Was ist neu

Novemberregen

Mitglied
Beitritt
13.08.2005
Beiträge
117
Zuletzt bearbeitet:

Novemberregen

Novemberregen - revis(it)ed

"Sie ist tot", sagte der Arzt, trat ein paar Schritte zurück und nestelte verlegen an seinem Klemmbrett herum.

Klaus Unger sackte auf seinem Stuhl zusammen. Der Polizist, der gekommen war, um die Begleitumstände des Unfalls aufzunehmen, hüstelte befangen. Obwohl beide schon seit Jahren ihren Dienst versahen, gingen ihnen Fälle wie dieser immer noch nah. Einem Mann mitzuteilen, dass seine Frau, noch dazu eine werdende Mutter, bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, bei einem Unfall, den dieser verursacht hatte, brannte ihnen die ganze Absurdität des Daseins schmerzlich ins Bewußtsein.

Der Novemberabend war kalt gewesen. Der frisch einsetzende Regen hatte heftig gegen die Windschutzscheibe geprasselt, die Scheibenwischer vermochten kaum, die flutenden Wassermassen aus seinem Sichtfeld zu verbannen, die die Straße innerhalb weniger Minuten in einen unwirklichen Großstadtkanal verwandelten.

Ulrike hatte ihn lächelnd angesehen. Im Wagen war es angenehm warm. Das schlürfende Geräusch der Räder, die das Wasser gegen den Wagenboden schleuderten und das monotone Brummen des Motors verströmten Gemütlichkeit. Sie befanden sich auf dem Rückweg von einem kleinen Programmkino, in dem sie sich einen alten, romantischen Liebesfilm angesehen hatten. Während des Films begriff er sein Glück, mit Ulrike zusammenleben zu dürfen. Nun - im Wagen - lenkten ihn die Gedanken an diesen Film, an diesen Hauch von Glück ab und er entdeckte zu spät das unbeleuchtete Fahrrad vor sich. Sein rechter Fuß trat das Bremspedal durch, der Wagen kam ins Schleudern, drehte sich auf der nassen Fahrbahn einige Male und prallte schließlich mit der Beifahrerseite an einen Laternenpfahl. Als Klaus sich umblickte, sah er Ulrikes Kopf, der am zersplitterten Glas der Beifahrerscheibe lehnte. Ihr Arm war zwischen Tür und Sitz eingeklemmt. Sie blutete stark. In ihrem Blick spiegelte sich Hoffnungslosigkeit.

Als er merkte, dass er selbst sie nicht befreien konnte, stieg er hinaus in den Regen und wankte zu einer nahegelegenen Wirtschaft, um von dort aus die Feuerwehr und einen Krankenwagen zu rufen. Hilflos mußte er zusehen, wie die Männer zunächst mit einem Brecheisen, dann mit einem Schneidbrenner versuchten, Ulrike zu befreien. Sie war ohnmächtig geworden, blutete jedoch noch immer stark. Benommen erlebte er die Eile, mit der die Sanitäter sie schließlich aus dem Wagen hoben, auf einer Bahre in den Rettungswagen schoben und mit ihnen zusammen unter lautem Geheul der Martinshörner zum Krankenhaus fuhren.

Jetzt, zwei Stunden später, saß er hier im übermäßig geheizten Besucherzimmer, in dem es dumpf nach nasser Kleidung und Desinfektionsmitteln roch. Das kalte Licht der Neonleuchten machten die graugrünen Wände des Raumes noch unerträglicher für ihn.

Ulrike war seine zweite Frau gewesen. Er hatte sich von Heike getrennt, deren bodenloser Narzißmus ihn auf die Dauer in die Verzweiflung getrieben hatte. Mit ihr mußte er sich auch von seinen beiden Mädchen verabschieden. Ulrike war ihm wie ein neuer Anfang erschienen, eine neue Hoffnung auf Glück, und das gemeinsame Baby, das sie im Bauch trug, war dessen zartes Unterpfand.

Es war alles gesagt. Als der Polizist ihm zu verstehen gab, dass er keine weiteren Fragen habe, stand Klaus mühsam auf und zog sich seinen Mantel an. Mit einem kraftlosen Händedruck verabschiedete er sich von den beiden, ohne ihnen ins Gesicht sehen zu können. Einen Augenblick blieb er zögernd in der gläsernen Schiebetür stehen, die sich mit einem leisen Summen automatisch vor ihm geöffnet hatte. Es regnete noch immer. Was konnte ihm der Regen anhaben, jetzt, da der ihm seine Frau entrissen hatte.

Er schlug seinen Mantelkragen hoch, zog den Kopf ein und schlurfte los, ohne den Pfützen und Rinnsalen, die seinen Weg kreuzten, weitere Beachtung zu schenken. Ihm war kalt. Aber es zog ihn nichts nach Hause. Alles an dieser Wohnung würde ihn an Ulrike erinnern: die Möbel, die sie gemeinsam aus dem Katalog ausgesucht hatten und deren Raten noch lange nicht abbezahlt waren; die Küche, die sie ganz nach ihren eigenen Bedürfnissen eingerichtet hatte und in der er sich nur schwer zurechtfand; das Schlafzimmer, in dem ihn das nun überflüssige Doppelbett mit jeder Nacht neu an jenen grausamen Unfall würde zurückdenken lassen; und über alldem hinge ihr Parfüm, der süßliche Duft nach Vanille und Zimt, der ihn vom ersten Augenblick an für sie eingenommen hatte, weil er ihn an seine Kindheit erinnerte, sein Herz öffnete und zum Träumen brachte. Jetzt war sie tot.

Er ging an einem beleuchteten Kiosk vorbei. Gedankenverloren blieb er einen Moment lang stehen. Er hatte nie getrunken, doch jetzt sehnte er sich nach einem alles betäubenden Rausch. Auch hatte er vor Jahren, der Kinder wegen, zu rauchen aufgehört. Gab es nun noch einen Grund, seine Lungen zu schonen? Mit einer Batterie Taschenflaschen und zwei Schachteln Gauloises verließ er den Stand.

Vor einem Buchladen blieb er stehen, um den Schraubverschluß der ersten Flasche zu öffnen und sie mit gierigen Schlucken zu leeren. Zunächst spürte er nichts, dann fingen Mund und Speiseröhre plötzlich an, wütend zu brennen. Er hustete und schleuderte die leere Flasche hinter sich auf die Straße. Auf einem Ständer im Inneren des geschlossenen Ladens sah er einige Bände von Richard Brautigan. So hatte er Ulrike kennengelernt, sie saß in einem Café, mit einem Band Kurzgeschichten Brautigans in der Hand. Er hatte sie angesprochen, was er normalerweise nie tat. Er liebte diesen Autoren. Sie waren ins Gespräch gekommen, hatten den Tag gemeinsam verbracht und sich schließlich für den nächsten Abend verabredet.

Er öffnete das erste Päckchen Zigaretten, zog eine heraus und steckte sie nachdenklich zwischen die Lippen. Erst jetzt fiel ihm ein, er hatte kein Feuer bei sich. Er überlegte kurz, ob er zum Kiosk zurückgehen solle, doch hatte der Regen das Zigarettenpapier bereits durchweicht und er wurde sich der Nutzlosigkeit seines Handelns bewußt.

Im Schaufenster eines Spielzeuggeschäftes lagen Pistolen herum.
Er hatte Gewalt immer verabscheut und sich geweigert, seinen Töchtern solche Spielzeugwaffen zu kaufen, als diese in das Alter kamen, um mit anderen Kindern Cowboy und Indianer zu spielen. Heike hatte das nicht gehindert, die Kinder mit solchen Waffen zu beschenken und sie so für sich einzunehmen. Heike.

Neben dem Spielzeugladen befand sich ein Reisebüro. Wenn er nun für eine Weile fortführe, die Wohnung und die Erinnerungen hinter sich ließe, bis sein Schmerz sich ein wenig gelegt, bis er Kraft genug hätte, all dem erneut zu begegnen? Die Plakate zeigten exotische Reiseziele, Bilder voll strahlender Sonne, lachender Gesichter. Die Preise in der Nachsaison hielten sich in Grenzen, aber da waren die Ratenzahlungen und die Alimente für seine beiden Kinder. Auch würde er sich im Büro nicht so kurzfristig Urlaub nehmen können, nicht bei dieser Wirtschaftslage.

Mit einer vagen Hoffnung suchte er die nächstgelegene Filiale seiner Bank auf, um seinen Kontostand zu überprüfen und ein wenig Geld für ein Hotelzimmer zu besorgen. Er wollte in dieser Nacht um keinen Preis in die leere Wohnung zurück. Mit seiner Karte öffnete er die Tür zum erleuchteten Vorraum der Bank, wo die verschiedenen Automaten standen. Er führte seine Karte ein und wartete auf den Kontoauszug. Das kleine Minus hinter den Zahlen machte ihn darauf aufmerksam, dass sein Konto im Soll stand. Sein Dispositionskredit war jedoch noch nicht völlig ausgereizt. So zog er sich aufs Geratewohl ein paar hundert Euro. Resigniert ließ er seinen Blick durch die dunkle Bank gleiten. Wieviel Geld hier herumlag. Er selbst dagegen mußte ständig haushalten, um wenigstens für das Nötigste zu sorgen.

Leergesogen von den Ereignissen des Tages betrat er ein billiges Hotel. Er machte keinen Versuch, sich in das durchhängende Bett zu legen. Vom mürrischen Empfangschef, der ihn ob seines fehlenden Gepäcks und der durchweichten Kleidung mißtrauisch beäugte, hatte er ein Heftchen Streichhölzer bekommen. Nun saß er am Tisch, hatte seine Alkoholfläschen vor sich aufgereiht, rauchte ohne Unterbrechung und starrte dabei aus dem Fenster, an dem die Regentropfen langsam herunterrannen. Vor sich sah er die Lichter der Stadt, die weiterlebte, als sei nichts geschehen.

Er zappte durch die Programme des Fernsehers, ohne dass ihn eine Sendung länger zu fesseln vermochte. Schließlich landete er bei einer Folge von „XY ungelöst“. Er sah Bilder aus einer Überwachungskamera, wie er sie gerade selbst in der Filiale der Bank bemerkt hatte. Die Räuber, von denen der Moderator berichtete, waren mit etlichen hunderttausend Euro verschwunden. Klaus lächelte matt. Er schaltete das Gerät wieder aus und öffnete eine neue Flasche. Irgendwann fiel ihm der Kopf auf die Tischplatte und er fand einen unruhigen Schlaf, in dem er wieder und wieder jenen Unfall nacherlebte, der ihn des Bodens der eigenen Existenz beraubt hatte.

Ohne zu frühstücken, verließ er am nächsten Morgen das Hotel. Kurz dachte er daran, ins Büro zu gehen, doch als er sein übernächtigtes Spiegelbild im Schaufenster eines Schmuckgeschäftes sah, nahm er davon Abstand. Er wollte weg aus dieser Stadt, wollte mit niemandem reden, niemanden sehen, der ihn oder Ulrike kannte, keine gutgemeinten Fragen beantworten müssen.

In einem Zigarettenladen ließ er sich ein Lottoschein geben, doch beim Ankreuzen der Zahlen wurde er sich der Unsinnigkeit dieses Unterfangens bewußt und er zerriß das Los. Wieder kam er in jene Straßen, durch die er am Abend zuvor gestreift war. Vor dem Spielzeugladen blieb er in Gedanken versunken stehen. Er ging hinein und ließ sich das Sortiment an Spielzeugpistolen zeigen. Einigen von ihnen sah man das billige Plastik, aus dem sie hergestellt waren, deutlich an. Andere wirkten echter. Er ließ sich eine kleine Glock S1-Imitation einpacken. Er wollte weg aus dieser Stadt; sein Leben hier hatte mit Ulrike seinen Sinn verloren. Gleichzeitig dachte er an seine beiden Töchter. Sie sollten nicht unter seinem Abtauchen leiden müssen, sie konnten ja nichts dafür, das alles so gekommen war.

Er ging in ein Kaufhaus, noch immer nicht sicher, ob er in der Lage wäre, seinen vagen Plan umzusetzen. Die Pistole hatte er in die Innentasche seines Mantels gesteckt, er spürte ihren Druck an seiner Brust und fragte sich, ob die Beule im Mantel den Menschen, an denen er vorüberging, auffiele. Doch niemand sah ihn in dem geschäftigen Treiben an, welches hier herrschte. Er orientierte sich an einem der Hinweisschilder und bestieg die Rolltreppe, die langsam nach oben in die Sportabteilung ruckelte. Eine freundliche Verkäuferin zeigte ihm die Skimützen und erklärte ihm Material und Besonderheiten. Er nahm die billigste, dazu eine der Sporttaschen, die sich neben der Kasse türmten.

Wieder auf der Straße, mußte er sich einen Augenblick auf eine der regennassen Bänke setzen, so schwindelig war ihm. Er spürte erneut das Aufprallen des Wagens am Laternenmast und kniff schaudernd seine Augen zusammen. Doch das Bild von Ulrikes Gesicht, die hilflos festgeklemmt neben ihm saß, löste sich nicht von ihm. Was war noch wichtig im Leben angesichts dieses Bildes vor Augen? Wie in Trance ging er zu einer Telefonzelle und wählte die Nummer einer Autovermietung. Er ließ sich einen PKW reservieren und machte sich auf den Weg, um das Fahrzeug abzuholen.

Es ging alles sehr schnell. Nachdem er in einer ruhigen Seitenstraße die Pistole ausgepackt und die Mütze bereitgelegt hatte, fuhr er zu jener Bank, die er am Abend zuvor aufgesucht hatte. Er ließ den Motor laufen, streifte sich beim Eintreten die Mütze über den Kopf, zog die Pistole und hielt sie einer älteren Kundin an die Schläfe, die sofort zu jammern begann. Es war ihm egal. Alles war ihm egal. Er warf der Kassiererin die Tasche über das Sicherheitsglas hinweg zu und bedeutete ihr, sie mit den Scheinen in ihrer Kasse zu füllen. Sie öffnete die Tür zu ihrem Schalter, um sie ihm zurückzugeben. Wahrscheinlich wollte sie Zeit schinden. Er nickte kurz, wie um sich zu bedanken und rannte hinaus zum Wagen, der aufheule, als er das Gas durchtrat.

Der Regen hatte wieder eingesetzt. Schwere Wolken verdunkelten den Himmel, obwohl es kaum Mittag war. Dieselben Motorengeräusche lullten ihn ein, dasselbe Rädersummen auf dem nassen Asphalt. Immer noch befand er sich in einer Art Trance; die Tasche neben sich auf dem Beifahrersitz, dort wo am Abend zuvor Ulrike gesessen hatte, kam ihm unwirklich vor. Er blickte durch die Fenster der Einfamilienhäuser, an denen er vorbeifuhr. Dort lebten Menschen ihr Leben wie an jedem anderen Tage auch. Überall waren Lampen eingeschaltet, die die Zimmer in ein warmes Licht tauchten. Eine Familie saß beim Mittagstisch zusammensitzen, eine alte Frau las in ihren Sessel vergraben ein Buch. Er war überrascht, wie viele Leute um diese Zeit zu Hause waren.

Es trieb ihn aus der Stadt, er wollte irgendwo in Ruhe sein Geld zählen. Nur mit Mühe konnte er durch den dichten Regenschleier die Wegweiser erkennen. Er war gefahren, ohne auf den Weg zu achten, die Gegend, in der er sich nun befand, kannte er nicht. Endlich gelangte er auf eine breitere Ausfallstraße und bog auf ihr nach Norden. Immer hartnäckiger begann der Regen auf das Wagendach zu prasseln und der tief verhangene Himmel verdüsterte sich völlig, als schlösse sich der Vorhang nach einem vollendeten Akt. Er stellte die Heizung an, die sogleich leise zu surren begann. Seine Hände waren feucht.

Er kam in ländlichere Regionen. Zwischen den einzelnen Ortschaften wurden die Abstände größer und schließlich bog er in ein kleines Wäldchen ab. Er hielt am Wegrand und beugte sich über die Tasche. Zwar hatte er gesehen, wie die Kassiererin ihre Kasse geleert hatte, doch war er sich nicht bewusst geworden, wie wenig Geld diese enthielt. Alles zusammen fanden sich in der Tasche nicht einmal zwölftausend Euro, viel zu wenig, um seine Töchter längere Zeit unterhalten zu können und sich selbst abzusetzen. Er schloss die Augen und lehnte seinen Kopf auf seine verschränkten Armen gegen das Steuer.

Nach einer Weile begann er hemmungslos zu weinen. Erst jetzt fand die Traurigkeit über den erlittenen Verlust seinen Weg hinaus an die Oberfläche des Seins und entlud sich in Strömen nicht enden wollender Tränen. Immer war er davon ausgegangen, sein kleines Leben selbst in Händen zu halten, doch in nicht einmal vierundzwanzig Stunden war er gleich zweimal vom Gegenteil überzeugt worden. Erst hatte ihn das Schicksal Ulrikes beraubt, dann seiner Illusionen über die Möglichkeit, sich aus seiner eigenen Verantwortung zu stehlen. Wie lange würde er unentdeckt bleiben, bis die Autovermietung seine Personalien freigab?

Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und startete erneut den Wagen. An Äckern und Wiesen vorbei folgte er der Straße bis ins nächste Dorf. Niemand nahm Notiz von ihm; die wenigen Menschen auf den Bürgersteigen, die sich mit Schirmen und Mänteln bewaffnet in das Unwetter hinausgewagt hatten, gingen ihre eigenen verschlungenen Pfade.

Er hielt vor einem Dorfkrug. Lange blieb er unbeweglich am Steuer sitzen. Nie zuvor in seinem Leben war er so weit gegangen. Er schämte sich vor sich selbst. Der Überfall war ein idiotischer Einfall gewesen, der alles nur verkomplizierte. Zurückzugehen fehlte ihm der Mut, doch er hatte auch kein Ziel, um sich nach vorn zu bewegen. Schließlich raffte er sich auf und öffnete die Wagentür.

Im Krug war es warm und gemütlich. Ein paar Männer saßen in einer Ecke und blickten ihn neugierig an, als er den schweren, roten Samtvorhang beiseite schob, mit dem der Schankraum von der Kälte draußen abgeschirmt wurde. Er trat zögernd an den Tresen und fragte den Wirt nach dem Weg. Sie breiteten einen zerknitterten Faltplan aus und sein Blick folgte den breiten Fingern des Mannes auf das Papier, blieb an der geraden blauen Linie haften, die sich durch das matte Grün des Kartenausschnitts zog. Der Kanal. Er prägte sich die Abzweigungen ein.

Der Regen war wieder stärker geworden und trommelte aggressiv auf das Wagendach. Gelegentlich tauchte hinter der Regenwand unvermittelt ein Dorf auf. Er zählte mit, ohne sich die Mühe zu machen, die Ortsschilder am Eingang zu entziffern. Hinter dem dritten Dorf musste links ein Weg zum Kanal abbiegen. Er stellte sich vor, wie er mit seinem Wagen am Ufer entlang fahren, ein letztes Mal den Motor aufbrausen lassen würde, um dann mit einem entschlossenen Ruck das Lenkrad herumzureißen und sich und den Wagen ins Wasser zu setzen. Endlich Stille. Doch in diesem Augenblick erschütterte ein Knall den Wagen.

Er bremste und stieg aus. Ein junger Schäferhund lag blutend am Straßenrand. Er beugte sich über das Tier und fasste an dessen Halsschlagader. Sie pochte nur schwach. Das Tier sah ihn hilfesuchend an. Unentschlossen streichelte er immer wieder dessen nasses Fell. Endlich raffte er sich auf und holte eine Decke aus dem Wagen. Er zog den Hund vorsichtig darauf und trug ihn auf den Rücksitz des Wagens. Das Tier winselte leise. Eilig fuhr er zurück zum letzten Dorf, an dem er vorbeigekommen war und hielt am erstbesten Haus. Triefend vor Nässe klingelte er an der Haustür und schilderte den Vorfall. Die Frau, die ihm geöffnet hatte, nahm das Telefon und rief den Tierarzt an. Er sah an ihr vorbei in den langgestreckten Flur, starrte auf die großgemusterte Blumentapete, auf das Telefon, das mit einem Spitzendeckchen verziert war. Die Wohnung roch nach spießiger Gemütlichkeit. Warm war sie und trocken. Eine Sehnsucht keimte in ihm auf. Endlich gab sie ihm eine Adresse und holte ihn damit in seine Wirklichkeit zurück.

Während der Arzt den Hund untersuchte und nähte, wartete Klaus ängstlich im Besucherzimmer, den Kopf in den Händen vergraben. Er wollte rauchen, doch hielt ihn das Verbotsschild neben der Durchgangstür davon ab. So spielte er nervös mit der Zigarette, drehte sie ein ums andere Mal und zerbrach sie schließlich zwischen seinen Fingern. Während er so auf das Ende der Operation wartete, wurde ihm bewusst, wie absurd sein eigener Wunsch zu sterben war.

Das Tier durfte er erst zwei Tage später abholen. Zwei Tage, in denen sich sein Leben auf die Zukunft richtete, auf den Augenblick, an dem er den Hund aus der Tierklinik tragen und in ein neues Zuhause bringen würde. Den ersten Tag versteckte er sich noch einmal in einem Hotel. Am Vormittag des zweiten Tages jedoch machte er sich auf die Suche nach einer neuen Wohnung, Parterre, gern weiter draussen, so dass das Tier freien Auslauf hätte.

Er wurde schließlich in einem kleinen Dorf fündig. Das Geld aus dem Raubüberfall investierte er in die Courtage seines neuen Zuhauses. Den Rest schickte er seinen Töchtern, zusammen mit einem freundlichen Gruß und seiner neuen Adresse. Morgens und abends sehen ihn die Nachbarn mit dem Tier Gassi gehen. Sie kennen ihn als zurückgezogenen, freundlichen Mann. Eine Aura der Melancholie scheint ihn zu umgeben.

 

Hallo Ennka,

im weitesten Sinne natürlich schon Spannung, denn es geschieht ein Banküberfall. Der allerdings so ungeplant, so nebenbei geschildert, dass er keinesfalls das Zentrum der Geschichte ist. Das sollte er auch sicher nicht sein.
Die Melancholie der Geschichte gefiel mir, der Ton auch. Nur am Ende würgst du die Geschichte ein bisschen ab, so als wolltest du dann husch husch fertig werden.

Es war ein kalter Novemberabend gewesen.
Tempuswechsel ist unnötig.
Sie befanden sich auf dem Rückweg von einem kleinen Programmkino, wo sie sich einen alten, romantischen Liebesfilm angesehen hatten.
"wo" klingt in einem solchen Satz immer sehr umgangssprachlich. Vielleicht: in dem?
das Schlafzimmer, wo ihn das nun überflüssige Doppelbett
dito
Vor einem Buchladen blieb er stehen, um den Schraubverschluß der ersten Flasche zu öffnen und sie mit gierigen Schlucken zu leeren.
wenn er nie getrunken hat, muss der Geschmack etwas mit ihm machen.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo Enka!

Eine schöne traurige Geschichte mit einem kleinen Happy End, auch wenn der Mann nicht glücklich wird. Und wieder mal hat ein Hund ein Menschenleben gerettet...
Was ich nicht verstehe, ist die Sache mit dem Wagen.

Immer noch befand er sich in einer Art Trance; die Tasche neben sich auf dem Beifahrersitz, dort wo am Abend zuvor Ulrike gesessen hatte,..
Also ist das der selbe Wagen, in dem er mit seiner frau verunglückt ist. Das Auto sollte aber dermaßen deformiert sein, dass er damit kaum fahren könnte.
Und dann:
Wie lange würde er unentdeckt bleiben, bis die Autovermietung seine Personalien freigab?
Das würde einiges erklären, aber im text ist nie zuvor von einer Autovermittlung die Rede (zumindest habe ich keine entdeckt).

gruß
Roland

 

Hallo Roland,

dank Dir :) Ich gebe ja zu, dass die Geschichte wegen ihrer Länge ein wenig unübersichtlich ist. Habe auch noch nicht ganz raus, wie ich bei kurzgeschichten.de die Leerzeilen hinkriege, damit der Text nicht ganz so als Block rüberkommt.
Aber nichts desto trotz: Den Leihwagen hat sich Klaus bestellt, nachdem er sich die Pistole gekauft hat:

Wie in Trance ging er zu einer Telefonzelle und wählte die Nummer einer Autovermietung. Er ließ sich einen PKW reservieren und machte sich auf den Weg, um das Fahrzeug abzuholen.

Herzliche Grüße,
Ennka

 

Wie in Trance ging er zu einer Telefonzelle und wählte die Nummer einer Autovermietung. Er ließ sich einen PKW reservieren und machte sich auf den Weg, um das Fahrzeug abzuholen.
Stimmt. Habe es übersehen. Nehme meine Bemerkung zurück.

 

so, schwere Geburt. Natürlich hast Du mit den Änderungsvorschlägen Recht, Sim, vor allem, was das Ende angeht. Habe die Story jetzt noch mal überarbeitet und das Ende gelängt, so dass es jetzt etwas weniger abrupt wirkt. Mal schauen, wie es von außen wirkt.

Liebe Grüße,
Ennka

 

Hallo Ennka!

Hier ein kleiner Kommentar als Revanche.

Zuerst ist mir aufgefallen, dass du zwischen alter und neuer Rechtschreibung springst. Du solltest dich für eine entscheiden und den Text anpassen.

Bezüglich des Tempus würde ich vorschlagen, die eigentliche Handlung in die Gegenwart zu versetzen, dann kannst du erheblich einfacher mit Rückblenden arbeiten.

Allgemein ist mir der Rückblick mit dem Unfall viel zu trocken, zu emotionslos.
Übrigens, mit einem Schneidbrenner? Ist das nicht zu gefährlich, wegen der Hitze? Die Feuerwehr hat doch passenderes Rettungsgerät.

"auf einer Bahre in den Rettungswagen" => Auf einer Trage. Aufgebahrt werden Leichen (soweit ist sie ja noch nicht).

Neben den Emotionen vermisse ich deutlich Spannung; bis jetzt (bin gerade beim Buchladen) liest sich das wie ein langwieriges Drama.

"Auch würde er sich im Büro nicht so kurzfristig Urlaub nehmen können" => "Äh, Chef, meine Frau ist gerade gestorben." - "Was interessiert mich das, tippen Sie gefälligst Ihren Bericht!"
Und im Endeffekt geht er ja eh nicht zurück ins Büro.

Jetzt ist er im Hotel und noch immer ist kein Fünkchen Spannung zu erkennen. Wenn ich dir nicht einen Kommentar schreiben wollte, wäre ich schon längst ausgestiegen. (Zum Einschlafen eignet sich die Gesichten sicher gut, sorry.)

Okay, dann begeht dein Protagonist noch einen Banküberfall, aber das ebenfalls nur so nebenbei, ohne dass dabei auch nur ein Hauch von Spannung aufkommt. (Wenn es dein Ziel war, den langweiligsten Krimi des Jahrhunderts zu verfassen, dann ist dir das sicherlich gelungen, Glückwunsch.)

Dann noch ein Unfall und Ende. Abschließende Frage: Was ist mit dem Mietwagen?

Naja, im Gegensatz zu meinen Vorkritikern kann ich mit dem Text absolut nichts anfangen. Ich würde empfehlen, ihn in die Alltagsrubrik verschieben zu lassen.

Grüße
Chris

 

Hallo, Chris und Are-Efen

bin leider erst heute über die Kommentare zu dieser Geschichte aus dem Jahre 2005 gestolpert. Hatte sie nicht mehr im Abo, von daher erst jetzt ein herzliches Dankeschön an euch für die doppelte Revanche.

Wenn es dein Ziel war, den langweiligsten Krimi des Jahrhunderts zu verfassen, dann ist dir das sicherlich gelungen, Glückwunsch.
Gelle? Ich muss ja zugeben, das war nicht unbedingt meine Absicht - aber besser irgendein Superlativ als gar keiner. Mittelmaß fällt eben nicht auf.
Zuerst ist mir aufgefallen, dass du zwischen alter und neuer Rechtschreibung springst. Du solltest dich für eine entscheiden und den Text anpassen.
Kann gut sein. Finde die neue deutsche Wirrnis immer noch sehr irritierend und werde mich ihr nur schrittweise annähern. Wäre natürlich für Beispiele dankbar, dann kann ich auch beurteilen, ob alt oder neu besser käme.
Bezüglich des Tempus würde ich vorschlagen, die eigentliche Handlung in die Gegenwart zu versetzen, dann kannst du erheblich einfacher mit Rückblenden arbeiten.
Och, danke für den Vorschlag. Aber die Grammatik bezüglich der Tempi hat sich durch die NDR ja nicht soo stark geändert. Die wichtigsten Regeln kenne ich, glaube ich.
Übrigens, mit einem Schneidbrenner? Ist das nicht zu gefährlich, wegen der Hitze? Die Feuerwehr hat doch passenderes Rettungsgerät.
Shit, danke für den Hinweis. Habe zwar ein Bild im Kopf, weiß aber beim Teufel nicht, wie das Ding heißt. Flexen sie einfach? Muss ich recherchieren.
"auf einer Bahre in den Rettungswagen" => Auf einer Trage. Aufgebahrt werden Leichen (soweit ist sie ja noch nicht).
Ob ich mich damit rausreden kann, dass ich vor drei Jahren noch jung und unschuldig war? Danke auch für diesen Hinweis. Natürlich hast du Recht. Böser Fehler - und eigentlich selbstverständlich.
Abschließende Frage: Was ist mit dem Mietwagen?
Du meinst, es würde die Spannung steigern (oder im Sinne des Superlativs schmälern), wenn ich erzähle, wie er den Wagen zurückbringt? Wäre einen Versuch wert: "Da ist eine Schramme am linken Kotflügel." - "Oh mein Gott, bitte keine Polizei! Ich habe einen Hund, um den ich mich kümmern muss."

Es ist dieser Zusatz in der Überschrift - dieses revis(it)ed - der hier sofort die ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt; also anstelle von Spannung und Emotionen auf peinlich genaue Wahrnehmung setzt.
Liebe Are-Efen,

dass ich das "revisited" bereits einmal vor ein paar Jahren benutzt habe, war mir völlig entfallen. Einzige Entschuldigung: in diesem Fall wollte ich damit kennzeichnen, dass die Geschichte mittlerweile überarbeitet wurde. Also ein völlig anderer Ansatz als bei den Wilden Erdbeeren.

Ansonsten bewundere ich den schmalen Grad zwischen Ironie und emotionalem Ausbruch, mit dem du dich immer wieder zu Worte meldest. Blöderweise fällt es mir oft schwer, daraus einen Informationsgehalt zu destillieren. Du hast die mehrdeutigen Kommentare zu einer echten Kunstform entwickelt.

Auch in diesem speziellen Fall hoffe ich eher als ich weiß, dass du mit der Geschichte etwas anfangen konntest und sich dein "spannend und weckt Emotionen" nicht als feine Ironie entpuppt. Denn du beziehst dies ja eher auf die "peinlich genaue Wahrnehmung" als auf das Geschehen, den Plot selbst.

Fragen tue ich mich, ob der Autor selbst erkannt hat, wie die Sache mit der Pistole zusammenhängen kann. Da er sie ja bei Heike situiert, dann aber, obwohl ursprünglich abgelehnt, selbst dazu greift, scheint durchblicken zu lassen, dass etwas von ihr in ihm übermächtig ist ...
Du meinst: in welchem Maß ich Unger analysiert habe? Das ist eine gute Frage. Vielleicht macht er ja Heike für den folgenden Überfall verantwortlich. Oder der Überfall richtet sich eigentlich gegen Heike, von der er sich nun endgültig befreien will. Aber im Kontext der Geschichte braucht er vor allem ein wenig Bargeld, und ich denke, wäre Heike nicht gewesen, hätte er nun auch keine Assoziationskette, hätte sich vielleicht an das Schaufenster mit der Pistole überhaupt nicht erinnert, wäre pleite und unglücklich. Das macht die Beziehung zu Heike nicht wieder heil, zeigt aber, dass auch die verunglückteste Beziehung noch ihr Gutes hat. Irgendwie hängt im Leben eben alles mit allem zusammen.

Herzliche Grüße und noch einmal vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren dieses recht langen Textes,
Ennka

 

Hallo Ennka!

Zum Mietwagen: Nein, ich denke nicht, dass es die Spannung erhöhen würde - aber du hast die Frage im Text selbst angesprochen, also solltest du sie auch beantworten, sonst bleibt beim Leser ein unbefriedigender Nachgeschmack hängen.
Hier: "Wie lange würde er unentdeckt bleiben, bis die Autovermietung seine Personalien freigab?" und hier: "Er stellte sich vor, wie er mit seinem Wagen am Ufer entlang fahren, ein letztes Mal den Motor aufbrausen lassen würde, um dann mit einem entschlossenen Ruck das Lenkrad herumzureißen und sich und den Wagen ins Wasser zu setzen." => Dann fährt er den Hund an, und du erwähnst das Problem nicht mehr (nicht nur den Wagen, auch seine mögliche Entdeckung als Bankräuber überhaupt).

Und das Rettungsgerät der Feuerwehr - da wären hydraulische Spreizer, Scheren, Schneider ...

Grüße
Chris

 

Hi Chris,

danke für die Hilfe bezüglich der Rettungsgeräte. Spart mir eine Menge Zeit beim Recherchieren.

Was den Mietwagen angeht: stimmt schon, das Problem ist noch da. Mal sehen, ob mir hier eine brauchbare Lösung einfällt. Danke für die Zitate, die das Problem noch einmal veranschaulicht haben.

Gruß,
Ennka

 

Hallo A.-E.

mit deiner Umformulierung deines Heike-Satzes machst du jetzt endgültig aus Prot und mir eine Person. Kann da nur heftigst dementieren. (Allein schon um zu verhindern, dass die Polizei vor meiner Tür auftaucht und wissen will, wo ich mit dem Mietwagen hin bin. :) ) Auch Chris hatte ja schon angeregt, die Sache mit dem Mietwagen müsse irgendwie in Ordnung gebracht werden.

Das Ende mit dem Köter fandest du unwahrscheinlich? Ein wenig ex machina vielleicht, zugegeben. Spannend zu hören, wie das bei dir ankam. "Aufschwatzen lassen" klingt immer ein wenig nach "pädagogisieren", wenn nicht gar "predigen". Darauf reagiere ich auch allergisch. War aber nicht meine Absicht. Der Hund trat ungefähr so planlos ins Leben des Prot wie die Pistole. Grüße an das Unterbewusste, wenn's hoch kommt.

Gruß,
NK

 

Hallo Are-Efen,

ok, ich hab's begriffen. Du gehst davon aus, dass irgendein wissbegieriger Passant sich schon die Nummer des Wagens notiert haben wird und diese dienstbeflissen an die Polizei weiterleitete. Diese Vision verfolgte ja auch Klaus, den Protagonisten, eine Weile lang.

Warst du mal Zeuge bei einer Unfalluntersuchung? Dort können sich die meisten Leute noch nicht mal auf die Farbe eines Wagens einigen, geschweige denn auf das Kennzeichen. Dass ein Überfall verübt wurde, merken die meisten Leute ja erst, wenn der Bösewicht aus der Bank kommt und sich am Wagen niederlässt. Dann ist nicht mehr so arg viel Zeit zum Merken von Nummern. "Der hatte ein Hamburger Kennzeichen" ist dann schon viel.

Als Bankräuber würde ich es zwar nicht darauf ankommen lassen, mit dem eigenen Wagen vorzufahren. Aber ich denke mal, die Chance, das es gut geht, dürfte bei ungefähr 50% liegen. Karl hatte in diesem Fall einfach ein wenig Glück. Ich gönne es ihm.

Gruß,
Ennka

 

Ich muss ja leider sagen, ich gönne es ihm auch aus tiefstem Herzen. Mein Unrechtsbewusstsein hat wohl ein wenig gelitten als er den Hund rettet. Toll geschrieben finde ich!

Schöne Grüsse
MrsMurphy

 

Hallo MrsMurphy

freut mich zu hören *dickesgrinsen*. Danke fürs Lesen und die bestätigenden Worte. Tut gut!

Grüsse
MrsMurphy

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom