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Neuanfang
Neuanfang
Er nimmt die Fernbedienung in die Hand, drückt die 2 und bereits nach drei Sekunden verzieht sich sein Gesicht. Etwas wie Bääh! murmelt er, greift blind nach der Zigarettenschachtel, die er auf den Tisch gelegt hat, nachdem er vor wenigen Minuten die Wohnung betrat. Die Fernsehzeitung, die morgen schon seit nunmehr fünf Wochen ausgedient hat, fällt dabei auf den müllübersäten Teppich. Er wirft ihr, der Tollen Woche, dabei keinen Blick zu. Er hustet so, dass Speicheltropfen quer über den Tisch durch die Luft sausen. Einen Tröpfchen bemerkt er sogar, schaut ihm nach und fragt sich währenddessen, ob die Brausetablette, die er vor einiger Zeit bereits in Leitungswasser auflöste, nun ihre Wirkung verloren hat. Jetzt wandert sein Blick wieder in Richtung der Zigarettenschachtel. Zitternd versucht er die Plastikfolie zu entfernen. Mithilfe seines nikotingelben Zeigefingers gelingt es ihm dann auch, die Silberfolie abzureißen. Probleme hingegen hat er beim Herausziehen einer Zigarette - mag am Fingernägelkauen liegen. Die Fingerkuppen sind ebenfalls wund und zerklüftet aufgrund dessen. Es gelingt ihm schließlich doch, aber eine weitere Zigarette fällt zu Boden. Zum Auffangen ist er zu langsam. Er verschluckt sich bei dieser Aktion, hustet kräftig, ringt nach Luft und wird rot im Gesicht. Tränen wandern über seine Wangen.
Das Rot steht ihm eben so wenig, wie das sonstige fahle Grau. Er mag die Sonne nicht. Er verbachte den ganzen Sommer in seiner 1,5-Zimmerwohnung. Da gefällt ihm der Herbst schon besser, der mit niedrigen Temperaturen und starken Böen eintraf, inzwischen drei Wochen her. Obwohl ihm das Wetter eigentlich egal sein könnte, denn freiwillig geht er immer noch nicht heraus. Nur zum Zigaretten holen oder dem üblichen Einkaufen zwischendurch. Manchmal gönnte er sich abends eine Flasche Amaretto. Diese Phase ist dagegen annähernd so lange her, wie das Datum der Fernsehzeitung, welches ihm ins Auge fällt, als er sich hinablässt, um nach einem Feuerzeug zu suchen. Finden kann er keines. Stattdessen stößt er sich den Kopf an der Kante des Tisches und gibt ein Verdammte Scheiße! von sich. Er bemitleidet sich und erhebt sich von der Couch. Das zweite Mal am heutigen Tage.
Er hätte jetzt gerne eine Tasse Kaffee. Dafür geht er viereinhalb Meter durch sein trautes Heim zur Kaffeemaschine. Es lässt sich keine einzige Filtertüte finden und hätte er die Letzte nicht in den Mülleimer geworfen, wäre er vermutlich noch auf dumme Gedanken gekommen.
Jetzt, um 22.56 Uhr, ist es zu spät für einen Einkauf. Ihm ist klar, dass er seit langem schon keinen Rhythmus in den Tagesablauf bekommt. Hab doch vorhin noch daran gedacht gehabt schießt, grammatikalisch falsch, durch seinen Kopf. Der Gang zurück ist geprägt von einem weniger aussichtsreichen Fluchen, welches ihn selbst am meisten bombardiert. Die Anschuldigungen lassen ihm einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Dieses Gefühl kennt er nur zu gut. Fast an der Couch angekommen, tritt er auf eine Streichholzschachtel. Er ignoriert diese aber vollkommen, da er weiß, dass sie ausschließlich abgebrannte Streichhölzer beinhaltet. Hehe, Schwarzköpfe, ha! murmelt er vor sich hin. Daraufhin beginnt er zu lachen. Mit Humor hat das nicht viel zu tun. Er verschluckt sich, spuckt und die Kirschröte kehrt zurück. Mit einem fettbeschmierten Klopapierfetzen, welches auf dem Boden lag, wischt er sich den Speichel von Mund und Hals. Er sieht, dass sich ein Feuerzeug auf der Couch befindet, genau da, wo er eben noch gesessen hat. Nun greift er nach der Zigarette, die auf den Boden gefallen ist. Er zündet die Zigarette an und inhaliert tief. Noch bevor er den Dunst ausatmet, zieht er ein zweites Mal an ihr. Ihm wird schwindelig, eventuell, weil er nur eine Scheibe Toast gegessen hat. Wahrscheinlich liegt es aber an seinem Körper, der mit der ungewöhnlichen Rauchmethode nicht zurecht kommt.
Nach drei Minuten möchte er die Zigarette ausdrücken, der Aschenbecher ist jedoch prallvoll. Er nimmt den gläsernen Aschenbecher in die linke Handfläche und schmettert ihn, voller Kraft, gegen die Wand. Er zerspringt dort, wo gestern der Pommes-Teller aufprallte. Er schreit: Es muss sich was ändern! Alles muss sich ändern! und darauf ICH muss mich ändern! Und hätte er es nicht bereits gestern gebrüllt, so könnte man auf Besserung hoffen.
Jedoch scheint er es diesmal ernst zu meinen. Er ahnt eine neue Chance und diese muss genutzt werden. Als erstes braucht er einen gesellschaftlich angepassten Tagesablauf. Er stellt den Wecker auf acht Uhr und geht duschen. Hinterher wäscht er einen Pullover und eine Baumwollhose, damit er nicht separat waschen muss. Zufrieden legt er sich ins frisch bezogene Bett und schläft sehr bald ein.
Als er gerade von einem schönen Leben träumt, wird er von einem lange nicht mehr erschienenem Laut geweckt. Wie vom Blitz getroffen steht er auf, geht ins Badezimmer und putzt sich die Zähne, zieht seine ausgewählten Kleidungsstücke an, nimmt seine Geldbörse, zählt 4,87 € und macht sich freudestrahlend und hoch motiviert auf den Weg zum Supermarkt.
Ein fünfzehnminütiger Fußmarsch steht an. Im Park rennt er den vom Wind umherfliegenden Blättern hinterher und wären diese tiefschwarzen Augenränder nicht vorhanden, so sähe er überglücklich aus. Mit einem fast schon übertriebenen „Guten Morgen!“ betritt er das Geschäft. Sein Lächeln wird nicht erwidert. Mit Filtertüten, Erdbeermarmelade und der aktuellen Tageszeitung bepackt nähert er sich der Kasse. Pass’ doch auf, du Trottel! faucht ihn eine Rentnerin an, deren Wagen er versehentlich anrempelt. Entschuldigen sie vielmals. Die Dame schnaubt weiter: Sie Trottel! Er geht weiter, begleitet von mehreren Penner-Rufen. Er gibt der Verkäuferin 4,87 €, setzt ein Stimmt so! hinzu und stolziert nach draußen.
Auf dem Rückweg findet er am Straßenrand ein 50-Cent-Stück, direkt vor einer Bäckerei. Er betritt diese und kauft sich zwei Brötchen. Lächelnd verlässt er die Bäckerei und betritt sehr bald die Eingangstür seines Mehrfamilienhauses. In seinem Zimmer deckt er den Tisch, kocht Kaffee und liest die Zeitung. Erwartungsvoll nähert er sich den Kleinanzeigen, steht kurz auf, um den Kaffee einzugießen. Dann nimmt er einen Schluck und setzt sich wieder. Er greift nach einem Kugelschreiber auf der Ablage und markiert eine Anzeige. Dabei nippt er ein zweites Mal am Kaffee und verschluckt sich, hustet, spuckt, wird rot und fällt vom Stuhl. Seine Zunge klappt nach hinten, er ringt nach Luft und seine Augen stoßen empor. Tränen fließen, er kann weder atmen noch durchhusten, bis er letztendlich regungslos am Boden liegt.
Wirft man einen Blick auf die Seite mit den Stellenanzeigen, so entdeckt man einen Kreis um eine Anzeige als Leichenwäscher.
Seinen markierten Berufswunsch konnte er somit niemals ausüben.
Dabei hätte er mit Sicherheit eine bessere Figur abgegeben, als der junge Mann, der den Job erhielt und vor Ekel quer über Billys Leiche kotzt.