Neu in der Stadt
Ich hasste es, immer wieder das Selbe: Zimmer ausräumen, Kisten einpacken, Kisten auspacken, Zimmer einräumen. Jedes Mal eine neue Nachbarschaft, eine neue Schule und neue Leute. Die Leute waren das schlimmste, denn sobald man die ersten Kontakte geknüpft hatte, oder gar die ersten Freundschaften geschlossen, zogen wir wieder um. Der Job meines Vaters war schuld. Ich wusste nicht, was genau er macht, aber es brachte genug Geld ein, um ziemlich gut leben zu können. Wir waren nicht reich, aber wohlhabend - wie man es so schön ausdrückt.
Nachdem ich endlich damit fertig war, mein Zimmer einzuräumen, ging ich aus dem Haus. Zu meinen Eltern sagte ich, ich wollte mich nur eben in der Nachbarschaft umsehen, insgeheim hoffte ich aber, einen Gleichaltrigen zu treffen. Ich zog mir also meine Jacke und meine Schuhe an und verließ das Haus. Die Gegend war sowas wie eine Bonzenviertel, wo man hinsah nur große Häuser, denen man ansah, dass ein teurer Architekt beauftragt wurde. Die Straßen waren alle schnurgerade und rechteckig angeordnet. Alle zwei Häuser kreuzten sich die Straßen hier, so dass vier Gebäude einen "Block" bildeten. Die Siedlung war vier Blocks Breit und bisher vier Blocks lang, was sich aber bald ändern würde, da eine fünfte Reihe Blocks im Bau war und weitere Grundstücke dahinter zum Verkauf bereitstanden. Fast jedes Haus, hatte einen Hinterhof, der entweder als Garten oder Spielfläche für die Kinder genutzt wurde.
Ich war mittlerweile länger als eine halbe Stunde unterwegs, mir schien es aber so, als ob ich mich nicht vom Fleck bewegt hätte. Irgendwann fingen die Häuser an sich zu gleichen, und Blocks wiederholten sich. Die haben zwar alle einen Architekten angeheuert, aber anscheinend alle den Selben. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich verirre, wenn ich weiter gehe, also drehte ich um und lief zurück. Zwei Blocks weiter hörte ich dann einen Pfiff und jemand schrie nach mir. Als ich mich umdrehte, sah ich 4 Jugendliche - wahrscheinlich in meinem Alter - um die Ecke gehen und mir zuwinken. Ich blieb stehen und wartete, bis sie mich eingeholt hatten. Einer der Jungs, der etwas größer war und älter wirkte, sprach mich an: "Hey, ich hab dich hier noch nie gesehen, was machst du hier?" Er sah mich abschätzend an und wartete auf eine Antwort. "Ich bin neu hergezogen. Bin erst seit heute hier" Sein Gesichtssaudruck veränderte sich, von misstrauisch wurde es zu, ich möchte fast sagen, enttäuscht. Aber das enttäuschte Gesicht hielt sich nur für wenige Sekunden und wurde dann um einiges heller, vielleicht sogar freundlich. "Ach so, wir dachten schon du wärst einer von Außerhalb. Na, ich würd sagen: Willkommen bei uns! Ich bin Phillip, das sind Julian, David und Ed" Als erstes reichte mir Phillip die Hand, dann David, dann Julian und zuletzt Ed. Ich achtete darauf, die Hände möglichst fest zu schütteln, ich wollte einen guten Eindruck hinterlassen. Phillip war, wie gesagt, etwas älter als die anderen, größer und breiter. David war dünn und lang, er kam fast an Phillips Größe heran. Julian sah ziemlich durchschnittlich aus. Alles in Allem war an den Jungs nichts besonderes, nur Ed war etwas klein und untersetzt, auch hatte er starke Augenringe. Außerdem glaubte ich blaue Flecken an seinen Unterarmen zu sehen. Nachdem ich jedem die Hand gegeben hatte, stellte ich mich auch vor und Phillip fragte mich wie alt ich war. "Ich bin 15, werde aber bald 16" Als er meine Antwort hörte, verzog er den Mund zu einem Grinsen und sagte: "Echt? Du siehst um einiges jünger aus. Du siehst aus als ob du noch nicht mal Haare am Sack hättest" Die Jungs lachten und ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Ich wollte es mir nicht gleich am ersten Tag mit den Nachbarskinder verscherzen, also lachte ich mit. "Da du jetzt in der Siedlung wohnst, denk ich sollten wir dich ein bisschen aufklären. Wir von der Siedlung halten zusammen, wir kommen auch alleine klar. Wir brauchen Niemanden. Das ist hier so, das ist in der Schule so und das ist auch so, wenn wir in die Stadt gehen. Also entweder gehörst du zu uns oder zu den anderen. Wenn du zu uns gehörst, dann wissen das alle und du brauchst niemanden fürchten. Gehörst du aber zu den anderen, ist das wahrscheinlich nicht so gut, da alle in der Siedlung zu uns gehören. Also, zu wem gehörst du?" Phillip hatte es ziemlich deutlich ausgedrückt, ich hatte kaum eine Wahl. Aber selbst wenn ich eine gehabt hätte, hätte ich mich doch für "Uns" entschieden. Ich hatte noch nie in einer Stadt so schnell Anklang gefunden. "Klar, gehöre ich zu euch. Ich meine, ich wohne ja schließlich hier" Dem Satz fügte ich ein Lächeln an, doch die Jungs verzogen keine Miene. "Gut. Wir treffen uns abends immer bei den Rohbauten. Meistens so gegen acht oder neun, komm heut vorbei. Wir müssen jetzt weiter, bis dann" Ich nickte und die Vier gingen weiter. Während des Wegs nach Hause dachte ich darüber nach, was Phillip gesagt hatte. Ich war einer von Ihnen, es wäre das erste mal, dass zu irgendjemanden gehöre. Normalerweise war ich die paar Monate, die ich in einer Stadt verbrachte einfach nur "der Neue". Die wenigsten Leute beachteten mich großartig und ich kam damit klar. Doch dieses Mal hatte ich die Chance mehr zu sein, die Leute würden wissen, dass ich zur Siedlung gehöre.
Zuhause angekommen, schlug ich die Zeit tot. Ich war ungeduldig, ich konnte es kaum erwarten die anderen zu treffen. Ich sah fern, ich dachte an die Jungs. Ich aß, ich dachte an die Jungs. Ich duschte, ich dachte an die Jungs. Ich machte mich fertig und dachte an die Jungs. Endlich war es acht Uhr geworden und ich konnte aus dem Haus. Ich sagte meinen Eltern, ich würde mich mit ein paar Nachbarskindern treffen, zog mich an und ging.
Beim Treffpunkt angekommen, standen Phillip, David, ein anderer Typ und ein Mädchen schon da, hatten Feuer gemacht und rauchten. Ich stellte mich dazu, Phillip und David begrüßten mich und stellten mich den anderen vor. Ich bekam eine Zigarette angeboten und schlug sie nicht ab. Während wir quatschten kamen immer mehr dazu. Gegen elf waren wir geschätzte 20 Jugendliche in den unterschiedlichsten Formen und Farben. Phillip ging in einen Rohbau, stieg auf den Balkon und bat um Ruhe. "Leute, wir haben einen Neuen in der Siedlung" - verdammt, ich war schon wieder der Neue. Ich wollte denen zeigen, dass ich mehr als nur der Neue war - "Er hat sich entschieden, zu uns zu gehören. Aber natürlich geht das nicht so einfach. Wir müssen ihn erst Testen" Ich kam mir verarscht vor, das war wie in einem billigen Teeniefilm. Ich hatte nicht vor irgendeine Mutprobe mitzumachen, und dabei meinen Hals riskieren. Ich würde nirgendwo runterspringen, würde niemanden verprügeln oder ähnlichen Mist machen. Phillip sagte noch ein paar Worte, wünschte allen noch eine gute Party und stieg dann wieder vom Balkon. Er kam auf mich zu und klopfte mir auf die Schulter. "Na? Bereit für deinen Test?" Ich wollte eigentlich augenblicklich "Nein" sagen, doch irgendwas hielt mich davor ab. Und so hörte ich mich sagen: "Ja. Ich denke schon, was ist es denn?" Phillip grinste und sagte: "Es ist ganz einfach, das dürftest selbst du schaffen. Siehst du das Haus da vorne?" - er deutete auf ein Haus, dass wenige Meter weiter stand und in dem kein Licht brannte. Ich nickte. - "Da wohnt so ein alter Typ mit seiner Frau. War mal Profigolfer. Hat ein paar Pokale im Wohnzimmer stehen. Du sollst ins Haus rein und uns einen Pokal bringen. Das ist alles" Ich sah ihn ungläubig an. "Ich soll in das Haus einbrechen? Ist das dein Ernst?" Er grinste mich an und nickte einfach nur. Ich sah zum Haus rüber und überlegte mir wirklich, ob ich es tun sollte. Ich wollte endlich mal einen Freundeskreis haben, dafür hätte ich alles getan. Ich wollte auch endlich mal Jemand sein. Nicht nur der Neue. Ich ging ein paar Schritte in Richtung des Hauses und meine Gedanken sprangen. Nach zehn Meter, blieb ich stehen. Ich konnte es nicht machen, ich würde doch meine Zukunft nicht aufs Spiel setzen, wegen solchen Idioten. Wer war ich denn? Ich drehte um und ging wieder zu Phillip. Er sah mich an und fragte, was los sei. "Ich mach das nicht, das ist doch eine Schnapsidee. Alles andere, aber das nicht" Er sah mich an und seine Miene verdunkelte sich. "Willst du mich jetzt verarschen? Soll das heißen, du willst nicht zu uns gehören?" "Doch, aber wenn ich solche Scheiße machen muss, um dazu zu gehören, dann vergiss es" Er sah mir noch ein paar Sekunden ins Gesicht und holte dann aus. Seine Faust traf mein Gesicht und brachte mich ins Wanken. Ich sah ihn überrascht an, hatte aber keine Zeit mehr irgendwas zu sagen, denn der nächste Schlag traf mich noch härter und ich fiel auf den Boden. Und dann kamen sie alle, sie alle holten aus und schlugen mich. Sie traten mich und spukten auf mich. Ich hielt meine Arme über meinen Kopf und machte mich so klein wie möglich. Ich weiß nicht, wie lange sie da auf mich einschlugen, aber als sie fertig waren, liefen sie davon und ließen mich liegen. Ich weinte und hatte mir in die Hose gemacht. Mir lief das Blut aus der Nase und aus dem Mund, ich hatte Schwierigkeiten zu atmen. Ich wollte nach Hause, doch mir ging nicht aus dem Kopf, dass ich so nah dran gewesen war. Ich hätte dazu gehört.