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Nicole, wo bist du?
Kein Tag verging, an dem Claudia nicht um halb zwei mit ihrer kleinen Tochter, Nicole, vor der Commune in der Schönlaterngasse stand. Manchmal machte das Lokal schon früher auf, meistens aber erst um zwei. Nicole schlief sitzend in einem zusammenklappbaren Buggy, ihr Kopf mit den kurzen blonden Haaren hing zur Seite.
Ich hörte meist um drei zu arbeiten auf und mein Weg führte ebenfalls täglich in dieses Lokal, an dem zu Beginn eine rote Fahne hing. Da war es noch politisch, Diskussionen mit Politikern fanden statt, Zukunftsperspektiven wurden diskutiert. Aber irgendwann ist es dann verkommen zu einer Kifferhütte, in der sich Leute trafen, die sich nirgendwo zuhause fühlten. Spaßhalber sagten viele von uns, sie hätten hier ihren Meldezettel ausgefüllt, und tatsächlich waren die meisten mehr hier als zu Hause.
Oft wachte das kleine Mädchen gerade auf, wenn ich kam. Ihre Mutter bemerkte es nicht und Crissy oder ich nahmen sie aus dem Buggy. Crissy lernte ich eigentlich erst durch Nicole kennen, sie war mir sehr ähnlich und wir verstanden uns gut. Wir kauften für die Kleine einen Kakao und ein Packerl Manner-Schnitten. Wenn wir kurz darauf im Fernsehraum einen Joint rauchten, spielte Anderson mit Nicole. Ihre Mutter unterhielt sich währenddessen prächtig, vom fünften Bier hatte sie schon eine ziemlich schwere Zunge. Wer dabei ihre Gesprächspartner waren, fiel nicht so ins Gewicht.
Crissy und ich packten Nicole wieder zusammen und fuhren mit ihr durch die Stadt. Immer neue Spielplätze haben wir erkundet. Wir kannten sie selbst nicht, wußten gar nicht, welch herrliche Parks es in dieser Stadt gibt – auch unsere Mütter hatten früher nie Zeit für uns. Wir schaukelten, fuhren Ringelspiel und gruben uns im Sand ein. Nicole lachte besonders laut, Spaß hatten wir alle drei dabei. Erst, als wir wieder in Richtung Commune aufbrechen mußten, weil es schon gegen achtzehn Uhr wurde, verließ sie das Lachen wieder ein bisschen. Meistens schlief sie dann am Weg zufrieden ein. Vielleicht kam es ihr, wenn sie dann bei ihrer Mutter wieder aufwachte, so vor, als hätte sie alles nur geträumt? Ich begnüge mich mit dem Gedanken, dass sie dann wenigstens schöne Träume erlebte.
Einmal hatte ihre Mutter auf den Osterhasen vergessen. Sie bekam dann im Lokal ein rotes Ei, so wie alle Gäste an dem Tag. Peinlich berührt drehte sich zu Nicole und sagte mit erhöhter Stimme: „Schau, das ist vom Osterhasi!“
Crissy und ich hatten auch nicht viel Geld, aber wir brachten das Nötige für eine kleine Packung Duplo-Lego zusammen und versteckten es mit einem Schoko-Hasen im Gebüsch, als wir zum Spielplatz kamen. Nicole hüpfte vor Freude, als sie es fand und hielt das Spiel in der Hand, ließ es nicht mehr aus. Später nahm es ihr die Mutter wortlos aus der Hand und steckte es ins Netz des Buggys.
Joe kam auch hin und wieder in die Commune. Er arbeitete in einem schweren Job und war oft auswärts unterwegs. Nebenbei kämpfte er am Gericht um die Vormundschaft für Nicole – er war ihr Vater. Wenn Nicole ihn sah, strahlte die reinste Freude aus ihren Augen.
Einmal saßen wir einen Abend lang mit ihm im Fernsehraum und er erzählte uns:
„Meine Mutter würde auf Nicole schauen, wenn ich nicht da bin. Deshalb würde ich zu ihr, also in die Wohnung meiner Mutter ziehen. Aber das Gericht meint, dass sie bei der Mutter besser aufgehoben sei, weil ich nicht immer da bin und außerdem eine Vorstrafe habe. – Tja, sie werden sie mir nicht geben. Aber ich bin froh, dass ihr ein bisschen auf sie schaut.“
Crissy und ich waren sechzehn und verstanden nichts von Gerichtsdingen. Nicole tat uns einfach Leid und wir hatten sie in unser Herz geschlossen. Was wir taten, machten wir gern und sahen es schon als einen Fixpunkt in unserem Tagesablauf an. Wir gewöhnten uns daran, Nicole gewöhnte sich daran, freute sich aber immer noch genauso wie beim ersten Ausflug, wenn wir sie in ihrem Buggy aus dem Lokal schoben.
Eines Tages war es weg, das Kinderlachen. Claudia kam nicht mehr. Nicole kam nicht mehr. Wir warteten wochenlang. Adresse wussten wir keine und auch Joe sahen wir nie wieder. Nichts. Crissy und ich verloren uns später auch irgendwann aus den Augen. An sie denke ich auch noch manchmal. Aber an Nicole denke ich noch oft. Sie müsste jetzt dreiundzwanzig Jahre alt sein – und vielleicht liest sie diese Zeilen ja mal, erkennt und meldet sich, damit die Geschichte ein anderes Ende bekommt?
Nicole?