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Nie mehr Bolero 2
There they wait in fear with swords in feeble hands
With dreams to be a King first one should be a man
I call them out and charge them all with a life that is a lie
And in their final hour they shell confess before they die
- Manowar -
Mein Name ist David Riemschneider. Ja, das ist mein Name. Mein Name ist David Riemschneider. Ich hatte einen Hirntumor.
Pip … pip … pip …
Das stetige Piepen des EKG beruhigt. Ich lächle mit geschlossenen Augen und lausche der technischen Verstärkung meines Herzschlags. Ich lebe …
1
„Hallo Herr Riemschneider.“ Ein breites Grinsen. „Können Sie mich verstehen?“ Die Stimme klingt warm, und schwerfällig öffne ich die Augen.
Das Zimmer, in dem ich liege, ist gedämmt durch indirektes Licht, das von einer abgeschirmten Neonröhre an der hinteren Wand herrührt. Ein weiß gekleideter Mann schiebt sich ins Bild.
„Willkommen zurück,“ sagt er und greift nach meinem Arm. Seine Finger sind kalt, und für einen Augenblick ist mir, als berühre mich eine Leiche. „Können Sie sich erinnern, Herr Riemschneider?“
Ich frage mich, warum der Kerl meinen Puls misst, bis ich feststelle, dass das beruhigende Piepen des EKG verstummt ist; sie müssen es abgeschaltet haben. Ja, ich werde das Schlimmste überstanden haben.
Als ich nicht antworte, fährt der Mann in Weiß fort: „Ich bin Professor Brinkmann.“ Eine bedeutungsschwangere Pause folgt. „Ich habe Sie operiert.“
Ich weiß, möchte ich sagen, doch irgendwie habe ich Schwierigkeiten, meine Lippen auseinanderzukriegen.
„Sprechen Sie jetzt nicht, Herr Riemschneider. Wir haben Sie intubiert, und ihr Hals ist noch arg geschwollen. Ein paar Tage Ruhe und Sie singen wieder die schönsten Arien.“ Er grinst und legt meinen Arm behutsam auf das Bettlaken zurück.
Warum fragt er mich etwas, wenn er weiß, dass ich nicht antworten kann?
Brinkmann blickt auf einen Zettel. Dann lächelt er und geht.
Die Erinnerungen kommen; immer wenn ich an die weiße Decke mit den stellenweise dunklen Flecken starre. Da waren diese Visionen; surreale Erscheinungsformen, die mich an den Rand des Wahnsinns getrieben hatten. Menschen, deren Augäpfel in meinem Beisein herausfielen. Wesen mit kreisrunden Mündern und unendlich vielen Zahnreihen, die sich in menschliche Knochen frästen. Da war dieser übergroße Polizist, der mich verfolgt und der Menschen durch bloßes Ansehen schmelzen lassen konnte. Wie Kerzen.
Dieser Polizist … der Leibhaftige. Und Professor Brinkmann … sein Lakai …
Lediglich Visionen. Hervorgerufen durch eine Wucherung zwischen meinen Hirnwindungen.
Ich schlafe ein und träume von dem Gespräch, das ich kurz vor der Operation zwischen Brinkmann und dem Uniformierten mitbekommen hatte. Damals zu der Zeit, als ich nicht mehr Realität von Fiktion unterscheiden konnte:
„Er ist ein Seher!“, keucht Professor Brinkmann.
„Ich werde ihn rüberbringen“, sagt eine weitere Stimme, die mir bekannt vorkommt, und die ich trotzdem nicht zuordnen kann.
„Er hat schon viel zu viel gesehen“, dröhnte jetzt der Polizist. „Wir müssen es hier und jetzt erledigen!“
„Er hat sich bereits“, kreischt Brinkmann, „mit meiner Version des Hirntumors abgefunden. Sie hätten daher nicht auf ihn schießen müssen, mein Lord.“
Ich schreie. Öffne die Augen und blinzle in die abgeschirmte Neonlampe an der Wand. Sie wirkt dunkler als vorhin.
Mein Hals brennt immer noch, und meine Lippen sind dermaßen trocken, dass ich das Gefühl habe, sie beständen aus Stein. Hatte ich wirklich geschrieen? Oder handelte es sich lediglich um den befreienden Abschluss eines Albtraums?
Pip … pip … pip …
Das stetige Piepen des EKG dringt in meinen Verstand, und kurz bevor ich wieder einschlafe, weiß ich, dass irgendetwas nicht stimmt.
2
„Es ist schön, dass es dir wieder besser geht, David.“
Ich hebe das Bierglas und proste meinem Gegenüber zu. „Ja“, sage ich und nehme einen kräftigen Schluck.
Martin steckt sich eine Zigarette an. „Rauchst du eigentlich noch?“
„Habe ich geraucht?“
Martin grinst. „Allerdings.“ Er hält mir die Schachtel entgegen. „Willste eine?“
„Ich glaube nicht.“
„Hm“, die Schachtel verschwindet in der Brusttasche seines Hemdes. „Wie ist es jetzt eigentlich?“
„Wie ist was?“ Rauch steigt mir in die Nase, und ich kann nicht sagen, ob er gut oder schlecht riecht. Er riecht einfach nur nach … Geruch.
„Ich meine“, fährt Martin fort, „kannst du dich an alles erinnern? Tut es weh?“
„Ich weiß nicht, ob ich mich an alles erinnern kann.“ Ich merke an Martins Blick, dass er nicht versteht, was ich damit sagen will, und schnell füge ich hinzu: „Und es tut nicht weh.“
Eine Kellnerin taucht hinter Martin auf. „Braucht ihr noch was, Jungs?“
Sie schaut mir tief in die Augen, während ihre Mundwinkel unnatürlich stark zucken.
Martin sagt „Zwei Bier“, ohne aufzusehen, und als die Kellnerin lächelnd nickt, erkenne ich, dass ihr ein Schneidezahn fehlt.
Die Kneipe, in der wir uns befinden, ist bis auf den letzten Platz besetzt. Ich lasse meinen Blick unauffällig über die Menschen schweifen, während Martin mir irgendwelche Erlebnisse aus unserer Schulzeit erzählt und herzlich lacht.
Etwas stimmt mit den Gästen nicht; sie scheinen aufs Schärfste bemüht, nicht in unsere Richtung zu schauen. Auch der Wirt hinter dem Tresen interessiert sich mehr für den Boden zu seinen Füßen, als um das Geschehen in der Kneipe. Die Kellnerin mit dem fehlenden Zahn sehe ich nicht.
„Zwei Bier“, sagt sie im selben Augenblick neben mir und ich zucke dermaßen zusammen, dass mein Stuhl auf dem Holzboden ein quietschendes Geräusch erzeugt.
Martin starrt mich an, und für einen kurzen Moment schwebt eine erdrückende Stille durch den Raum. Wie in diesen dämlichen Westernfilmen, wenn der Killer durch die Schwingtür schreitet.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken“, lächelt die Kellnerin, stellt mein Bier auf den Tisch und streichelt mir über den Rücken. Sie beugt sich zu mir herab – die typische Kneipengeräuschkulisse setzt wieder ein – und haucht mir ins Ohr: „Ich würde mich heute Abend gern von dir ficken lassen.“
Dann geht sie davon.
„Ist alles in Ordnung?“, will Martin wissen.
Ich sage nichts.
3
Pip … pip … pip …
„So, das brauchen wir jetzt nicht mehr.“ Professor Brinkmann drückt einen Knopf und das Piepen verstummt.
Ich lausche, und als ich mein Herz heftig gegen die Brust schlagen spüre, weiß ich, dass ich nicht tot bin. Wo ist Martin? Wo die Kellnerin, die unbedingt mit mir ficken wollte?
„Irgendetwas stimmt nicht“, krächze ich.
Brinkmann beugt sich über mich, tastet über den Verband, der um meinen Kopf gewickelt ist. „Natürlich stimmt irgendwas nicht, Herr Riemschneider. Sie wurden am Gehirn operiert.“
- Er hat sich bereits mit meiner Version des Hirntumors abgefunden, mein Lord. -
„Es wird noch eine Weile dauern," fährt Brinkmann fort, „bis alles wieder so funktioniert wie früher.“ Er gibt mir eine Spritze. „Aber Sie sind hier ja in guten Händen.“
„Was ist mit den Visionen“, frage ich leise.
Brinkmann legt die Spritze auf ein kleines silbernes Tablett. „Nun … ja“, er scheint zu überlegen, „die gehören der Vergangenheit an. Ja, der Vergangenheit.“ Er steht auf. „Eine üble Zeit. Übel, übel.“
Er dreht sich um, verlässt das Zimmer, und ich weiß, dass er mich belogen hat.
4
„Nimmst du noch eins?“
Ich schüttle den Kopf, und wieder steigt mir der geruchlose Rauch von Martins Zigarette in die Nase.
Ich greife nach seiner Hand. Martin hebt die Brauen, dann sieht er sich beschämt um. „Äh… David. Du … du hältst meine Hand.“
„Martin, ich weiß nicht, ob die OP gut verlaufen ist.“
„Wie meinst du das?“ Sanft zieht er seine Hand weg, grinst und greift nach seinem Glas, ohne davon zu trinken.
„Ich … ich weiß noch immer nicht, was echt ist.“ Ich stelle fest, dass viele der Gäste gegangen zu sein scheinen. Ein ungutes Gefühl keimt in mir auf. Wann ist das geschehen? Und warum hatte ich nichts mitbekommen? Auf einmal kommt mir ein Gedanke: „Wie oft waren wir hier?“, frage ich. Martin sieht mich verdutzt an, und ich fahre fort: „Seit meiner Operation. Wie oft waren wir seitdem hier?“
„David, du machst mir Angst. Weißt du das wirklich nicht?“
„Wie oft?“
„Wir sind jeden Freitag hier.“
„Und das heißt?“
Wieder blickt sich Martin um.
„Was heißt das?“, frage ich noch einmal. „Wie oft?“
„Nun, deine OP ist über ein Jahr her.“
5
„Wie weit ist er?“
„Geben Sie uns noch ein paar Tage“, flüstert Professor Brinkmann zu einer Person, die ich nicht erkennen kann, weil er sie mit seinem Körper verdeckt. Sie stehen neben der Tür des Krankenzimmers.
Ich will etwas sagen, doch noch immer schmerzt mein Hals. Außerdem macht mich so langsam dieses Piepen des EKG irre.
- Deine OP ist über ein Jahr her. - Martins Worte jagen mir einen Schauer über den Rücken.
„Warum dauert es so lange?“, fragt die nicht sichtbare Person.
Brinkmann blickt herüber und ich schließe schnell die Augen. „Er wird verstehen“, sagt er leise. „Nur noch ein paar Tage.“
Jetzt blickt die zweite Person an dem Professor vorbei und ich erkenne Martin. Seine Haare sind länger, viel länger als vorhin in der Kneipe. Vorhin?
- Deine OP ist über ein Jahr her. -
Nichts stimmt hier, durchfährt es mich. Noch immer ist alles genauso wirr, wie vor meiner Operation.
Ich warte, bis die beiden den Raum verlassen haben, dann stütze ich mich auf meine Arme und setze mich hin. Für einen Moment dreht sich der Raum, es rauscht in meinem Kopf, und ich meine wieder, das Piepen des EKG zu hören. Doch ich weiß, dass es nur in meinem Kopf ist. Ist es das?
Ich blicke neben das Bett. Kein Gerät mit endlosen Schnüren, die mit meinem Körper verbunden sind.
Vorsichtig lasse ich die Beine aus dem Bett gleiten. Der Boden ist angenehm warm.
An der Wand unter der abgeschirmten Neonröhre hängt ein Spiegel; darunter ein kleines Waschbecken. Als ich Sekunden später vor dem Waschbecken stehe, sehe ich meine Brust im Spiegel. Warum hängen sie das Ding so tief auf?
Ich bücke mich und starre in das bleiche Gesicht eines Mannes mit Dreitagebart.
Der Verband um meinen Kopf glänzt hell. Ich sehe die Stelle, wo das Ende befestigt ist, greife mit den Fingern danach, und es dauert nicht lange, bis die weiße Stoffschlange vor mir im Waschbecken liegt.
Vorsichtig drehe ich den Kopf; mein Haar sieht strähnig aus, doch sosehr ich meinen Kopf auch drehe, da ist überall Haar. Meine Finger tasten am Hinterkopf und auch dort fühle ich Haare. Nur Haare. Trocken schlucke ich nicht vorhandenen Speichel.
Keine Operation! Sie haben dich definitiv nicht operiert!
- Deine OP ist über ein Jahr her. -
„Warum hast du mich angelogen, Martin?“, frage ich in den Spiegel. Noch einmal drehe ich den Kopf in alle Richtungen. Keine Narbe.
6
Glücklicherweise befanden sich meine Sachen im Schrank des Krankenhauszimmers, so dass ich nicht in diesem erniedrigenden Engelshemdchen meine Flucht antreten musste.
Ich gehe auffällig unauffällig über den Flur und meide den Blickkontakt zu den Schwestern, die meinen Weg kreuzen. Das Bedürfnis zu rennen nimmt mit jedem Schritt zu, doch ich reiße mich zusammen.
Was ist das hier für eine Klinik? Was ist mit meinem Hirntumor? Ich weiß nur soviel, dass ich von hier verschwinden muss.
„Hallo“, zwinkert mir ein entgegenkommender Pfleger zu. Er trägt eine silberne Schüssel mit beiden Händen, die bis zum Rand mit breiigem Kot gefüllt ist. Ich bleibe stehen, als er keine Anstalten unternimmt, mir aus dem Weg zu gehen. Flach atme ich durch den Mund.
„Auch einen Schluck?“ Er hält mir die Schüssel entgegen, während ein Teil der Flüssigkeit über den Rand schwappt und seine Finger umspült.
Ein Würgereiz steigt in mir auf.
„Nun, wer nicht will, der hat schon“, lächelt er, macht einen Schritt zur Seite, und als er hinter meinem Rücken den Flur entlang geht, höre ich ihn schmatzend schlürfen.
Warum haben sie mich nicht operiert? Alles ist so wie zuvor. Visionen!
Ich beschleunige meinen Gang, als ich in weiter Ferne die großen Glastüren des Ausganges sehe.
Die Hostess hinter dem Informationstresen blickt auf. „Wo wollen Sie hin, Herr Riemschneider?“ Es ist die Kellnerin mit dem fehlenden Schneidezahn.
„Wir haben doch noch gar nicht gefickt“, ruft sie mir hinterher, als ich durch die Glastür nach draußen trete.
7
Die Luft riecht seltsam. Ich kann nicht sagen wonach; ein wenig erinnert sie mich an den sterilen Geruch von Martins Zigarette in der Kneipe.
Ich bleibe stehen und starre auf die menschenleeren Straßen vor mir. Dunkle Wolken bedecken den Himmel, der Asphalt zu meinen Füßen ist feucht.
Langsam gehe ich weiter, als helles Kinderlachen um eine Ecke zu mir herüber dringt. Dann ist es wieder still.
Was hast du eigentlich vor?, frage ich mich.
Ich werde mir ein Taxi nehmen und zur nächsten Polizeistation fahren. Ja genau. Und dann wird dieses Krankenhaus, oder was es auch immer sein mochte, gewaltig eins auf den Deckel bekommen.
Ich blicke mich um, doch unabhängig von der Tatsache, dass sich keine Menschenseele hier aufhält, kann ich auch keinerlei Fahrzeuge ausmachen. Kein Taxi, David.
Wieder dringt das Kinderlachen zu mir herüber. Diesmal verstummt es nicht.
Ich mache mich auf den Weg zu der Häuserecke, von wo es kommt, und kurz bevor ich sie erreiche, ist es wieder still. Ich bleibe stehen. Lausche.
Ein mir bekanntes Gefühl überfällt mich. Ich weiß, dass hier etwas nicht stimmt, und dieses Gefühl schreit mich aus meinem Innern heraus an, von hier zu verschwinden.
Vorsichtig blicke ich um die Ecke. Vor mir befindet sich eine breite Gasse, die in einiger Entfernung durch eine hohe Mauer begrenzt wird. Etwa auf halbem Weg stehen fünf Kinder und starren in meine Richtung. Eines von ihnen, ein Junge in kurzen Shorts und Krawatte, hält einen Armstumpf, dessen Finger noch zucken, in den Händen. Ein blondes Mädchen hat sich einen unterhalb der Nase abgetrennten Kopf auf ihr blondes Haar gesetzt, und das Blut tropft stetig von ihren langen Zöpfen auf ihr helles Kleid. Die drei anderen sind ebenfalls mit rot schillernden Tropfen übersät.
Alles wie früher. Warum haben sie mich nicht operiert?
Hinter den Kindern taucht eine weitere Gestalt auf. Ich erkenne in ihr den Pfleger, der mich vorhin auf dem Flur an seinem Mahl hatte teilnehmen lassen wollen.
„Kommen Sie rüber zu uns!“, brüllt er mir entgegen, während seine Augen herausplatzen und sich spinnenähnliche Beine aus den Höhlen bohren, länger werden und kurz darauf den Boden berühren. Der Kopf des Pflegers reißt am Scheitel auseinander und ein waberndes Hirn mit hunderten von winzigen Zähnen schiebt sich durch die Schädeldecke. „Kommen Sie doch endlich herüber!"
Diesmal klingt seine Stimme, als hätte er einen Schwamm im Mund.
Die Kinder fallen auf die Knie und verbeugen sich, als ich ganz um die Ecke trete.
8
„Was ist mit dir, David?“ Diesmal umfasst Martin meine Hand.
Ich öffne die Augen. Mein Blick ist verschleiert. Habe ich geheult?
„Geht es dir nicht gut?“, fragt Martin erneut.
Als sich das Bild vor meinen Augen klärt, erkenne ich, dass die Kneipe wieder voll ist. Mein Hals schmerzt und ich nehme einen großen Schluck aus meinem Glas. Das Bier schmeckt abgestanden.
Ich blicke Martin in die Augen. „Ich wurde nicht operiert.“ Martin zieht seine Hand zurück. Lächelt mich an. „Stimmt’s?“
„Sieh dich um, David. Sieh dich um. Fällt dir denn gar nichts auf?“
Ich sehe die Gäste, die mit gesenktem Blick auf ihre Getränke starren. Einige unterhalten sich leise.
„Nein“, sage ich. „Was soll mir auffallen?“
Martin dreht sich herum. „Hey, ihr Wichser!“
Ich zucke zusammen. Was geht in Martin vor?
„Ihr dummes Gesocks! Arschlöcheeeer!“
Ich erstarre. Blicke auf die Gäste. Nicht einer von ihnen reagiert auf Martins Beleidigungen.
Jetzt umspielt ein breites Grinsen mein Gesicht. „Huuu… The sixth sense! Huuu… Wir sind tot, richtig? Ist es das, was du mir weis machen willst?“
Martin sieht mich an. „Was immer du mir sagen willst, aber wir sind ganz und gar nicht tot. Woran erinnerst du dich, David? Ich meine, woran erinnerst du dich vor deiner Operation?“ Er betont das Wort Operation auffällig.
„Ich hatte Visionen.“
„Etwas genauer bitte.“
„Es gab viele. Seltsame Gerüche. Undefinierbare Geräusche. Wesen, deren Augen heraus fielen.“
„Und du meinst, das waren Visionen?“
Ich sehe Martin an. „Ich war verheiratet“, platzt es aus mir hervor. Warum bin ich nicht früher darauf gekommen? Was war mit Molly, meiner Frau?
„Du warst nie verheiratet, David.“ Martins Stimme klingt ruhig.
Ich erinnere mich an die Situation vor diesem Laden, als Molly versucht hatte, mich mit ihrem Wagen zu überfahren. Damals, als dieser riesige Polizist mich verfolgt hatte.
„Da war dieser Cop“, flüstere ich.
„Du meinst diesen Cop, der dich verfolgt hat? Der dich beinahe erschossen hätte?“
Ich sehe mich durch die Menschenmenge rennen, den Uniformierten hinter mir, der sich schießend einen Weg durch die reaktionslosen Menschen bahnt. Ja, niemand reagierte auf diesen Berserker. Wie hüllenlose Puppen. Genau, wie hier in der Kneipe.
„Ich war der einzige, der ihn gesehen hat“, stelle ich flüsternd fest.
„Du hattest keine Visionen, David. Du warst die Vision.“
Ich schlucke.
„Dein Verstand wollte in die Welt der Minderwertigen abdriften“, fährt Martin fort.
„Der Minderwertigen?“
Martin macht eine Geste mit dem Arm. „Die Welt der Minderwertigen. Menschen, David.“
„Ich verstehe gar nichts mehr.“
„Zwei Welten, David. Nicht mehr lange, aber zurzeit sind es noch zwei Welten.“ Martin lächelt. „Wir stehen kurz vor der großen Schlacht, David. Komm mit nach draußen.“
Wir stehen auf. Die zahnlose Kellnerin sitzt auf einem Barhocker vor dem Tresen, lächelt herüber und spreizt ihre Beine. Ich sehe, dass sie unter ihrem Mini keine Unterwäsche trägt, als Martin mich am Oberarm packt und zur Tür schiebt. „Später“, sagt er.
Noch immer blickt keiner der übrigen Gäste auf. Ich sehe, wie sie anfangen zu flimmern, durchsichtig werden.
„Willkommen zurück!“, grinst Martin breit, als er die Kneipentür aufstößt.
Ein beißender Gestank schlägt mir entgegen, doch als ich hinaustrete, empfinde ich ihn nur noch halb so unerträglich.
Wieder ist der Himmel von einer dicken schwarzen Wolkenschicht gesäumt. Tornadogleich wirbeln sie umher, immer wieder unterbrochen durch gewaltige Explosionen aus gleißendem Licht.
„Er ist zurück!“, brüllt Martin neben mir, und die Menge vor uns fällt auf die Knie.
Es sind Tausende, vielleicht sogar Millionen von Wesen, die den unendlich scheinenden Platz vor uns ausfüllen. Dampfende Krater verteilen ihr Brodem unter die zuckenden Körper, speien giftige Gase in die schwarze Wolkenfront, die jetzt wie schwangere Leiber herabhängt. Ich sehe haarige Spinnenbeine, die aus fleischigen Körpern ragen, Wesen mit mehreren Köpfen auf spindeldürren, meterlangen Hälsen, deren Gesichter ausschließlich aus hunderten von Zähnen bestehen. Einige von ihnen haben menschliche Gestalten, recken die Arme, aus deren Fäusten jetzt hornähnliche Schwerter platzen, gen Himmel. Ganz vorne steht das blonde Mädchen mit den blutigen Zöpfen und dem halben Kopf auf ihrem Haar. Sie verschränkt die Arme vor der Brust und verbeugt sich. Ein einheitlicher Schrei aus tausenden Kehlen wälzt sich zu mir herüber und gibt mir zu erkennen, dass sie bereit sind. Bereit für die endgültige Schlacht.
Jetzt sehe ich Professor Brinkmann, der sich erhebt und auf uns zuschreitet. Seine behaarten Beine enden in blutigen Hufen und aus seiner Schädeldecke hat sich ein gewaltiges Horn geschoben. Seine Augäpfel sind verschwunden, und irgendetwas, das Ähnlichkeit mit einer Zunge hat, zuckt in den leeren Höhlen.
Ich blicke neben mich. Martin steht an meiner Seite und reicht mir gerade mal bis zur Hüfte. Sein Blick ist verklärt auf die Menge gerichtet.
„Der König ist zurück!“, keucht er, nimmt seine Augen heraus und lässt sie neben sich auf den dampfenden Asphalt fallen.
Brinkmann kommt vor mir zum Stehen. „Euer Hut, mein Lord!“
Ich nehme die riesige Polizeimütze entgegen und lächle.
9
Pip … pip … pip …