Nicht dahin!
Agnès gewidmet.
Sonntag, 8. November 1998.
Ich knalle mit meinem geliebten Renault Clio über die regennasse A1 Richtung Paris Quartier Montmartre.
Die Nacht ist schon hereingebrochen. Und da schaukeln Oma und Opa gemütlich mit 85 vor mir auf die Überholspur. Ihr rostiger R 18 scheint Verdauungsschlaf zu halten, was nach einem Sonntagskaffee um 17 Uhr entschuldbar ist.
Ich bin im Gegensatz zu meinen eingeschlafenen Vorvätern mal wieder zu spät dran und fühle mich also gezwungen, leicht nervös die Lichthupe meiner geliebten Pappschachtel zu betätigen.
Agnès wartet, und ich bin zu spät dran, weil ich es wieder nicht gepeilt habe, zeitig loszufahren. Nachdem Opa und Oma (natürlich kopfschüttelnd) nach rechts zurückgezuckelt sind, heult mein treuer Freund auf und zieht los mit 160 Sachen.
In der Abenddämmerung denke ich zuerst, dass es der Schatten der orangenen Autobahnbeleuchtung ist, der neben mir auf dem Beifahrersitz Platz genommen hat.
Ich habe den Bauern mit seinem gelben Citroën-Oldtimer nicht rechtzeitig gesehen. Plötzlich zieht er knapp vor der Schnauze meines motorisierten Geschosses auf meine geheiligte Sprintspur.
Der Schatten neben mir ist leider alles andere als eine Einbildung, sondern eine sehr von sich überzeugte Erscheinung, Mitte Fünfzig, dunkelblauer Anzug, Langweilerkrawatte und aschgrauer Scheitel:
„Wolfgang, wie oft habe ich Dir gesagt, nicht so verrückt schnell zu fahren?“
Ich habe wirklich andere Sorgen, als diesem Quatsch zuzuhören.
Das Citroën-Hindernis ist gefährlich nahe.
Ich gehe voll in die Eisen, aber was nutzt das, wenn heute selbst die auf der Autobahn sind, die während der Woche noch nicht einmal wissen, wo sie die Zündschlüssel verkramt haben?
Ich schliddere auf das Citroën-Unglück zu.
Mein Magen dreht sich um.
Der gelbe Rosthaufen vermischt sich mit dem orangenen Autobahnleuchten.
„Schade eigentlich.“ Der Anzugmann hat die leicht weltfremde Überheblichkeit eines wohlgenährten Frührentners. „Tja, Pech.“
Scheiße! denke ich. Nicht das!
Ich muss an die Kinoverabredung mit Agnès denken, zu der ich zu spät kommen werde. Und Mist ! Morgen das Geschäftsessen mit dem Chef. Die Brotkrümel auf dem Teppich, ich wollte noch staubsaugen. Und richtig, der Scheck für die Monatsmiete. Das zerknitterte Hemd auf dem Bügelbrett. Und nicht zu vergessen, Klein-Maesta wartet auf sein Frolic.
„Das ist jetzt nicht mehr wichtig“, meint mein unangenehmer Beifahrer trocken. Da verstehe ich. Die Autobahn ist jetzt weit entfernt von mir. Ich beiße mir auf die Lippen.
„Das ist nicht schlimm“, errät mein unverhoffter Begleiter meine Gedanken.
Doch es ist schlimm.
„Was passiert jetzt?“, frage ich mit gebrochener Stimme.
„Wir müssen los“, ich fühle den Druck seiner warmen Hand an meinem Arm. Er öffnet die Tür und lächelt mir zu. In seinem runzeligen Gesicht entdecke ich eine Freundlichkeit, die ich irgendwo schon gesehen habe.
Werden wir eines Tages die Menschen wieder treffen, die wir lieb haben? Ich habe Angst. Ein riesiges Loch tut sich vor mir auf.
„Komm Wolfgang.“
Der Mann im Anzug winkt mir zu, dass ich aussteigen soll.
Aber ich kann nicht. Mir wird unendlich schwer. Ich will weinen.
Etwas hält mich hier zurück.
Agnès.
Ich kann nicht weg.
Es reicht mir nicht, sie irgendwann wieder zu sehen. Ich muss sie sehen.
Jetzt.
Ich muss sie fühlen. In den Armen halten. Muss ihr das zuflüstern, was ich bisher versäumt habe…
Da klingelt etwas. Zuerst denke ich, dass es mein Wecker ist und dass ich alles nur geträumt habe. Nein, es ist nicht mein Wecker. Der Anzugmann zieht erstaunt sein Handy aus dem Jackett.
„Ja, bitte ?“
Die Stimme am anderen Ende spricht langsam und ruhig.
„Ja, Chef, wir sind auf dem Weg…“
Im grünlichen Licht des Handys vertiefen sich die Falten auf der Stirn meines Begleiters.
„Ach, meinen Sie? Wenn Sie meinen, Chef…“
Das Handy wird genervt ausgedrückt. Und einen Moment lang, der eine Ewigkeit dauert, sagt der Anzug nichts.
„So etwas ist mir auch schon lange nicht mehr passiert. Der Chef pfeift mich kurz vor Ende einfach zurück. Hast du eine Schwein, Junge.“
Er macht wieder eine Pause. Seine Verärgerung verfliegt, und er lächelt er mich an.
Ich verstehe nichts. Nur bemerke ich, wie mein Brustkorb schwer wird; aus dem linken Hosenbein fließt warmes Blut.
Auf der Beifahrerseite stützt sich ein weißer Hemdsärmel auf den Sitz. Ein rundes Gesicht mit Brille erscheint im verformten Türrahmen. Ein kleiner dicker Mann schiebt sich durch die halboffene Tür ins Wageninnere. Er schaut mir prüfend ins Gesicht, wendet sich um und ruft: „Beeilt euch, der lebt noch!“