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Nightly Impressions
Ich drehe mich um, öffne die Tür und trete in die Nacht. Es muss geregnet haben, denn die Straße glänzt im Mondschein. Der Asphalt ist schwarz wie meine Haare und verschmilzt mit der nächtlichen Umgebung zu einer homogenen Masse. Die Stille trägt ihren Teil dazu bei, das Gefühl der Einsamkeit, das in mir keimt, zu verstärken. Das perfekt melancholische Bild wird nur vom Schein des Mondes und dem leisen Rauschen der sich im Wind bewegenden Baumwipfel unterbrochen, oder doch verstärkt? In solch einer Nacht wird die Zeit unwichtig, doch trotzdem müsste ich langsam nach Hause gehen, weshalb sich meine Beine auch in Bewegung setzten und die Treppe hinabsteigen. Die Straße entlanggehend bemerke ich meine Umwelt kaum noch und es ist mir gerade recht, also schließe ich die Augen und gehe von nun an blind weiter. Es macht auch keinen großen Unterschied, denn die Welt mit offenen Augen ist unmerklich heller und einladender als die Welt mit geschlossenen Augen. Immer mehr Geräusche der Finsternis drängen in mein Ohr: Dort ein Rascheln, hier eine leise Bewegung. Unbeirrt gehe ich geradeaus weiter, öffne langsam meine Augen wieder und neige meinen Kopf gen Himmel. Der ist so klar, dass ich jeden einzelnen Strahl eines Sternes sehen kann und jedes noch so kleines Flackern einer sterbenden Sonne. Die nächste U-Bahn Station ist nur noch wenige Atemzüge weit entfernt und deshalb genieße ich noch die letzen Augenblicke meiner Einsamkeit. Ich schließe die Augen noch einmal und konzentriere mich auf die Geräusche, die ich verursache. Ich höre das Leder meiner Schuhe, das sich bei jedem Schritt stöhnend zusammenzieht und wieder glättet. Ich höre das Wasser unter meinen Sohlen, das bei jedem Kontakt ein minimales Plätschern erzeugt. Ich höre die Falten meines Mantels, die bei jeder Bewegung aneinander reiben, und den entsprechenden Ton erklingen lassen. Ein weit entferntes Brummen mischt sich unter die Klänge meiner selbst, zögerlich öffne ich die Augenlieder und sehe gerade noch rechtzeitig wie mir ein Auto entgegen kommt. Der Fahrer spielt wie verrückt am Lichtschalter rum, will mich wahrscheinlich warnen. Nur hatte ich die Augen geschlossen…doch jetzt sind sie wieder aktiv und deswegen kann ich noch einen Schritt nach links wagen, das Auto kann rechts an mir vorbeifahren und ich kann weitergehen. Die Nacht will mich anscheinend noch nicht gehen lassen, sie klammert sich noch an meiner Präsenz. Das Leuchtschild des U-Bahn Eingangs taucht über meinem Kopf auf und die Treppen nach unten tauchen vor meinen Füßen auf. Was bleibt mir anderes übrig als hinabzusteigen?
Das Neonlicht des Abteils blendet meine Augen, ungewohnt wie sie sind. Mit der Zeit klärt sich mein Blickfeld und ich kann meine neue Umwelt erkunden. Die Wände sind mit Graffiti beschmiert, der Boden nass und die Fenster trübe. Der monotone Laut der Fahrenden Bahn und das Kichern der Jugendlichen hinter mir passen interessanterweise rhythmisch zusammen. Die alte Frau – eine Bank neben mir sitzend – dirigiert das ganze mit ihrem Kopfnicken. Aus den Ohren des jungen Mannes vor mir schallt halbleise Musik und stellt somit den melodischen Teil der Oper im Abteil dar. Ich bin die Hauptperson und meine Partnerin sitzt mir gegenüber. Die Augen tief in einem Buch vergraben, zieht sie meine Blicke auf sich. Ihre braunen, schulterlangen Haare rahmen ihr rundes, zartes Gesicht ein. Die Brille und der Lippenstift krönen die Komposition ihrer Gestalt. Erwartungsvoll liest sie ihren Roman, sie erwartet eine Arie von mir, erwartet – da bin ich mir sicher – einen Ton von mir. Sie wartet auf ein Signal meinerseits, um ihren Einsatz nicht zu verpassen. Nervös fassen die lieblichen Finger an die rechte, untere Ecke der soeben fertig gelesenen Seite und blättern um. Die grünen Augen wandern an die linke, obere Ecke der neuen Seite und beginnen ihre Wanderung von vorne. Ich öffne meinen Mund, das Ansingen im Sinn, doch meine Stimme versagt mir. Meine Augen nicht, also begnüge ich mich mit dem Anblick und vergesse meinen Einsatz. Das Ansehen ihrer Gestalt reicht mir als Befriedigung. Doch was würden meine Hände für eine Berührung geben, was würde meine Nase für den süßen Geruch geben, was würden meine Lippen für einen Kuss geben. Und was würde meine Stimme für ein Gespräch geben. Aber sie klappt ihr Buch zusammen, blickt auf, und mir direkt in die Augen. Ich will meinen Blick senken, doch die Pupillen hängen an Ihrer Iris wie angenäht. Anscheinend empfindet sie nicht das gleiche bei meinem Anblick, wie ich bei ihrem. Nur so kann ich mir erklären, dass sie nun hektisch den Kopf zur Seite wirft und leer aus dem Fenster schaut. Die U-Bahn bremst ab und meine Partnerin erhebt sich, stellt sich vor die Tür und wartet auf das Geräusch, das die Türen beim Öffnen von sich geben. Ich schließe ein weiteres Mal meine Augen und warte wiederum auf das Geräusch, das die Türen beim Schließen von sich geben. Aber ich kann meine Lieder nicht zurückhalte, und so öffnen sich die Augen wieder. Ich sehe das Gesicht meiner schönen Unbekannten, welches auf meines gerichtet ist. Ihre Lippen formen ein Lächeln und dann macht sie den Mund auf und stimmt den ersten Ton unserer Begegnung an: „Die Nacht sucht dich. Geh hinaus und lasse dich finden“. Sie steigt aus, die Türen schließen hinter ihr.
Ich trete in die Nacht. Es regnet, denn die Tropfen treffen auf meine Nase. Und wieder ist alles Dunkel, und wieder ist der Mond das einzige Licht. Ich gehe die letzten Schritte zu meiner Wohnung mit geöffneten Augen und geöffnetem Herz.