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- 28.06.2007
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Nichts
Es war ein überwältigendes Gefühl, dieser einmalige Augenblick im Leben, dieses erste Bewusstwerden, Fühlen, Schmecken und Erfahren des eigenen Ich. Sie konnte es mit nichts vergleichen, einordnen und bewerten… wie auch … mit was auch ?
Es war dieses erste Fühlen des eigenen Körpers der noch gar keiner war, diese Spannung die sie überzog, diese zarte Konstruktion aus Haut und ein paar Zahnstochern, die diese Hülle in nahezu menschliche Form spannte.
Für Sie besonders angenehm war diese unzählbare Anzahl von inneren Strömungen, die Sie in regelmäßig auf- und abschwellenden pulsierenden kurzen Intervallen durchströmten. Angetrieben von einem fernen dumpfen Geräusch, diesem gleichmäßigen Motor des Lebens, intensiv und kraftvoll wie ein von einem Schmied geschlagenes glühendes Eisen. Dieser Rhythmus erfüllte und bestimmte ihr Leben und teilte es in konstante Zeitabschnitte ein.
Nie würde ihr wirklich klar werden, welche Rolle dieses Geräusche für sie spielen würde.
Überwältigt von diesen ersten intensiven Eindrücken, fiel Sie in einen, eine Ewigkeit dauernden Dämmerschlaf, aber was ist schon eine Ewigkeit in einem zeiteinheitslosen Raum?
Als Sie wieder aufwachte, begann Sie sich weiter in Ihrem Lebensraum zu orientieren. Eine Orientierung im klassischen irdischen Sinn war jedoch kaum möglich. Es gab kein Oben und kein Unten, ein undefinierter Schwebzustand inmitten von Schwerelosigkeit, getrieben von schwachen Strömungen, bewegte Sie sich in einem ihr unbekannten aber wohltuenden Medium. An diesem Tag erkannte Sie erstmals, dass das Treiben in diesem Medium auch von ihr selbst, bewusst beeinflusst werden konnte, durch Spannen und Verformen der zarten Haut und Knochen Konstruktion konnte sie der vorherrschenden Strömung Widerstand bieten, und gegen Ende des Tages konnte sie ähnlich einem Segelboot im Wind, ihre Richtung beeinflussen.
In den nächsten Tagen erfuhr Sie erstmals eine Art Körperbewusstsein und konnte ihren Körper in grobe Kategorien eingruppieren: Da war diese Haut-Knochen Konstruktion, auf der diese noch unförmige Kugel aufgesetzt war, der Sie instinktiv eine zentrale Bedeutung zuordnete. Auf der Kugel 2 kleine Knöpfe die nicht sehen konnten und doch war ihr undefinierbar bewusst, daß diese das Tor zur Außenwelt sein mussten. Es waren erst nur kleine Elektronenentladungen der Sehnerven, die Sie von dort wahrnehmen konnte. Es waren kurze Lichtblitze anfangs, später dann geometrische Formen, die ihr Bewusstsein immer wieder aufs Neue, an neue Grenzen brachte. Sie beobachtete stundenlang diese Erscheinungen, saugte sie auf, bis sie langsam verblassten und im Sog der Müdigkeit verschwanden.
Aus dem Schlag gerissen wurde Sie durch einen heftigen Schlag, ihr ganzer Körper wurde wie von einem Elektroschock durchzogen und geschüttelt.
Eine massive Adrenalinwelle drang durch ihre Körpermitte ein und spülte durch ihren ganzen Körper.
Zum ersten mal in ihrem Leben erfuhr und erlebte sie das Gefühl „Angst“ und war völlig überfordert mit dieser Situation. Was war passiert? Dem ersten Schlag folgte nun ein zweiter und sie spürte wie ihre gesamte Umgebung um sie beschleunigt wurde und Sekundenbruchteile später hart aufschlug. Die Erschütterungswelle nahm ihr kurzfristig das Bewusstsein und als sie wieder zu sich kam, war es ein überwältigende Sinneserfahrung, sie konnte erstmals ein Geräusch bewusst „hören“. Es war anders als das ihr so vertraute, mehr gespürte als gehörte Pochen des Herzschlags der Sie seit der ersten Stunde begleitete.
Es war ein sehr fernes abgedämpftes Geräusch, ein Art Jammern oder Wimmern, erfüllt von tiefer Traurigkeit. Ihr wurde in diesem Moment klar, dass ihr Lebensraum nicht autark und beschränkt war, sondern dass es da noch etwas anderes geben musste außerhalb, sehr weit außerhalb, in einer, ihr Gehirn völlig überfordernden Weite gelegen…
Am nächsten Tag war Sie wieder mit der Erforschung ihrer Sinne beschäftigt, wohlbehütet in die eingegrenzte Vertrautheit ihres Lebensraums. Sie fühlte sich mehr und mehr vertraut und geborgen und genoß jeden Tag ihres jungen Lebens.
Unterbrochen wurden diese glücklichen Stunden nur immer wieder von diesem Wimmergeräusch von „draußen“, für das sie keine Erklärung fand und es so bald zu ihrem vertrauten Alltag gehörte.
So auch am folgenden Tag, als sie aufwachte und ihr ganzes Universum bereits mit einer alles überlagernden Traurigkeit belegt war. Irgendetwas war heute anders als die Tage zuvor. Das sie umgebende Medium war nicht wie sonst, es war eine Art Übersäuerung eingetreten. Sie spürte es deutlich beim Öffnen ihres Mundes, als die Flüssigkeit in Sie eindrang und sie diesen fauligen morbiden Geschmack wahrnahm. Leicht angewidert, versuchte sie die Flüssigkeit auszuspeien, jedoch blieb ihr zarter schwach ausgeprägter Geschmacksinn trotzdem befleckt mit diesem Nachgeschmack.
Dann plötzlich spürte sie wie ihre gesamte Umgebung sich langsam um 90° drehte und in der Horizontalen zu liegen kam. Plötzlich erfasste sie ein hochfrequenter pulsierender Ton, der ganz nah über ihr eindrang, sie völlig einnahm und was sie nicht wusste, eingrenzte und ins Visier nahm.
Was sie als nächstes spürte war dieser unglaubliche Schmerz, welcher nicht aus ihrem Körper entsprang, sondern direkt über ihre Nabelschnur in sie einging.
Eine kleine Druckschwankung im Medium um sich spürte sie anschließend und einige Sekunden hielt sich dieser Zustand eingefroren, so dass sie ihn in voller Tiefe erlebte. Dann spürte sie nur noch das Eindringen einer kalten metallischen Spitze in ihre Haut, das Brechen der Knochen und das Zerreißen der Organe ...
Es war kein unangenehmes Gefühl, den kalten Gegenstand in sich zu fühlen es war einfach nur fremd und statt Schmerzen, gab sie sich völlig dem bewussten Erfahren hin. Fasziniert spürte sie, wie die in ihr pulsierenden unruhigen Ströme sich verlangsamten und letztendlich völlig zum Stillstand kamen, so dass sie eine bis dahin nie erlebte Stille erfuhr.
Die Erscheinungen auf ihren Sehnerven erblassten dazu parallel und einen Augenblick erfuhr sie ganz bewusst das völlige Nichts…
…kein Gefühl, kein Geräusch, kein Licht, kein Geschmack…
das absolute Nichts … und sie wusste es war gut so.