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November
„Warum ist in deinen Geschichten eigentlich so oft November?“, quetschte Sarah fast unverständlich an einem Bissen der unvermeidlichen es-ist-Erkältungszeit-und-ich-brauche-die-Vitamine-Kiwi vorbei. Jeden Tag mindestens eine Kiwi, daneben Tee mit Apfelsaft, um sich die Sommerfigur nicht allzu sehr zu ruinieren.
Sarah achtete sehr auf ihre Figur, auch wenn man es ihr nicht ansah. Ihr Hintern war immer etwas zu rund, der Bauch zu wunderbar kuschelig, um flach zu sein. Wenn sie vor mir mit wenigstens sieben Zentimeter Hüftschwungauslage auf jeder Seite die Treppe hinauf schwebte, konnte ich die kleinen Dellen der Orangenhaut an Po und Schenkeln erkennen, weil sie gern enge Hosen mit wenig genug darunter trug. Die schweren, hängenden Brüste drängten sich, tagsüber im Minimizer fest verpackt, gegen jedes Oberteil und machten eine sehr spannende Angelegenheit aus so mancher Knopfreihe.
Aber sie gefiel sich so. Und mir auch.
Warum also November?
„Ich weiß nicht …“, antwortete ich gedehnt, überlegte aber weiter. Auch auf dem Weg zur Arbeit ließ mich der Gedanke nicht in Ruhe.
Was faszinierte mich so an diesem grauen, meist regnerischen und kalten Monat, der so gar nicht zu romantischen Geschichten zu passen scheint? War es die Melancholie des Vergehenden, die schwarzen Baumskelette, die ihre nun kahlen Finger in den grauen Himmel reckten? Oder die gruselige Stimmung, die die frühe Dunkelheit mit sich brachte?
Grübelnd ging ich den Fußweg entlang.
Der Omnibus, der schliddernd im Schneematsch der ersten Februartage neben mir zum stehen kam, riss mich äußerst unsanft aus meinen Gedanken. Der schöne Wollmantel, den Sarah mir zu Weihnachten geschenkt hatte, war von oben bis unten mit einer Mischung von Wasser, Streusalz, Sand und Splitt bespritzt, die Handschuhe klatschnass. Fluchend versuchte ich, schnell genug an die Fahrerkabine zu kommen, um mich zu beschweren, doch der Fahrer hatte den einzigen Aussteigenden an der sonst leeren Haltestelle abgesetzt und trat hart aufs Gaspedal.
Der ältere Herr mit der zuckerwatteweißen Haarwolke unter der dunklen Schiebermütze, der gerade aus dem Bus geklettert war, schien weder mich noch meine Wut wahrzunehmen. Er ging wie auf Wolken durch den ungemütlichen Tag und strafte all die missmutigen Gesichter in der Ladenstraße Lügen.
Zufällig hatte er denselben Weg. Er sah fröhlich lächelnd in die schon die ersten Ostergeschenke anpreisenden Schaufenster und setzte sich dann in ein Café, dessen Eingang direkt neben dem Geschäft lag, in dem ich arbeitete. Tag für Tag, acht Stunden, mal früh begonnen, mal erst am Vormittag, aber immer gleichförmig. Einen Kunden nach dem anderen beraten, lächeln, freundlich sein. Ich ließ mich nie hinreißen, und wenn die Kunden noch so genervt auf mich einhackten. Nur in meinen Geschichten oder bei Sarah zuhause konnte ich der allgegenwärtigen Notwendigkeit entfliehen.
Zuhause … die Nestwärme, die Sarah mit all ihren kleinen Extravaganzen verbreitete, begleitete mich den ganzen Tag, gerade in dieser sonst so eisigen Zeit. Manchmal kam sie einfach so auf die Idee, Winter zu spielen. Auch wenn es mitten im Sommer war. Dann schloss sie die Rollläden, kochte Tee, stellte einen Plätzchenteller auf den von Kerzen erleuchteten Tisch und wollte unter der warmen Wolldecke mit mir kuscheln.
Manchmal bat sie mich dann, ihr eine meiner Geschichten vorzulesen und sah mich dabei mit staunenden, runden Kinderaugen an. „Woher nimmst du nur all diese Ideen?“, fragte sie dann meist, worauf ich nur mit einem Schulterzucken antworten konnte. Meine Geschichten waren ebenso warme Zuflucht wie ihr weicher Körper. Ich schrieb, um Geschehnisse des Tages zu verarbeiten ebenso, wie um Ideen zu verfolgen, die mir in den kuscheligen Stunden mit ihr kamen.
„Aber jetzt ist keine Zeit für Träume“, rief ich mich selbst zur Ordnung und lächelte den nächsten Kunden geschäftsmäßig an.
Als meine Schicht vorüber war, saß er nicht mehr dort. Es hätte mich auch gewundert, aber gucken musste ich doch.
Wieder zuhause erzählte ich Sarah von ihm. Ich weiß nicht einmal, warum mich der Fremde so faszinierte und sie schien ebenfalls einigermaßen verwundert darüber, dass mich eine einzige Person so beeindrucken konnte, ohne wirklich etwas getan zu haben.
Wir sahen uns noch, dicht aneinandergekuschelt, den Krimi im Fernsehen an, auf den ich mich schon tagelang gefreut hatte, doch seltsamerweise schweiften meine Gedanken immer wieder ab. Ich war sauer, dass er mich nicht bemerkt hatte. Ärgerlich darüber, dass er meiner Misere keine Beachtung geschenkt hatte. Und, so gestand ich mir schließlich ein, ein wenig traurig, dass er auf meinem Weg nach Haus nicht wieder vor mir her getänzelt war.
Mein Bett schien kalt und abweisend zu sein, bis sich Sarah nackt an mich kuschelte und mich an ihrer Wärme teilhaben ließ.
Vor mir lag eine völlig gerade Straße. Keine asphaltierte, auf der Autos fuhren, sondern eher ein fester Feldweg. Es war schneidend kalt, der scharfe Wind zauste die Pappeln, deren silbrige Blätter sich fallend mit den ersten Schneeflocken mischten. Ich wusste, dass es November war und setzte mich wie aufgezogen in Bewegung. Ein hübsches, rundlich wirkendes Haus tauchte, eng an einen kleinen Hügel gelehnt, vor mir auf. Es schien sich vor dem Wind zu ducken, das kuschelige Reetdach mützengleich tief in die Fenster gezogen und von innen die Kälte vor der Tür mit warmem Licht konternd.
Das Haus lockte mich, ließ meinen Schritt stocken. Doch ich ging schweren Herzens vorbei, weil ich es irgendwie musste.
Einige Schritte später fand ich mich an einem kahlen Baum wieder, der seine knorrigen, leeren Äste anklagend Richtung Himmel streckte. Zwischen zwei größeren Ästen hatten Vögel genistet, die Löcher waren noch zu sehen. Sie glichen zwei Augen über einer Nase aus Rinde und einem dicken Moosbart. Darüber hatte der Baum eine weiße, seltsam wattig wirkende Mütze aus Schnee auf, obwohl sich auf den Feldern ringsum erst ein paar wenige weiße Flecken zeigten. Ich setzte mich völlig erschöpft unter den Baum, der meine Körperwärme in sich aufzusaugen schien. Der Stamm gab meinem schmerzenden Rücken Halt, doch die aufeinander knarrenden Zweige ließen die ganze Szenerie noch unheimlicher wirken. Es klang, als würde sich der Baum die Hände danach reiben, mich ganz in sich aufzunehmen.
Meine plötzlich bleischweren Lider sackten über die kältestarren Augen. Die blau gefrorenen Hände und Füße hatte ich dicht an mich gezogen, der Jackenkragen … warum bemerkte ich jetzt erst, dass ich eine Jacke trug? Eine dicke, warme, weiche Winterdaunenjacke, deren Kragen meine Ohren schützte.
Handschuhe umschlossen meine eisigen Finger, die Füße steckten mit dicken Wollsocken in den Schuhen. Wohlige Wärme strömte durch meinen Körper, gerade so als säße ich nicht mitten auf dem eisigen Feld sondern am Kaminfeuer, eine Tasse mit Glühwein in der Hand. Am Kaminfeuer des kleinen, rundlichen Hauses. Sarahs Gesicht schwebte mit der völligen Natürlichkeit des Traumes durch die Luft auf mich zu und gab mir einen Kuss auf die Nasenspitze. Sie war wunderschön, das goldene Licht umfloss sie wie Wasser, in dem sich ihr langes Haar schlingpflanzengleich bewegte. Doch plötzlich entfernte sie sich, wie an einem Band gezogen, ihr Mund schrie stumm. Wärme und Geborgenheit flohen mit ihr. „Das wird wohl das Delirium vor dem Erfrieren gewesen sein“, kam mir noch in den Sinn, dann nichts mehr.
Der Traum verblich. Mein linker großer Zeh sah unter der Bettdecke hervor, Sarah war gerade aufgestanden und machte Kaffee. Sie hatte den bloßen Zeh angepustet, um mich zu wecken, damit wir noch gemeinsam frühstücken könnten, ehe sie zur Arbeit ging.
Ab und zu sah ich ihn auf dem Weg in die Stadt. Er stieg an derselben Bushaltestelle aus, tänzelte genau so durch die Straßen – und mein Traum wiederholte sich in der Nacht. Eine exakte Kopie. Nicht einen Deut mehr, aber auch nicht einen weniger. Und so ging es mir immer mal wieder in den nächsten Wochen und Monaten, in denen ich einen noch viel dringenderen Bedarf nach Sarahs umfassender Wärme entwickelte als vorher. Derselbe Mann, derselbe Traum. Mal lagen nur Tage dazwischen, meistens aber Wochen, ab und zu sogar ein Monat. Selbst im Sommer trug er Schiebermütze, selbst im Sommer träumte mir von eisiger Kälte.
Es dauerte lange, ehe ich auch nur über eine Verbindung des Treffens mit dem Traum nachdachte. Und als mir der Gedanke kam, hielt ich mich für lächerlich.
Erst als ich mir diese Geschichte endlich von der Seele schrieb, stellte ich fest, dass das Gesicht des Baumes und das seine sich immer mehr ähnelten. Schließlich hätte ich schwören können, dass der Mann mich in Gestalt des Baumes in meinem Traum heimsuchte und meine Wärme haben wollte. Er war immer fröhlich, wenn ich ihn sah, weil er jedes Mal ein wenig mehr davon bekam.
Mein Glück war, dass Sarah mich immer wieder in den Arm nahm, wenn ich aufwachte, und mich in die reale Welt zurückholte. „Es ist nur ein Traum! Der Baum kann dir doch nichts anhaben“, sagte sie dann oft, und wiegte mich wie ein Baby in ihrer kuschelig weichen Umarmung.
Es war wieder November geworden, die Welt kalt und grau und leer. Kindernasen drückten sich an den ersten weihnachtlich geschmückten Fenstern platt, die Menschen hetzten nach wie vor durch die Straßen, während ich frierend zur Arbeit ging. Und doch war ich glücklich, denn nachdem ich die Geschichte aufgeschrieben hatte, sah ich ihn nicht wieder. Auch der Traum blieb aus. Zwei Monate schon.
Ich war guten Mutes, die Erinnerung gebannt zu haben, als er an einem schneeig graukalten Tag doch wieder an der gewohnten Haltestelle aus dem Bus stieg. Ich haderte lange mit mir, fasste mir dann aber doch endlich ein Herz und folgte dem Fremden, der mir doch mittlerweile fast bekannt war, in das kleine Café. Ich setzte mich an den Tisch hinter seinem, bestellte einen Kaffee und beobachtete ihn. Er schien nichts zu wollen, blickte nur wartend um sich herum und streifte mich mit einem knappen Blick aus den Winkeln winterblauer Augen. Das Fräulein bemerkte ihn nicht, als sie mir den Kaffee brachte.
Langsam stand ich auf und trat an seinen Tisch. Er sah mich an und sagte kein Wort, auch dann nicht, als ich mich zu ihm setzte, meine Tasse Kaffee wie einen Schutzschild in der Hand. Ich räusperte mich, plötzlich befangen, bat um sein Gehör und erzählte ihm meinen Traum.
Ich weiß nicht, was ich erwartet, vielleicht sogar befürchtet hatte, aber ich war doch erleichtert, als er kopfschüttelnd das Café verließ. Nur der Luftzug der sich schließenden Tür wischte eisig über meine Ohren und trug Worte mit sich. „Fürchte dich vor Herrn November“, raunte es mir zu wie Wind, der trockene Zweige aneinander reibt.