute Arbeit, und abends saßen wir fröhlich gestimmt bei einem Bier zusammen und sangen heitere Lieder, begleitet von den Blockflöten und dem Gesang der übrigen Gäste der Dorfschenke.
Vor zwei Wochen bekamen wir ein herzhaftes Frühstück und Proviant und verließen den Ort. Wir taten einige Wege, die ich in meiner Reiseroute nicht vorgesehen hatte und ich machte mir meine Gedanken, ob ich nicht zu ziellos war, wo ich ja eigentlich den festen Plan hatte, auf einem Schiff anzuheuern, doch ich war so unbeschwert, dass ich mir keine weiteren Gedanken um das Kommende machte. Und wir bewegten uns zwar unstetig, aber doch so ungefähr auf Bräunlingen zu, wo wir dann einen der beiden Donauflüsse überqueren wollten, um dann weiter nach Norden zu ziehen.
Wir trafen alsbald eine andere Gruppe, die uns von einem wunderschönen Pfad zwischen zwei gut steigbaren Berghängen mit wunderschöner Aussicht erzählte.
Markus und ich waren sofort Feuer und Flamme, und die Musiker stimmten bereitwillig zu, denn sie wollten neben neuen Liedern über das Bier der Schwarzwaldschenken auch die Landschaft und die Berge besingen.
Es war wirklich unglücklich, dass sich das Wetter so stark verschlechterte, es regnete den ganzen Tag, sodass es kein Vergnügen wurde, die schmalen Wege an den Berghängen zu besteigen. Die Aussicht war minimal, große, dicke Nebelschwaden stiegen aus den Tälern herauf in die Berge, verhüllten die großen Fichtenwälder und überdeckten den Geruch nach Harz. Es wurde kalt, wir sahen die Sonne den ganzen Tag nicht.
Das Wetter schlug uns aufs Gemüt, selbst die Musikanten verstauten ihre Instrumente in ihren Segeltaschen. Wir trafen auch keine anderen Wanderer, außer einem Kerl in dickem Mantel, ein Schemen im Nebelrauch, der meinen Ruf nicht hörte. Die Anderen hatten anscheinend sowieso keine Lust auf noch einen Gefährten, niemand griff meinen Ruf auf, außer einem fetten Raben, die auf einem nahegelegenen Baum saß und ein gehässiges „Kraah!“ von sich gab.
Am allerschlimmsten erging es Stephan, er wurde im Laufe des Tages immer unruhiger und gab wehklagende Laute von sich. Markus machte sich aber anscheinend keine Sorgen und ließ sich auch nicht von Jörg und Thomas anstecken, die beide mürrisch waren und lieber im nächstgelegenen Dorf nach einer Unterkunft suchen wollten. Ich wusste, Markus würde sich nicht einfach so von seinem Vorhaben abbringen lassen, er war schließlich der Älteste und der Anführer unserer kleinen Gemeinschaft. Doch auch ich hatte keine Lust, noch Stunden in dem feuchten Nieselregen zu wandern, mir war klamm, kalter Wind blies uns ins Gesicht, doch der Nebel ließ sich davon auch nicht vertreiben, sodass uns nicht einmal die erhoffte Aussicht vergönnt war. Ich beschloss, mich auf die Seite von Thomas und Jörg zu schlagen.
„Markus, wollen wir nicht heute früher rasten? Ich möchte genauso gerne weitermarschieren wie du, aber ich will auch die Aussicht nicht missen! Alleine wegen der Landschaft nehmen wir doch diesen Weg, und nun haben wir ja gar nichts davon. Das ist doch schade.“
Markus überlegte einen Moment und stimmte dann zu, was mich erleichtert aufatmen ließ.
Wir schritten aus dem Wald heraus auf der Suche nach einer Herberge oder einem Wirtshaus, aber es war eine recht unwegsame Gegend, und wir wussten, dass keine Orte in der Nähe waren, und es fehlte wegen des Nebels die Fernsicht, so konnten wir nicht einschätzen welche Richtung wir einschlagen sollten.
Schließlich fasste sich Markus ein Herz und schritt einfach wieder in den Wald hinein. Uns war kalt und obwohl die Wahrscheinlichkeit gering war, im Wald eine Unterkunft zu finden, hatten wir keine Lust, Markus´ Entschluss in Frage zu stellen.
Wir folgten ihm stillschweigend und zu unser aller Überraschung stießen wir nach kurzer Zeit tatsächlich auf eine Unterkunft, ein Wirtshaus mit dem Namen „Zum schwarzen Keiler“. Es brannte schwaches Licht hinter den dicken Bleigläsern, worauf wir erleichtert eintraten.
Eine angenehme Wärme herrschte im Innern, ein Feuer brannte im Kamin. Wir fanden uns in der großen Schankstube wieder, die, bei dem Wetter nicht gerade überraschend, gut gefüllt war. Der Wirt polierte die Krüge, wir begrüßten ihn, bestellten heißen Met und setzten uns an einen Tisch, nachdem wir auch zwei kleine Kammern zum Schlafen mieten konnten.
So saßen wir also in aller Ruhe auf den Holzbänken in der warmen Schenke und hielten unsere heißen Metkrüge in den Händen, doch so richtig gemütlich war es trotzdem nicht. Die Stimmung im Saal war gedrückt, die Leute unterhielten sich zwar leise, doch gab es kein Gelächter oder laute Diskussionen. Der Wirt stand an seinem Platz, mit einem großen, groben Tuch in den Händen, mit dem er schweigend die aufgereihten Krüge trocknete.
Der Raum war recht dunkel, es brannte das Kaminfeuer, doch nicht sonderlich hoch, und Kerzen standen auf einigen Tischen, aber nicht viele, sodass der Raum vor allem in den Ecken in einem düsteren Halbdunkel lag.
Vollzählig befanden sich etwa zwei Dutzend Reisende in dem Wirtshaus. Dicht zusammengedrängt saßen sie an den schweren Holztischen, einige sahen unverkennbar kränklich aus, die Beine in den großen Stiefeln dicht zusammengedrängt, um sich gegen die unnatürliche Kälte zu schützen, die auch das Feuer nicht mindern konnte.
Ich dachte das erste Mal seit einiger Zeit wieder an meine Eltern. Waren sie gesund? Und lief das Geschäft meines Vaters gut? Hatte Gretchen inszwischen noch einen anderen Jungen geküsst?
Diese und weitere düstere Gedanken brachen über mich herein, ich fühlte mich schlapp, lustlos und niedergeschlagen.
Und es war kalt.
„Warum legt der Wirt nicht noch Holz in das Feuer?“
Markus zuckte bei meiner Frage zusammen, er war in Gedanken versunken gewesen, tiefe Sorgenfalten im Gesicht.
„Frag ihn das“, murrte er und wandte sich von mir ab.
Die Musiker starrten in ihre Krüge, ohne ein Wort zu sagen oder einen Blick zu wechseln.
Einzig Stephan sah mich an, doch auch ihn schien die düstere Stimmung zu erfassen, er schaute gequält auf eine Kerze, die am Nachbartisch stand. Als ich seinen Blick auffing, nuschelte er in seiner eigenen Sprache.
Ich glaubte, er wolle etwas Licht und Wärme haben, also kramte ich in meiner Tasche nach einer fast völlig heruntergebrannten Talgkerze, ging zum Nachbartisch, an dem ein alter Krämer zusammengesunken dasaß und mich nicht weiter beachtete, und entzündete meinen Docht an seiner Kerze.
Die Furcht in Stephans Augen milderte sich, nachdem ich die Kerze vor ihn stellte, aber er sah sich immer noch hektisch um. Ich begann, mir aufrichtig Sorgen um ihn zu machen, aber die anderen waren so in ihrem Trübsinn versunken, dass ich es durch unbedachte Äußerungen nicht noch weiter vergrößern wollte.
Draußen krähte laut vernehmlich ein Rabe. Stephan verlor trotz meiner Kerze seine gesunde Gesichtsfarbe. Ich glaube, diese Stille und die Kälte machten ihm beträchtlich mehr Angst als uns, er war manchmal sehr empfindsam. Ich dachte, dass er weinen würde, und es wäre mir sehr peinlich gewesen, daher beschloss ich, den Wirt nach dem Feuer zu fragen.
Als ich aufstand, krähte ein weiterer Rabe und ein dritter antwortete ihm krächzend. Ich drängte mich an Markus vorbei, der mit seinem Stuhl nicht wegrückte, sodass ich mich an ihm vorbeidrücken musste, und ging zum Tresen. Von draußen klangen zwei weitere Rabenschreie herein, einige Gäste wurden zusehends unruhig, doch niemand sagte etwas. Das Gemurmel erstarb fast vollständig.
Der Wirt sah mich mit einem Ausdruck des Unmuts an.
„Mein Freund dort ist krank. Könnten Sie etwas mehr Holz in den Kamin legen, damit es wärmer wird?“
Meine Stimme klang heiser und viel zu laut in meinen Ohren. Mehrere Gäste starrten mich bestürzt an. Der Wirt packte mich plötzlich hart an der Schulter, zog mich halb auf den Tresen.
„Junge, bist du des Wahnsinns?“, zischte er mir barsch ins Ohr.
Dann schob er mich zurück. Erschreckt und bestürzt taumelte ich wieder auf meinen Platz. Ich wusste nicht, was der Wirt meinte, doch vielmehr erschreckte mich die Art und Weise, mit der mich die Leute musterten.
In diesem Moment krähte schon wieder ein Rabe, und ich zuckte zusammen. Ich hatte jetzt wirklich Angst, doch das schien nichts gegen die Furcht zu sein, die Stephan auszustehen hatte. Er war bleich wie Kreide, seine Hände schlossen sich um den Metkrug, doch selbst das half nicht, das Zittern zu unterdrücken. Er flüsterte unaufhörlich vor sich hin, so leise, dass selbst ich, wo ich doch neben ihm saß, kein Wort verstand.
Stephans Schrecken half mir, meine eigene Furcht zu bezwingen, ich öffnete meinen trockenen Mund und murmelte ihm beschwichtigende Worte zu, doch das half auch nicht. Gerade als ich Markus auf das Leiden von Stephan aufmerksam machen wollte, wurde Stephan ohnmächtig. Ich erschrak doch sehr, sein Kopf wäre auf den schweren Holztisch gefallen, wenn ich meine Hand nicht rechtzeitig gehoben hätte.
„Markus!“
Meine Stimme war nur ein kraftloses Flüstern und Markus hörte es nicht.
„Markus, hilf mir! Stephan ist ohnmächtig geworden!“
Markus drehte sich um und starrte mich mit leeren Augen an, er schien in unschönen Erinnerungen zu schwelgen.
Ich verlor die Geduld, schob und drückte mich, Stephan halb ziehend, halb in den Armen haltend, an Markus vorbei, versuchte, den schmächtigen Jungen in unser Zimmer zu bringen. Glücklicherweise saßen wir direkt vor der Treppe, die zu den Schlafquartieren führte, der Weg war also recht kurz.
Ich hob Stephan halb auf meine Schulter und schleppte ihn in Richtung der alten Holztreppe.
Als mein Fuß die erste Treppenstufe berührte, krähte ein Rabe direkt draußen vor der Tür.
„Das war das siebte Mal!“, flüsterte jemand so deutlich, dass ich es am anderen Ende des Raumes deutlich hören konnte.
Das Feuer flammte für kurze Zeit etwas höher auf, doch dann schien es unter der zunehmenden Kälte zu schrumpfen, bis nur noch die Glut leisen Rauch verbreitete.
Ein Klopfen ertönte am Fenster, hervorgerufen von einem Schnabel, in einem steten Rhythmus pochte er gegen das Bleiglas. Auf der anderen Seite des Raumes, hinter einem weiteren Fenster, sah ich zwei schwarze, wilde Gestalten, klein, mit stechenden Augen. Beide setzten sich an das Fensterbrett, schienen den Raum zu mustern und stimmten dann mit ihren Schnäbeln in das vorwarnende Klopfen ein, das der erste Rabe begonnen hatte.
Und dann erklang das Stampfen schwerer Stiefel, die auf die Holzbohlen draußen vor dem Eingang trafen.
Das schwere Eichenholz quietschte leise, es schien fast Qualen zu leiden und ich meinte sehen zu können, wie es sich leicht nach innen bog, weg von dem, was draußen zu sein schien.
Da ging die massive Holztür auf, aufgestoßen von einem schwarzen Handschuh und einem Arm in einem schwarzen Mantel, und schwerer Nebel waberte in unseren Raum und brachte eisigen Wind mit sich, der die Kerzen nahe beim Eingang erlöschen ließ, sodass nur noch der hintere Teil des Schankraumes von spärlichen Lichtern erhellt wurde.
Raben kreischten, das ständige Schlagen an das Glas schien auch meinen Kopf zu erreichen, er schmerzte mit jedem Schlag, Tränen standen mir in den Augen.
Gebannt starrte ich auf die Gestalt, die von Dunkelheit umfangen über die Schwelle trat und bekam nicht einmal mit, dass Stephan sich auf meinen Mantel erbrach.
Eine Heerschar von Raben krächzte draußen, der Mond war hinter den tiefschwarzen Wolken und den Regenschleiern nicht zu sehen und Nebel ließ den großen, schwarzen Schatten des finsteren Neuankömmlings verschwimmen.
Es war ein Mann, er hatte seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen, schwere Regentropfen fielen auf den sandigen Boden, und er bewegte sich nicht, sondern starrte nur durch den Raum, musterte jeden Gast der Pension, sah ihnen in die schreckgeweiteten Augen, und nicht wenige begannen zu frösteln.
Dann fiel sein Blick auf mich, obwohl man das Gesicht der Gestalt nicht einmal annähernd sehen konnte, so wusste ich es doch, spürte ich ihn, und ein eisiger Schauer durchfuhr mich bis in die Knochen. Mein Herz schien einen Schlag auszusetzen, ich erschauerte, und dann wandte er seinen Blick von mir, und ich konnte endlich wieder flach und kläglich Atem holen.
Stephan spuckte abermals Galle und ich riss mich von der Schreckensgestalt los, denn ich erkannte in ihr den Wanderer, den ich tags zuvor im Nebel sah, und plötzlich war ich froh, dass er nicht gehalten hatte um uns zu begrüßen.
Ich riss mich von der schaurigen Szenerie los und schleppte Stephan die Treppe hoch in unsere Unterkunft, vor dem Schrecken flüchtend, der unten den einzigen Ausgang versperrte.
Mir wurde schummerig, schwarze Flecken bildeten sich vor meinen Augen, ich stieß die Zimmertür auf und legte Stephan unsanft auf das Bett. Ich wollte mich vor dem Grauen verstecken, doch gerade als ich den Schrank öffnete, wurde mir schlecht, und ich stürzte in die schwarzen Tiefen der Ohnmacht.
Des Vergessens.
Ich war im Delirium, es war noch dunkel, und die Schreie der Raben mischten sich mit denen der Gäste, deutlich konnte ich den Wirt weinen hören.
Ich träumte weiter, von Nebel, der nach mir zu greifen schien, von Vögeln, die mit scharfen Schnäbeln nach mir hacken wollten, hörte Markus´ Schreie, hörte Stoff reißen, das Klirren von berstenden Krügen.
Dunkler und dunkler wurden meine Empfindungen, ich weinte und schluchzte. Ich wollte nur noch vergessen.
Dann wurde es still.
Der dunkle Schrank dämpfte nicht die Geräusche der schweren Stiefel, die Schritt für Schritt die Treppe erstiegen.
Stephan wimmerte.
Von Sinnen hörte ich, dass die Zimmertür langsam aufging, ächzend, als würde die Berührung der öffnenden Hand ihr Schmerzen bereiten.
Stephan jaulte auf und ich fiel wieder in das dunkle, schmutzige Meer, das meine Empfindungen und mein ganzes Sein verschluckte.
Ich erwachte am nächsten Morgen, ohne Wissen, wer ich war oder wo ich war. Ich lag in einem Schrank, bedeckt von einem staubigen, mottenzerfressenden Mantel, der nicht mir gehörte.
Meine Glieder waren ganz steif, jeder Muskel tat mir weh. Vorsichtig richtete ich mich auf und kroch aus dem Schrank. Nach und nach fielen mir die Ereignisse der Nacht bruchstückhaft ein.
Das Zimmer war ein einziges Chaos.
Stephan war nicht mehr da.
Zitternd stieg ich die knarrenden Treppenstufen herunter. Überall lagen Scherben, Tische waren umgeworfen worden, Stuhlbeine lagen gebrochen auf dem Boden, ein ausgelaufenes und in drei Teile zerbrochenes Metfass lag mitten im Schankraum.
Ein Kerbholz lag auf dem Boden, doch waren keine Striche eingeritzt, sondern Worte:
Alle Schulden sind bezahlt.
Überall lagen Trümmer, doch nirgends sah ich eine Spur der Menschen, die noch am Abend zuvor hier gesessen hatten.
Ich war allein.
Ohne Nachzudenken, in Trance, nahm ich meine Tasche und trottete schaudernd aus dem Gasthaus.
Auf der Türschwelle lag eine pechschwarze Feder.
Ich stieg über die schwere Holztür, die draußen vor dem Eingang lag, brutal aus den Angeln gerissen, und ging einfach los, ohne die Anderen zu suchen, ja ich dachte nicht einmal an meine Gefährten.
Das Wetter hatte sich gebessert, der Himmel war grau, der Regen hatte sich zu einem leichten Nieselschauer abgeschwächt, doch der Nebel war immer noch da.
Und so ging ich tagein, tagaus, ohne Hunger, ohne nach anderen Menschen Ausschau zu halten. Ab und zu füllte ich meine Flasche an den kleinen Bächen auf, doch trank ich auch nicht viel.
Jeden Tag, vor allem abends, schien der Nebel hinter mir sich mehr und mehr zu verdichten. Vögelschwärme in großer Höhe kreisten über mir, sodass ich die Gattung nicht erkennen konnte.
Menschen traf ich keine, ich war ein Aussätziger in der grässlichen, dunklen Welt, ohne Ziel, ohne innere Wärme.
Und doch lief ich davon. Denn ich spürte, dass ich verfolgt wurde.
In den ersten Tagen meiner Flucht rastete ich nur noch zwei Mal am Tag, dann ließ ich auch noch die Mittagspause aus.
Am Ende lief ich auch, wenn es dunkel wurde, ohne Pause, ohne Schlaf, die Nacht hindurch.
Meine Kleidung riss ein, als ich mich durch einige dichte Dornenranken kämpfte, doch mein Verfolger schritt weiter hinter mir.
Ich sah ihn nie, doch ich spürte diese kalten Winde, die meinen Nacken streiften, mich verlockten, eine Pause zu machen, auf den Schemen zu warten, dem ich schon zwei Mal entronnen war.
Bald warf ich meine Tasche fort, ließ meine Werkzeuge zurück. Nun konnte ich schneller gehen. Ich lief am Tag, ich lief in der Nacht, Schlaf verlor seine Bedeutung.
Eines Abends, es war schon dunkel, rutschte ich ab und geriet mit meinen Fuß in eine Felsspalte. Es tat weh, ich konnte kaum mehr laufen, doch langsam aber stetig marschierte ich weiter.
Der Nebel rückte jede Nacht dichter an mich heran, völlig ausgezehrt erkämpfte ich mir einen Hang nach dem anderen, stieg ein Tal nach dem anderen herab und doch wusste ich, dass es vergebens war.
12ter Juli 1687, irgendwo in der Wildnis.
Ich sitze hier auf einem Stein auf einer behaglichen Lichtung. Der Schwarzwald ist wirklich wunderschön.
Mein Fuß ist stark geschwollen, meine Schuhe sind kaputt, ich habe sie gestern liegen lassen. Die Schnitte und Kratzer haben aufgehört zu schmerzen.
Er sitzt mir gegenüber, der leichte Regen prasselt auf seine Kapuze.
Ich darf noch zu Ende schreiben.