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Noch einmal für Peter: Meditation über eine Mandarine
Am Vormittag des 25. November 2025, gegen elf Uhr, saß der Meditierende im Außenbereich eines Cafés an einem kleinen Tisch, auf dem nur eine Mandarine lag, rund, leicht abgeflacht. Er nahm die Mandarine vorsichtig in die Hand. Das erste, was ihm auffiel, war das Gewicht, das geringere, und gleich darauf das Geräusch, das erst hörbar wurde, als er die Kugel drehte, sehr langsam, über den Tisch hinweg, in der hohlen Hand. Die Schale, noch unversehrt, ganz unangerührt, schimmerte allgemein orange, mit jenen helleren Punkten, die sich unter einem seitlichen Licht wie winzige Fensterchen öffneten, während andere, dunklere Stellen, eher Poren, das Licht nicht annahmen, sondern weich verschluckten.
Als er schließlich mit dem Daumennagel die Schale an ihrer weichen, leicht vertieften Stelle oberhalb des Pols anrührte, gab sie sogleich nach und darauf entließ die Frucht jenes von innen kommende Aufleuchten, das Zitrusfrüchte in sich tragen, ein leises Nachgeben der Schale, das sich in einem schmalen, halbmondförmigen Stück am Daumen zeigte. Der Geruch, kaum mehr als ein erster Hauch, war weniger süß als herb-frisch, ein unscheinbares Aufglimmen irgendwo in der Nase.
Mit jeder weiteren gelösten Schalenpartie trat die Frucht darunter hervor, schwach glänzend, segmentiert durch die weißen Fäden, ie sich wie dünne Stützlinien über die Oberfläche zogen. Das Ablösen ging unweigerlich in eine kleine Zeremonie über: Jedes Stück, das sich löste, entfaltete zugleich seine Rückseite, die stets heller war, fast schon kalkfarben, und in einem feinen Bogen nachgab.
Die Mandarine lag nun halb enthüllt vor dem Meditierenden und er sah die einzelnen Spalten, eng gedrängt, dennoch leicht voneinander abrückten. Dann nahm er eine der Spalten zwischen Daumen und Zeigefinger, vorsichtig, um sie nicht zu verletzen (und doch war sie ja längst schon dafür geschaffen, sich teilen zu lassen), und aß zum ersten Mal seit langer Zeit wieder eine solche Frucht. Als er das Stück aß, zerplatzte die erste Saftkugel fast lautlos. Eine feine Süße, zugleich herb, zugleich wässrig, erfüllte den Mund und ließ ihn an einen längst vergangenen Morgen in einem süditalienischen Hafen denken, an dem er ähnliche Tropfen auf der Zunge gespürt hatte, dort aber mit Meersalz vermischt, das vom Wind an die Lippen geweht worden war. Der Geschmack zog sich nun, sachte, entlang der Zunge zurück, bis in jene schmale Rille hinter den Eckzähnen, wo Süße am längsten haftet.
Schließlich aß er die Mandarine ganz, Spalte für Spalte, und bemerkte dabei, wie die Frucht einerseits weniger wurde, während der Geschmack und der Geruch noch eine Weile in Mund und Nase anhielten. Draußen, auf der Straße, begann es Mittag zu werden. Ein leichter Wind ging, und irgendwo im Innenhof des Cafés raschelte ein Blatt. Die Finger des Reisenden dufteten nun nach jener kleinen, jetzt unscheinbaren Frucht und eine Weile noch hob er die Hand an die Nase, um zu prüfen, der Geruch noch immer an den Fingern haftete.
Noch Stunden später, irgendwo in der Stadt roch er den Duft der Mandarine, unverfälscht, fast so, als läge sie noch vor ihm auf dem Tisch.