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Nichtkind
Mit wunden Knien, Rost am Ärmel; der Junge auf der Brücke.
Dort oben lag Geröll, Kadaver von Gleisen, wuchsen Haselnuss und Giftdorn. Ihre Bögen standen über dem Laubwald wie das Kreuzgradgewölbe einer unsichtbaren Kathedrale. In nicht aufgeräumten Reihen stand die wehende Gemeinde, neigten Kronen sich, irgendwo schrie ein Auerhahn, das Kind in der letzten Reihe.
Hänsel hockte in blauem Kies - Prediger auf seiner Kanzel -, seine Arme hatte er auf die untere Strebe des Geländers gelegt. Die toten Schienen wuchsen zu beiden Seiten aus der Brücke in den Wald hinein, wo Laub sie bedeckte, wo sie verschwanden, wo irgendwo eine blecherne Tür in einem Stück Wand zwischen Bäumen leicht geöffnet stand; manchmal bewegte der Wind Scharniere und dann quietschte es fremd unter Birken.
BETRETEN VERBOTEN stand verkrüppelt auf einem Schild, das einmal rot gewesen war, jetzt gelb an einer Kette hing, die zwischen den Geländern der Brücke dort gespannt war, wo ein Dornenbusch den Aufgang für Nichtkinder unmöglich machte.
Hänsel hockte auf der Brücke und schnippte kleine Steine auf das, was darunter war. Heimischer war die Welt nie gewesen. Aus blendenden Sonnenstrahlen heraus ergab sich ein Tag, der goldenen Glitter streute auf alles darunter. Von hier oben sah es nicht mehr gefräßig aus, nicht mehr, als könne man sich schneiden. Konsequenz war hier träge und Erlaubnis rings herum; strenge Worte verschlungen von Moos. Der Sonne näher kitzelte es besser, dem Himmel näher konnte man atmen.
Hänsel überlegte, ob er spucken darf. Er spuckte. Nicht aus Abscheu oder Spott, sondern um etwas von sich dort unten zu haben. Es gab kein anderes Ziel als den Boden, von unten kein anderes als den Himmel. Wie abstrus, dachte Hänsel, dass der Weg hoch dorthin zunächst abrupt von hier nach unten beginnt. Mit einem Sprung.
Der Junge schnippte einen anderen Kiesel.
Das kleine Projektil durchschlug das leuchtend gelbe Dach, dass ein wenig die Blätter zitterten; der Aufschlag war stumm, aber mittendrin raschelte es verheißungsvoll.
Von hier oben konnte man weit schauen. Der Herbstwald, beinahe unendlich, die Stadt fern, ein Sfumato über sie erbrochen.
Mit dem Ärmel wischte er Rotze ab, mit der Hand graste er weiter auf seiner Geröllweide. Seine Finger fanden einen Kiesel, der etwas größer war; gut ließ der sich rollen über die Ballen, vom Daumen zu den Spitzen; irgendwann musste der Stein hundert Jahre in einer Strömung gewandert sein, denn er war makellos, rund, fast weich. Eine dünne weiße Ader durchzog ihn, brach das Dunkelblau.
Hänsel warf diesen Stein nicht, er ließ ihn in seine Jackentasche gleiten, wo er sich plötzlich schwer anfühlte.
Jetzt stand er auf, seine Knie schmerzten, weil sich Kiesel hineingedrückt hatten, und wanderte herum.
An diesem Tag endlich war es das erstemal, dass er auf die Brücke geklettert war. Gehetzt hatte er den Wald erreicht als ihm der Kopf noch rumorte, die Nieren noch drückten, als er endlich den Bürgersteig verlassen konnte um niemanden mehr zu sehn. Auf hohen Stelzen hatte er eine Ortschaft gefunden, wo ihn niemand mehr anlangen konnte, wo er dahin spazierte, unerreichbar, riesig groß.
Nach Steinen suchend, deren Aufschlag hörbar wäre, fand er etwas Neues: Unter einem faulen Brett schaute jemand hervor, mit ernsten Zügen; auf stolzgeschwellter Brust trug er einen Kratzer, der hinabging wo kein Geschlechtsteil war, und wo unter dem Oberschenkel das rechte Bein fehlte. Seine Arme, mit Muskeln bepackt wie monströser Ausschlag, starrten stumpf in die Welt, ohnmächtig. Unter der Narbe her ging ein rasanter Schriftzug, der wohl einmal für Kinderträume von bombastischer Schlagkraft und Supermächten posaunt hatte: SERGEANT POWERS. Sergeant Powers hätte jede Schlacht geschlagen, wäre durch die Reihen der Feinde gewatet, bar jedweder Peinlichkeit. Sergeant Powers hätte sich umgedreht und noch etwas gesagt, was in Stein hätte gemeißelt werden können.
Sergeant Powers lag behindert unter diesem faulen Brett und eine Assel kroch über sein Gesicht.
Hänsel schnippte sie weg.
Er hockte sich nieder und zog die Plastikfigur aus ihrer Klemme. Kiesel knirschten unter seinen Turnschuhen als er aufstand und einen Platz suchte für den zornigen Soldaten. Eine Stelle am Fuß des Geländers fegte er mit den Händen frei und bog die Beine der Figur zurecht, dass sie sich setzten konnte.
Wenn er in der Fremde sein musste, verspürte er oft Durst, obwohl er nicht wirklich durstig war. Das Gefühl von Heimweh schmeckte wie Durst und jetzt, als er den verbrauchten Soldaten sah, hätte er gerne einen Schluck getrunken.
Der Junge verließ den Platz und ging weiter auf die Brücke hinaus, scharrte hier und dort, fand buntes Glas und welkes Papier, und einen Ziegelstein.
An dem Ziegel hingen Bruchstücke von getrocknetem Mörtel, der wie Kreide abbrach als Hänsel den Stein aufhob. Terrakottarot und schwer wippte er in der Hand. Durch die Bäume sollte er krachen wie eine Bombe so laut.
In den hinteren Reihen bellte ein Hund; ein Menetekel.
Er trug den Ziegelstein zu der Stelle, an der der Soldat immer noch wartete. »Schau«, sagte Hänsel und zeigte ihm seinen Fund. Dann hob er den Ziegel über seinen Kopf, dass er weit über das Geländer hinausragte. Für eine Weile ging sein Blick über den Wald hinweg zur fernen Stadt. Er bemerkte, dass deren Konturen sichtbarer geworden waren, irgendwo stand ein Windrad still. Jetzt sah er auf das gelb leuchtende Blätterdach unter ihm. Da schob ein leichter Wind einen Ast beiseite, dass der Junge sehen konnte, was darunter war, tief unten am Boden. Sofort schloss sich die Decke wieder, aber im selben Augenblick blitzte ein Lichtfunke auf und stach Hänsel in die Augen, dass er sie zu kniff. Das war der Moment, als er den Ziegelstein fallen ließ.
Durch das Astwerk plätscherte kräftig ein hartes Gewicht. Die Augen noch immer geschlossen, beobachtete Hänsel den hellen Fleck, den er in der Schwärze seiner Lider sah, und dann hörte er ein klingendes Scheppern tief unten, ein protestierendes Klingeln, dann brechendes Holz und einen dumpfen Schlag. Aufflatternde Vögel, dann Stille.
Hänsel schlug die Augen auf und warf sich beinahe über das Geländer. Die Kreidespuren auf seiner Handfläche vermischten sich mit bronzenem Rost, als er seinen Oberkörper feste über die oberste Strebe lehnte um hinunter zu sehen. Eine wahnsinnige Hitze schoss durch seine Wangen in den Kopf. Ein wahnsinniges Stück Realität hatte sich bereitgemacht den Jungen zu erschlagen.
Dort unten ist jemand, dachte Hänsel. Jemand muss dort unten entlanggegangen sein.
Das Dach zitterte noch.
Er wollte versuchen zu rufen, aber auf einmal konnte er das nicht. Sein Speichel schüttete sich aus wie eine Springflut. Mit den Händen hielt er seinen Kopf und wendete sich ab von der Tiefe, ging auf die Brücke hinaus. Dort schritt er mit großen Schritten entlang, kehrte um, ging zurück, kehrte um, biss sich in den Handrücken, verzweifelte. Endlich lief er zurück, fast taub, zu dem Dornenbusch, durch den er sich hindurch zwang. Die Dornen, die ihn aufrissen spürte er nicht, wild mit den Armen wedelnd trat er aus dem Busch und stürzte sich fast die steile Geröllhalde hinab, die nach unten in den Wald führte, zu dem Weg, der sich unter den mächtigen Bögen her duckte. Im lockeren Boden sank er ein, fiel, als seine Beine dort feststeckten. Aus dem Fall stolpernd kam er auf den Weg.
Dort war nichts.
In einer steilen Böschung abwärts des Weges entdeckte er das Fahrrad.
Ein Rad stand in die Luft, das sich immer noch drehte, in den Speichen blitzte die Sonne. Der Mensch, der mit dem Gesicht im Boden an einem Baum lag, trug weiße Stiefel, die unter einem enggeschnürten winterlichen Mantel herauslugten. Ein wolliger Schal hatte sich in Speichen gedreht und eine grüne Mütze lag unterhalb des Baums in einer morastigen Kuhle. Hänsel kam die Idee, dass dort sich Wildschweine suhlten in der Nacht. Durch seinen sichtbaren Atem hindurch stapfte er die Böschung hinab durch tiefes Laub zu dem Menschen hin. In seinem Kopf war ein Kinderreim.
Müde bin ich, geh zur Ruh,
Schließe beide Äuglein zu.
Ihr Gesicht war schön, es gab nur ganz wenig Blut; das meiste glitzerte auf ihren dunklen Haaren. Ihre Augen waren offen, große Augen, sie schielten ein bisschen.
Müde bin ich, geh zur Ruh...
Hänsel griff sachte zu dem Hinterrad und stoppte es. Über ihm drehte sich das Dach des Waldes, irgendwo darüber stand die Brücke auf ihren unbarmherzigen Pfeilern. Er versuchte Tränen hervor zu pressen, was nicht gelang, trotzdem drückte er Laute aus seinem Hals, die sich so ähnlich anhörten, als weine er. Aus diesem Gesang schrak er hoch.
Auf dem Grad der Böschung stand ein kleiner Hund, der wild mit dem Schwanz wedelte. Dahinter tauchte ein Mann auf, grauer Mantel, der erst seinen Hund wegzerren wollte, dann aber zu ihm herunter sah. Er sagte einen Satz mit »Gott.«
In dem Moment, als Hänsel auf allen Vieren die Böschung wieder hoch gekrochen kam, hatte der Junge sich kurzweilig in ein Tier verwandelt und erkannte mit Entsetzten, dass der Mann vor ihm zurück schreckte. »Ich habe das nicht getan!« rief er noch während er kroch. »Ich habe das nicht getan!«
Der Hund kläffte los. Der Mann sagte einen Satz mit »Junge.«
Hänsel rannte an ihm vorbei und stürzte die Geröllhalde wieder empor, wobei er immer wieder absackte und Mühe hatte, sich vom Weg zu entfernen. Wie im Traum kam es ihm vor, wenn er feststeckte an einem obszönen Ort und etwas kam heran, ihn zu packen. Nach einer Ewigkeit spürte er die Dornen nicht, die ihn aufrissen, als er sich durch den Busch zwängte, ihn fast überrollte wie ein Berserker. Dahinter atmete er aus, er hatte nicht gemerkt, dass er die Luft angehalten hatte.
Sergeant Powers sah ihn an. Der Junge begann zu würgen. »Ich habe das nicht getan«, sagte er und setzte sich mit dem Rücken an das Geländer. »Ich bin nicht Hänsel.« Seine Hand spielte in der Tasche mit dem runden Stein, der sich ganz warm anfühlte. Dann zog er ihn heraus, drehte sich um, und legte ihn an den Rand des Abgrunds, dahin, wo das Spielzeug saß und ernst drein schaute. »Ich bin nicht Hänsel«, sagte er und schnippte den Stein von der Brücke.