Was ist neu

Nicht ganz Chronologisches

Mitglied
Beitritt
17.01.2006
Beiträge
2

Nicht ganz Chronologisches

1
Das Telefonat war beendet. Jetzt kommt er. Aus Köln. Mitten in der Nacht. Wollte Sie das überhaupt? Irgendwie ging es ihr jetzt besser. Was hatte Sie ihm eigentlich erzählt? Es war ein seltsames Gespräch. Immer maß er sich an zu wissen was in ihr vorgeht. Sie wusste es nicht mehr.
Nur noch dieses Gefühl alles zu durchschauen, diese verstrickenden Gedanken, mit denen jedes gesagte Wort, jeder Gesichtsausdruck, alles Geschehene in selbstzerstörende Zusammenhänge gebracht wurden, das Herzrasen, die Verzweiflung und ausweglose Hilflosigkeit dies zu verändern, der Wunsch nicht allein zu sein obwohl sie genau wusste, dass ein anderer Mensch nur noch mehr Bedrohung und Misstrauen auslösen würde waren vage Erinnerungen. Es würde sicher mindestens eineinhalb Stunden dauern bis er bei ihr ankommt. Zeit also sich mit Ambient und Malen zu beruhigen und wieder zu sich zu finden. Scheiß Paranoia und das im Entzug. Würde das jemals wieder aufhören? Sollte sie ihn überhaupt hinein lassen in ihr doppelt verschlossenes, verdunkeltes Zimmer?

2
Glücklich! Einfach nur schön! Das MDMA tat seine Wirkung. Soeben noch hyperventilierend, schwitzend, schnellatmend mit dumpfem Herzklopfen und geschlossenen Augen in freudiger Erwartung auf der Reling sitzend, jetzt auf der Showbühne. Ausgelassen flitze und hüpfte Sie über die Tanzfläche und lachte jedem zu der lustig zum Goa-Trance tanzte und sie tanzte mit. Mit erhobenen Armen jubelte sie dem DJ entgegen und schon waren Männerschwärme um die Elfe und boten ihr Getränke, Liebe und Lines. Aber auch Frauen ohne Konkurrenzgedanken, einfach nur genauso glücklich und voller Liebe wie sie. Der Ostseestrand rann ihr durch die Fußzehen und bewundernd lobte sie sich und ihre Freunde für die gelungene Dekoration aus Pappmachepilzen, im Schwarzlicht leuchtenden Märchenbildern und Fadenkunstwerken. Wenn sie nur stehen bleiben könnte in diesem Raum und Zeit Kontinuum aus Licht, Lauten, Lächeln und Farben. War sie jemals zuvor so glücklich?
Ein Moment des Seins, sie hat es lange vermisst, so lange sie am Leben ist. Kein Ego, kein Du, ein Ich im Wir, ein heilsames Gefühl.

3
Mit einem mulmigen Gefühl lag ihr Zeigefinger schwer auf der Klingel dieses Hauses, welches doch eigentlich so eine Art Heimat für sie sein sollte. Es war viel passiert zwischen dem Tag, an dem sie im letzten Advent vor der Schul- und Liebe-an-Leistung-gebunden-Zeit fröhlich darin mit Mama Plätzchen ausgestochen hatte und ihrem einundzwanzigsten Geburtstag, an dem sie gemeinsam mit ihren Freunden 250 km entfernt von diesem Ort ausgelassen mit Bier und Joints zu Grunch und Crossover gefeiert hatte. Bis zu diesem Moment, an dem ihr Bruder ihr erzählte, dass ihre Mutter auf die Frage ob er ihr etwas ausrichten sollte, geantwortet hatte, dass es ihr egal sei wenn sie verrecke. Dass sie oft unterschiedlicher Meinung waren, dass ihre Mutter enttäuscht war, dass sie das Studium abgebrochen hatte um lieber bei Verrückten ein freiwilliges soziales Jahr zu machen, dass sie mit ihrem Freund nicht einverstanden war, weil er eben auch ein Punker ist, dass ihre Mutter den Verzicht auf Fleisch abartig fand, dass sie ihr den Austritt aus der Kirche nicht verzieh, dass wusste sie durch die Tatsache, dass schon lange kein Anruf mehr von “zu Hause” bei ihr ankam aber das tat dennoch weh. Es war ihr schon ein bisschen peinlich vor versammelter Mannschaft in Tränen auszubrechen.
Jetzt hatte sie tatsächlich die Klingel gedrückt. Über ein Jahr ist es her, dass sie ihre Mutter gehört, geschweige denn gesehen hatte. Hatte sie sich verändert? Sie hatte die reibungslosesten Klamotten an, die ihr Schrank zu bieten hatte und die kurzen Haare, die einfach nicht aufhören wollten in alle Richtungen abzustehen waren nicht mehr lila, smaragdgrün oder orange sondern rot, einfach nur rot, mahagonirot.
Sie freute sich auf diese Frau, die ihr gleich die Tür öffnen würde. Schon tagelang hatte sie sich ausgemalt wie es wohl sein würde, wenn das verloren geglaubte schwarze Schaf zurückkehrt. Es gab viel zu erzählen, die Pläne, die Zusage der Fachhochschule, das herausragende Arbeitszeugnis von der Reha-Einrichtung, das viele Geld, welches sie im letzten Jahr an der Kasse im Möbelhaus verdient hatte und dass ihr Freund immer noch derselbe ist.
Da öffnet sich die Tür. Sie strahlt unsicher ein Lächeln zur Begrüßung in den Flur.
Gegenüber ein bekanntes steinernes Gesicht. “Siehst du scheiße aus”, hört sie es sagen.

4
Feierabend! Acht Stunden gearbeitet, eingekauft, gekocht, gegessen, geduscht. Glotze einschalten? Lesen? Mit ihrer Freundin ein Eis essen gehen? Es ist schon elf. Morgen früh muss sie aufstehen. Sie sitzt auf ihrem Sofa und fühlt sich wohl in ihrer schönen neuen Wohnung und mit sich. Aber es fehlt etwas. Die Dramatik? Das grenzenlose Glück? Das Leben ist seltsam schön. Sie hat sich dafür entschieden.

 

Hallo Frau Rossi und herzlich willkommen hier.

Den Titel finde ich leider einfallslos und nichtssagend, selbst wenn deine Szenenaneinanderreihung nicht chronologisch ist. Genau so gut hättest du den Text "Eine Geschichte" nennen können.

Bei dem Text selbst bin ich zwiegespalten. Auf der einen Seite finde ich ihn in der Skizzenhaftigkeit der Episoden ganz gelungen, auf der anderen Seite scheint es mir fast ein bisschen wenig und man kommt deiner Protagonistin als Leser nicht nah.
Das kann daran liegen, dass du einem weit verbreiteten Irrtum folgst, nämlich die Figuren namenlos zu machen. Der Effekt dabei ist in vielen Geschichten nicht etwa eine größere Identifikationsmöglichkeit, sondern eine kleinere. Warum soll man sich mit einem Menschen beschäftigen, von dem noch nicht einmal der Autor es wirklich für nötig hält?
So bleibt es für mich eine anonyme junge Frau, deren Schicksal mich genau so wenig angeht wie das aller anderen anonymen Menschen.
Vielleicht wolltest du diesen Anonymitätseffekt ja erreichen, dazu ist dann aber der Hintergrund mit Mutterkonflikt und den Auswirkungen zu weit entfernt davon, eines von vielen sein zu können. Natürlich gibt es hinter jedem, der in psychische Schwierigkeiten gerät ein einzigartiges Schicksal, für die Geschichte wirkt es dann aber unentschlossen, ob du auf die Anonymität als Gesellschaftskritik hinaus möchtest oder auf das Einzelschicksal. Bei zweiterem brauchst du mE einen Namen.
Die gleiche Unentschlossenheit über die Erzählweise zeigt sich in der Gestaltung. Auf der einen Seite sehr fragmentarisch vier nicht deutlich zusammenhängende Absätze, in diesen aber dann sehr detailiert.
Etwas wenig plausibel scheint mir in dieser Situation die klare Realisierung der fehlenden Mutterbindung, die bewusste Traurigkeit über die ausbleibenden Telefonate.
Es ist zwar tatsächlich so, dass jemand, der nicht geleibt worden ist, dieser Liebe immer wieder hinterherlaufen kann, das findet meistens aber viel weniger reflektiert und eher in Ersatzvefriedigungen statt.

dass sie mit ihrem Freund nicht einverstanden war, weil er eben auch ein Punker ist
er ist Punk, nicht Punker.

Ja, so ganz stimmig scheint mir der Text noch nicht zu sein.

Lieben Gruß, sim

 

hi

sim, heute bin ich einfach nicht deiner Meinung.
Meiner Meinung nach gibt der Text auch zu Wenig her, da man das ja alles schon kennt. Aber das find ich recht gut wiedergegeben. Tausend von Jugendleben prägen sich doch so. Von daher hat es mich nicht im Geringsten gestört, dass der Prot keinen Namen hat. Vor vielen Türen ereignet sich so ein Schauspiel wie in Abschnitt 3.
das ich die KG morgen vergessen haben werde, liegt nicht in der Namenlosigkeit, sondern im Lebenstrott, mit dem hier die Ereignisse abgewickelt werden. Aber vielleicht sollte das ja so sein. Ich "Alltag" fänd ich die KG daher passender.

GRuß

 

Hallo ihr,
Danke an die bisherige, konstruktive Kritik. Da ich noch nicht lange schreibe und bisher kleinere Erzählungen nur im Freundeskreis "offenbart" habe, ist dies hier so was wie eine Feuertaufe für mich. Eure Anregungen sind also wirklich wertvoll für mich.
Lieben Gruß, Frau Rossi

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom