Neulich am Stammtisch
Neulich am Stammtisch...
Freitag Abend. Die Welt liegt mir zu Füßen. Nicht nur, dass das Wochenende nach einer männerharten 37,5 Stunden-Woche vor der Tür steht; nein: heute ist endlich wieder Stammtisch! Jenes kulturelle Highlight der Woche, an dem ich, der begnadete KFZ-Mechaniker, und meine stattlichen Genossen auch mal wieder zu Wort kommen und die Gelegenheit nutzen, auf hoher politischer Ebene zu diskutieren.
So nutze ich die Gelegenheit, während meine Artgenossen sich noch streiten, wer zuerst sein Bier bestellt hat, das Wort zu ergreifen: „Diese Penner da oben wollen doch nur an unsere Kohle und hauen sich selbst die Jacken voll!“ Nun ja, mir war schon klar, dass ich durch diese geschickt gewählte Rhetorik die Aufmerksamkeit meiner Kumpanen auf mich lenken würde. Daß für einen Moment der Aufregung jedoch die Reihenfolge der Bier-Bestellung vollends gleichgültig wurde, überraschte mich denn doch ein wenig. So nutzte ich zum zweiten Mal die Gunst der Stunde und ergatterte mir das erste Glas. Mit den Worten „Das sind doch alles nur Egoisten!“ führte ich meine Rede fort und genoß den ersten Schluck des kühlen Blonden.
„Genau!“ hallte es einstimmig zurück. Fünf Mann – ein Wort. Nachdem nun alle, bis auf Karl, der sich bei der Durchsetzung seiner Bestellung immer etwas schwerer tut, den wohligen Schaum des Bieres auf ihren Oberlippen genussvoll spürten, erhob dieser die Stimme: „Das ist doch der reinste Selbstbedienungsladen! Wir haben immer weniger in der Tasche. Aber wenn es um die Diäten geht, sind sich alle einig.“ Das resignierte Kopfnicken der Deligierten in der Eckkneipe ist nicht zu übersehen. Vom Nachbartisch erreicht uns der schräge Blick eines Krawattenfuzzis, der offenbar unsere Debatte verfolgt. Er nuschelt was von „dann macht doch selbst Politik, wenn das so einfach ist...“ Er war mir vom ersten Anblick unsympathisch. Mit seinem Outfit meint er wahrscheinlich, er sei etwas besseres als wir. DER hat doch eh keine Ahnung von ehrlicher Arbeit. Also ignorieren wir ihn einfach und führen unsere Sitzung fort. Und außerdem: bevor ich in die Politik gehe und mir meine Finger in einer von Korruption geschwängerten Gesellschaft schmutzig mache, möchte ich lieber tot umfallen. Also vertiefen wir konsequenter Weise unsere Klausur. Karl, der nun auch endlich ein Glas in seinen Händen hält, stellt mir die existenziell wichtige Frage: „Hast Du an meinen Drehmomentschlüssel gedacht?“ Spontan erwidere ich; „Klar, Karl.“, und zücke das neuwertige Teil aus meiner Tasche. In meiner Eigenschaft als Altgeselle erhebe natürlich auch ich einen gewissen Anspruch auf Anerkennung und überreich Karl das gute Werkzeug nicht kommentarlos: „Der Alte passt zwar auf, wie ‚n Luchs, dass nix wegkommt, aber wenn ‚n guter Kumpel wie Du ‚ne Bestellung aufgibt, finde ich immer eine Möglichkeit, an die Teile ranzukommen.“ Zwinkernd füge ich noch hinzu: “Der hat doch eh genug davon.“
Als nun der Schlipsträger vom Nachbartisch abermals seinen Kommentar nicht verkneifen kann „...ja, ja, jeder nach seinen Möglichkeiten...“, bin ich einerseits irritiert, andererseits platzt mir der Kragen. Und so stelle ich ihn zur Rede: „Wie meinst Du das?“ In seiner ihm eigenen arroganten Art und Weise dreht er sich schließlich zu uns und spricht:“ Du nimmst Dir das, was Du Dir nehmen kannst. Genau so machen es auch unsere sogenannten Volksvertreter.“ Kaum hat er dieses gesagt, wendet er sich auch schon wieder von uns ab, um an seinem Glas zu nippen. ‚Scheiß drauf’ denke ich und fahre mit der sozial-wirtschaftlichen Rede fort: „Die Gewerkschaften sind doch auch nicht mehr das, was sie mal waren. Wir arbeiten ab November zwar zwei Stunden weniger in der Woche, bekommen aber keinen Cent mehr. Die nennen das vollmundig: Weniger Arbeit bei vollem Lohnausgleich. Da kriege ich doch das Kotzen!“ Wiederum ernte ich vollen, nicht endend wollenden Beifall von den Vertretern meiner Koalition. Ich muß gestehen, ich fühle mich richtig gut. Nun erhebt sich Herbert mit sonorer Stimme: „ Habt Ihr das heute in der Zeitung gelesen? Da soll es EU-Parlamentarier geben, die nicht an allen Sitzungen teilnehmen, aber die volle Kohle kassieren.“ Ein grimmiges Raunen weht über den Tisch. Walter, der seinen nunmehr 8-wöchigen Krankenschein sinnvoll nutzt, um sein Haus zu renovieren, macht keinen Hehl aus seiner Politikverdrossenheit: „Die machen doch eh, was sie wollen; und alles auf unsere Kosten!“ Erneuter Beifall. Nachdem nun endlich die Emotionen hochkochen, überwindet auch Klemens sein Schweigen:“ Fünf satte Jahre habe ich in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt. Da steht es mir doch wohl verdammt noch mal zu, auch davon zu profitieren.“
Das anerkennende Tischklopfen ist weder zu überhören, noch zu übersehen.
Frank, der bisher nur seine Leber walten ließ, trägt neue Aspekte vor: „Während unser Lebensstandard unter die Armutsgrenze sinkt –wir mussten schon unseren Drittwagen verkaufen und unsere Tochter bekommt nur noch alle zwei Monate neue Klamotten- werden wir von staatlicher Seite dazu gezwungen, irgendwelche Flutopfer finanziell zu unterstützen.“
Als hätte ich es geahnt, neigt sich das Haupt des Krawattenträgers ein weitere Mal uns entgegen. Er nimmt sein Glas und bewegt sich mit langsamen Schritten auf unseren Tisch zu, um sich auf dem einzig freien Stuhl nieder zu lassen. Er schaut befremdlich freundlich in die Runde und sagt: „Zuerst einmal: Wenn ich ein festes Dach über dem Kopf habe, genug zu Essen habe und im Winter nicht frieren muß, geht es mir gut. Punkt. Wenn Ihr glaubt, ich habe mehr Geld im Portemonaie, als Ihr, nur weil ich eine Krawatte trage, während Ihr in Latzhosen hier sitzt, möget Ihr getäuscht sein. Punkt. Was mich jedoch von Euch im Wesentlichen unterscheidet, ist die Arroganz, die Ihr den Politkern – zu Recht, oder zu Unrecht – vorwerft, selbst an den Tag legt. Ihr leidet keine Not, seid aber nicht bereit, in Not lebenden Menschen zu helfen. Ihr kritisiert Menschen, die sich selbst bedienen, bedient Euch aber selbst auch. Was ist das für eine Doppelmoral?“ Nun wird es mir zu bunt, und so kontere ich lautstark:“ Das ist doch wohl etwas anderes, ob ich einen Drehmomentschlüssel mitgehen lasse, oder ob ich mir zwei Millionen in die Tasche stecke.“ „Oh nein“ erwidert der feine Pinkel. „Das ist keineswegs ein Unterschied. Der einzige Unterschied besteht darin, dass Du nicht mehr Möglichkeiten hast, als ein Werkzeug mitgehen zu lassen. Hättest Du die Möglichkeit, Dir zwei Millionen in die Tasche zu stecken, würdest Du auch dieses tun.“
Am sonst so lebendigen Tisch – dem Stammtisch – herrscht plötzlich eine unheimliche Stille.
Ohne es zugeben zu wollen; irgendwie hat der Fremde recht. Während ich meinen Gedanken noch nachhinke, fährt er fort: „Das ganze ist ein gesellschaftliches Problem. Wie sind ein Volk von Egoisten. Dabei spielt es eine untergeordnete Rolle, ob der einzelne viel oder wenig Macht, viel oder wenig Geld hat. Jeder einzelne sucht immer nur seinen eigenen Vorteil.“
Die Ruhe am Tisch hat einen betäubenden Charakter. Bevor wir, die große Koalition der kleinen Leute jedoch wieder zu uns kommen, hat der feine Herr von nebenan unsere Zeche gezahlt und ist wie im Nebel aus unserer heiligen Halle der stammtischpolitischen Weisheiten verschwunden. Nahezu wortlos begibt sich jeder einzelne aus unserem erlauchten Kreis auf den Heimweg. Als ich endlich in meinem Bett liege und die Augen schließe, denke ich noch ‚Vielleicht hat der Fremde kein Problem gelöst. Aber möglicherweise hat er uns alle einen kleinen Schritt weiter gebracht.’