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Nichts
Wer nur nimmt ohne zu geben, wird am Ende nichts haben. Jedenfalls waren das die Worte meiner Oma, als ich meinem Bruder erfolgreich den letzten Keks unter der Hand weggestohlen hatte. Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass sie mich daran erinnerte. Ich habe ihr nie zugehört. Vielleicht, weil ich mich vor der Wahrheit verschlossen habe. Vielleicht war ich auch einfach nur blind.
Gerade jetzt musste ich daran denken. Über die Jahre hinweg hatte ich die Worte vergessen. Wie so vieles. Ich sah mich um. Das Haus lag still da. Selbst die Schatten verweilten regungslos an den Wänden. Als ich vor wenigen Jahren das erste Mal die Stufen hinaufgestiegen war, die Schritte an den hohen Wänden der Halle widerhallen gehört hatte, dachte ich, mein Leben wäre endlich erfüllt.
Es war ein großes, beinahe palastartiges Haus. Mamor spiegelte das dämmrige Licht der Leuchter und trug die eleganten Mahagonimöbel. Jetzt stand es leer. Lachen, Kinderschritte und Stimmen waren verstummt.
Fussel streifte um meine Beine. Ich wandte mich ihm zu, streichelte sein schwarzes Fell. Vor zwei Jahren ist uns der Kater zugelaufen. Ich hatte mich Jonas und und Pauls Flehen nicht lange widersetzen können. Ein Lächeln umspielte meine Lippen bei dem Gedanken an meine Söhne.
Ich ließ den Blick zu den drei unordentlichen Koffern gleiten. Andächtig schritt ich ein letztes Mal auf sie zu. Der Stoff eines blauen Pullovers glitt durch meine Hand.
Vor meinem inneren Auge sah ich Paul. Seine Augen waren weit aufgerissen, die kleinen Hände suchten nach Halt. Das Wasser verschluckte seine Schreie. Ganze Autos wurden mitgenommen, während sich die Massen ihren Weg durch das Tal bahnten. Tropfen um Tropfen hatten den Fluss steigen lassen, bis die Dämme eingebrochen waren. Es hatte nicht nur den fünfjährigen Paul mit sich genommen.
Ohne es wirklich wahrzunehmen, nahm ich die Hose aus dem Koffer meiner Frau. Erinnerungen überlappten sich, als ich den Jeansstoff in meiner Hand fühlte. Ich fuhr die Nähte, die den Bund immer enger hatten werden lassen, mit dem Finger nach. Es war ein schleichender Prozess gewesen. Obwohl Janina durch viele Krankheiten geschwächt war, hatte sie alles hergegeben, um unseren Kindern ein Leben zu ermöglichen.
Die Dürre hatte einen Monat zu lange angedauert.
Ich zögerte, bevor ich mich dem letzen Koffer zuwandte. Der Schmerz war noch frisch und die Erinnerungen zu lebhaft. Das Blut auf dem weißen Shirt war rostrot, die schwarze Spur am Rückenteil deutlich zu erkennen.
Ein Schmerzensschrei fegte durch die Böen. Jonas sank zu Boden, während der Ziegel an seinem Rücken entlangrutschend zu Boden fiel. Blut strömte über seinen Kopf. Immer wieder hörte ich das Echo in meinen Gedanken nachklingen.Ich wiegte die Erinnerungen in meinen Armen, wie einst meine Kinder.
Ein Miauen brachte holte mich zurück ins Jetzt. Vorsichtig legte ich die Kleider an ihren Platz zurück, "Komm Fussel", lockte ich mit sanfter Stimme. Krallen bohrten sich in meine Schulter, als ich den Kater hochhob. Ich ergriff meinen Koffer und trat hinaus in den Nebel. Graue Schatten huschten durch den dichten Schleier. Ich fröstelte. Fussel vergrub sich in meinen Armen. Kies knirschten unter meinen Sohlen. Der Weg zum Dorf hinauf schlängelte sich durch verwilderte Weiden und tote Büsche. Ich beschleunigte meinen Schritt. Der Koffer holperte von einem Stein zum Nächsten. Die ersten Dächer srachen aus dem Nebel. Ich bog in die Nebenstraße ab. Leblose Häuser starrten mich hinter niedrigen Gartenzäunen an. Nur wenige Menschen waren noch hier geblieben. Ich konnte es ihnen nicht verübeln. Schon längst hätte auch ich mich auf den Weg machen sollen.
Warmes Licht fiel durch ein schmales Fenster auf den stillen Garten. Ich stieg die Stufen zum Eingang hinauf. Das schrille Läuten der Klingel durchschnitt die Stille. Nervös trat trat ich auf der Stelle umher, als sich die Tür öffnete. "Noah!" Marianne strahlte von einem Ohr zum anderen. Ich kam nicht umhin, die fast Siebzigjährige immer wieder für ihren unbezwingbaren Lebensmut zu bewundern. "Komm rein!" Sie deutete einladend in das innere des gemütlich eingerichteten Hauses. Wie angewurzelt blieb ich stehen. Ich nahm einen tiefen Atemzug. "Das ist gerade etwas ungünstig."
Ihr Blick fiel auf den Koffer, den ich vor der Treppe stehen gelassen hatte. Ihr Lächeln rutschte ein paar Etagen tiefer. Ich schluckte. "Kannst du vielleicht auf Fussel aufpassen? Ich werde nur ein paar Tage weg sein und dann wiederkommen." Verlegen sah ich zu Boden.
"Sicher, bald" Marianne spuckte die Worte aus wie zähes Kaugummi. " Willst du mich alte Frau hier ganz allein lassen?"
Hilflos hob ich die Schultern. "Nur vorrünergehend", ergänzte ich leise, "Ich brauche eine Auszeit von diesem Ort." Sie musterte mich schweigend. Ich schien unter ihrem Blick zu schrumpfen.
"Natürlich" Ihre Stimme war so unbefangen, als wären die letzten Sätze nie gesagt worden. Ich ging in die Hocke, damit Fussel von meinem Arm springen konnte. Zufrieden verschwand er im warmen Haus.
"Wohin willst du überhaupt?"
"Zu Philipp"
"Zu deinem Bruder?"
"Ja, ich möchte mich vergewissern, dass es ihm gut geht. Außerdem wohnt er an einem windgeschützten Platz auf einem Berg. Sich für ein paar Wochen keine Sorgen machen zu müssen, wäre..." Ich suchte krampfhaft nach dem richtigen Wort, "...himmlisch." Selbst dieser Ausdruck konnte die Welle von Leichtigkeit nicht beschreiben, die einen ergriff, wenn man jahrelang angestaute Angst für einen Augenblick loslassen konnte.
"Du kannst nicht vor deinen Problemen weglaufen, Noah. Auch dein Bruder wird die selben Sorgen wie du haben", sie hob scherzhaft den Zeigefinger, "Anpassung ist meine Devise."
Ich lachte Spitz. "Irgendwelche Vorschläge?"
"Du könntest dein Haus zum Beispiel auf Stelzen stellen."
"Genial", erwiderte ich trocken. "Damit beim nächsten Sturm gleich das ganze Haus weggeweht wird?"
Marianne zuckte mit den Schultern. "Oder du fängst etwas kleiner an und stellst dir ein Boot in den Hintergarten." Sie deutete auf ein kleines Fischerboot hinter einem verfallenen Schuppen.
"Für Anpassung ist es zu spät, die nächste Katastrophe kommt, bevor du dich überhaupt auf eine vorbereiten kannst."
"Du bist immer so pessimistisch!" Sie tätschelte meinen Kopf, als wäre ich ein kleiner Junge.
Ich war mir nicht ganz sicher, ob sie überhaupt verstanden hatte, was vor sich ging. Manchmal neigte Marianne dazu, sich ihre eigene heile Welt zusammenzubasteln.
"Willst du einfach warten, bis alles zusammenfällt?" Marianne sah mich vorwurfsvoll an.
"Wer nur nimmt, ohne zu nehmen, wird am ende nichts haben. Es ist zu spät. Wir müssen die Konsequenzen dafür tragen, dass wir die Resourcen überansprucht, Bäume gefällt, Landschaften zerstört und unsere Umwelt ausgeraubt haben. "
Fussel, der inzwischen von seiner Erkundungstour wiedergekehrt war, unterbrach mich, indem er Mariannes gesamte Aufmerksamkeit auf sich zog. Ich bückte mich, um ihn noch einmal unterm Kinn zu kraueln. Er schnurrte leise. "Ich denke, ich sollte mich langsam auf den Weg machen."
Marianne nickte, ohne ein weiteres Wort.
Ich drehte mich um und stieg die Steinstufen hinunter.
"Pass auf dich auf!", rief sie mir noch zu, bevor ich hinter der Ecke verschwand. Marianne war in gewisser Hinsicht wie eine Mutter für mich.
Der Nebel begann, sich zu verflüchtigen und den Blick auf die graue Welt hinter dem weißen Schleier preiszugeben. Kein Vogelgezwitscher war zu hören, nur der Wind heulte durch die zerbrochenen Fenster. Die Kälte kroch in meine Kleider. Es war zu spät, um diese Welt zu retten. Die Welt hätte mehr Menschen wie meine Oma gebraucht, um zu überleben.