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Gundula ist tot.
Heute Morgen kam Markus vorbei um es mir zu sagen. Die Kaffeetasse in meiner Hand hatte leicht gezittert. Markus schaute mich erwartungsvoll an. Was bitte schön sollte ich ihm denn zeigen? Trauer, Betroffenheit, Erleichterung, Schock? Ich ging wortlos aus der Küche in mein Schlafzimmer und legte mich aufs Bett. Nach langen stillen Minuten fiel die Haustuer ins Schloss.
Gundula, das war doch meine Studienfreundin! Wir hatten uns so ziemlich am ersten Tag an der Uni kennen gelernt. Durch den Regen sind wir zusammen gelaufen um den verhexten Copy-Shop zu finden. Dort standen schon ungefähr 50 Mitstudenten an um den gleichen Seminartext zu kopieren. In den zwei Stunden, die wir anstanden, erfuhren wir voneinander unsere aktuellen Beziehungs- und Kontostände, unseren Musikgeschmack und familiären Verhältnisse. Zwei Tage später schlief Gundula das erste Mal bei mir im Zimmer auf der Matratze – nach einem Ausflug in die Karaokebar. Singen, stellten wir damals fest, können wir beide nicht.
Gundula, das war doch meine Rettung! Was hätte ich ohne sie getan, als Markus mit mir Schluss gemacht hat, nach fünf Jahren Beziehung auf Wolke sieben. Zu diesem Zeitpunkt wohnten wir längst in der gleichen WG. Gundula buk mir Dampfnudeln und sorgte für immer ausreichend Rotweinvorrat in der Küche. Stundenlang diskutierte sie mit mir, was in Markus gefahren sein könnte. Wir überlegten, ihn bei der GEZ zu melden, verwarfen diese Idee aber schließlich wieder, weil sie uns feige erschien. Und Gundula war diejenige, mit der ich in diesem ersten Jahr der Trennung in den Urlaub fuhr. An den Ostseestrand, jawohl!
Gundula, das war doch die größte Prokrastiniererin, die man sich vorstellen kann! Hausarbeit abzugeben? Referat vorzubereiten? Prüfung in zwei Wochen? Gundula tat in diesen Zeiten des Stresses grundsätzlich alles, was sie sonst nicht tat: Fenster putzen, gewagte Kuchenmischungen backen, ihre CD-Sammlung sortieren, am Computer „Siedler“ spielen. Mein dezent fragendes „Und?“ tat sie selbstsicher ab: „Ach, ist doch noch Zeit.“ Am Abend vor dem Event war ihre Zimmertuer dann geschlossen, und bis fünf Sekunden vor dem großen Ereignis steckte ihre Nase dann in der „empfohlenen Literatur“. Ging dann später am Tag die Haustuer auf, lautete Gundulas Gruss: „Ich hätte vielleicht doch ein bisschen früher anfangen sollen.“ Aber sie hat es immer geschafft.
Gundula, das war doch meine Arbeitskollegin! Wunderbare Hörfunkstimme. Geniale Themenbeiträge. Die kreativsten Einfälle, nicht nur für unsere Sendungen, sondern auch für die Kollegen. Einmal ging sie zu Weihnachten in den Zoo und nahm die Geräusche im Tropenhaus auf: „Für alle, deren Lieben dieses Jahr in Übersee feiern, hier ein kleiner Trost.“ Gundula hatte schon bald ihr eigenes Büro und die stellvertretende Leitung der Sendung inne. Mit ihr vor meinen Augen wurden meine Sendebeiträge immer unbedeutender, klischeehafter. „Doch nicht schon wieder Hitzesommer“, stöhnte der Chef bisweilen als Reaktion auf meine Vorschläge. „Wie soll man dass denn außerdem radiogemäß ansprechend umsetzen?“ Zwei Jahre arbeiteten wir zusammen, dann wurde mir vom Chef nahe gelegt, es doch eher bei der Zeitung zu probieren.
Gundula, das war doch Markus Frau! Ja, es war ein Weilchen her dass wir uns nicht mehr gesprochen hatten. Mein neuer Job bei der Zeitung ließ mir nicht viel Zeit. Für einen Mann und Freunde schon gar nicht. Und dann sah ich sie eines Nachmittags im Café, die Ärmel ihres orangeroten Pullis hochgeschoben, die erste Frühlingssonne genießend. Ich stand vor ihrem Tisch und starrte auf sie herunter. Als sie mich bemerkte, wurde sie rot: „Mein erster freier Nachmittag seit sieben Monaten!“ Ich saß noch keine fünf Minuten neben ihr, als Markus auftauchte. „Oh, hallo Denise…hallo, äh, Schatz.“ Mein Mund stand offen.
Gundula, das war doch ein kleines Häufchen Elend im hellblauen Nachthemd! Wo waren eigentlich ihre knalligen Pyjamas geblieben, die sie in der WG immer getragen hatte? Waren sie ihr nicht passend fürs Krankenhaus erschienen? Von der Frau im orangeroten Pulli war nicht mehr viel übrig. Sie schien kleiner, natürlich dünner, und – unwichtiger. Ruhiger. Weinen sah ich sie nur einmal, als ich gehen wollte nach meinem ersten Besuch. Tapfer hatte sie gesagt: „Gar kein Rotwein dabei?“ Mein betroffenes Gesicht hielt sie nicht aus. „Verdammt, nur ein halbes Jahr früher, und sie hätten es operieren können…“Den Rest verstand ich kaum, ihr gebogener Rücken zuckte.
Gundula ist tot. Und Denise?