Niemals geht man so ganz
Schon zum dritten Mal hatte sie dieser Traum aus dem Schlaf gerissen. Sie hatte ihn gesehen!
IHN, mit dem sie hatte alt werden wollen und der sie vor genau zwei Jahren einfach verließ. Ganz klar war das Bild gewesen. Sie hatte seine Augen gesehen. Diese braunen Augen, aus denen in glücklichen Momenten ein Funken Gold zu sprühen schien. Seine Stupsnase, die ihn aussehen ließ wie ein zu groß geratenes Kind, seine vollen Lippen, die immer wie geschminkt gewirkt hatten.
Er hatte sie verlassen. Ohne Vorwarnung! Er hatte sie einfach in ihre eigene Zukunft gestoßen. Ohne Rücksicht! Es gab kein „wir“ mehr. Simone seufzte.
Wie sehr hatte sie diesen Mann geliebt, der ihr so viel zu geben wusste – und wie sehr hasste sie ihn seit diesem Tag vor zwei Jahren, an dem er sie allein ließ.
„Warum“, fragte sie sich, „kehrt er jetzt zurück? Warum verseucht er meine Träume?“
Sie wollte ihn vergessen, ihn aus ihrem Leben und ihren Gedanken verbannen, nicht um die verlorene Liebe trauern, sondern neu beginnen. Zu sehr schmerzte die Erinnerung an die gemeinsam verbrachten glücklichen Jahre. Zu groß war der Verlust. Und nun brachte er sich unaufgefordert in Erinnerung, drängte in ihr Leben zurück.
Er rief nach ihr. Sie konnte deutlich ihren Namen hören. „Simone, ich friere. Komm her und wärme mich!“ In jedem ihrer Träume hatte er sie zu sich gerufen. Jedesmal schauderte Simone, nur um kurz darauf aufzuwachen und atemlos dem Pochen ihres rasenden Herzens zu lauschen. „Verschwinde endlich aus meinem Leben“, dachte sie dann und fühlte sich doch ganz einfach nur hilflos.
Das Grab ist von wilden Pflanzen überwuchert. Niemand scheint sich jemals um seine Pflege gekümmert zu haben. Ein schlichtes Holzkreuz erinnert an den Namen des hier Ruhenden. Vor dem Grab kniet eine Frau, verzweifelt darum bemüht, das Unkraut von zwei Jahren zu entfernen. „Du hast mich gerufen. Hier bin ich!“ sagt Simone laut – und Tränen laufen über ihre Wangen.