Null. Null.
Als Rob erwachte, hatte er das Gefühl, im Schlaf einen Aschenbecher ausgeleckt zu haben. Er hustete in der Erwartung, einige Kippen hoch zu würgen oder daß es zumindest kräftig staubte, wenn er Luft aus seinen Lungen drückte, und schälte sich aus seiner muffigen Bettwäsche, die wie eitriges Verbandszeug an ihm klebte. Automatisiert griff Rob neben sich und tastete blind den Boden links von seiner Schlafstätte ab, stieß dabei auf eine halbleere Dose "Aldis Rache", führte den Alu-Zylinder an seine Lippen und ließ den schalen Inhalt in seine Kehle rieseln. Wäre Rob Besitzer anspruchsvoller Geschmacksnerven und eines sensiblen Magens gewesen, hätte er sich wahrscheinlich übergeben müssen, aber wenn es um Tage alte Alkoholika ging, war er ziemlich schmerzfrei. Rob schluckte, ließ seinen Blick durch sein abgedunkeltes 1-Zimmer-Apartment schweifen, tastete nach seinen Zigaretten, zündete sich eine an und blies mißmutig blaue Wolken in seine ohnehin schon über alle Maßen verquarzte Höhle. Wenig später zeigten Nikotin und Alkohol ihre Wirkung und Rob fühlte sich fähig aufzustehen, schlappte durch seine Bude, stieß mit nackten Füßen immer wieder gegen leere Kippenschachteln und Bierdosen, erreichte die klebrigen Fliesen des Badezimmers, stellte sich vor die Sanitärkeramik und pisste erstmal. Während er sich erleichterte, stellte er sich, wie jedes Mal, die Frage, ob es sich heute für ihn lohnen würde, nicht im Buntkarierten über die Sinnlosigkeit seines Daseins zu sinnieren.
Mal sehen. Wie spät war es? Mittwoch? Oktober? So ewig im Dunkeln verlor man wirklich jegliches Zeitgefühl.
Rob schlurfte zurück in sein versifftes Zimmer, klemmte sich eine neue Zigarette in den Mundwinkel und schaltete sein verstaubtes Fernsehgerät ein, welches vermutlich noch von irgendwelchen Trümmerfrauen zusammen gezimmert worden war. Rob zappte sich eine Weile durchs Programm, bis er auf eine Nachrichtensendung stieß, die seine Frage nach der Zeit beantwortete: Samstag, 13. Januar, 22:05 Uhr. Alles klar. Rob verspürte plötzlich einen spontanen, unbändigen Durst nach Leben. Er ging duschen.
Wenig später war er rasiert, hatte sich seine strähnigen Locken aus dem Gesicht gekämmt und ein paar halbwegs saubere Klamotten über geworfen, schnappte sich seine Kippen, seinen Geldbeutel und seinen fleckigen Parka und ging raus auf die Straße. Ohne daß Robs Hirn ihnen großartig den Befehl dazu gab, trugen ihn seine Füße die Straße hinunter. Immer weiter an den Häusern vorbei, an parkenden Autos, noch mehr Häusern – und irgendwann blieben seine Füße stehen. Rob hob den Kopf und blinzelte. Vor seinen Augen stand in brechreizerregend neonroten Lettern: CRIMSON. Er war schon ein paar Male hier gewesen. Drei, vier Mal vielleicht. Die Tür unter den kreischenden Buchstaben wurde geöffnet, eine Andeutung der Gerüche, die weit hinter dieser Tür die Luft erfüllten, stieg Rob in die Nase, eine mehr oder weniger gleichmäßige Mischung aus Rauch, Schweiß, Haarspray, Leder, Erde und Patchouli. Dumpfe Bässe mischten sich mit den nächtlichen Geräuschkulisse auf der Straße und verklangen, als die Tür wieder zuschlug.
„Hey! Wenn du rein willst, stell dich gefälligst an!“ Rob drehte den Kopf. Er blickte genau auf eine breite, muskulöse Brust, über die sich ein viel zu enges schwarzes Sweatshirt mit dem Aufdruck „Security“ spannte. Er hob den Blick, sah dem glatzköpfigen Hünen ins Gesicht und ging schweigend hinter die Absperrung, stellte sich brav hinter die blassen Gestalten, deren kalkweiße Gesichter eine Mimik im Spektrum von "ausdruckslos" bis "gelangweilit" aufwiesen.
„Dein Ausweis.“
Rob zog seinen Ausweis aus der Geldbörse und gab diesen dem Hünen. Der Riese warf einen kritischen Blick darauf, musterte Rob, dann grinste er.
„Mach dir nicht in die Hose da drin“, brummte der Kerl.
Rob nahm seinen Ausweis und ging rein. Neben dem Eingang stand in verwitterten Messinglettern: Club Bizarre.
Rob trat in den dunklen Vorraum, zahlte Eintritt und schob den schweren, roten Samtvorhang beiseite. Er blinzelte erneut, als das Licht der Scheinwerfer, das von all dem blanken Metall und dem glänzenden Lack und Leder reflektiert wurde, ihn für kurze Zeit blendete. Er durchquerte die große Halle. Die Menschen, die sich hier aufhielten, alle in schwarz gekleidet, mit engen Lack- und Lederklamotten, verboten engen Corsagen, die nur durch den gemeinsamen Willen aller Anwesenden zusammen gehalten wurden, mit Ketten, Ringen und Stacheln geschmückt und bizarren Frisuren, sahen ihn an, einige grinsten, andere warfen ihm düstere Blicke zu, aber alle dachten dasselbe: Ein Verirrter, der bald zu Tode erschrocken das Weite suchen würde.
Rob erreichte die Bar, setzte sich auf einen Hocker und bestellte einen Gin Tonic. Der Bass der elektronischen Musik dröhnte unter seinen Füßen. Er zündete sich eine Zigarette an und sah sich um. An der Bar saß außer ihm niemand. Ein Großteil der Leute hier hockte in dunklen Ecken oder war auf der Tanzfläche. Über dem Dancefloor hing ein Käfig, in dem eine Frau, bekleidet mit einem knallengen Lacktop und einem Mini mit einer Schleppe aus Tüllstoff, mit Handschellen an das Gitter fest gekettet war. Sie rekelte sich trotz ihrer überknielangen, glänzenden Stiefel mit den Pfennigabsätzen außergewöhnlich anmutig in ihrem Gefängnis. Rob betrachtete nicht ohne das angenehme Kribbeln einer aufkommenden Erektion die hypnotischen Bewegungen der Tänzerin.
„Du bist nicht das erste Mal hier“, vernahm er plötzlich eine zischende Stimme unmittelbar neben seinem Ohr, die ihn augenblicklich aus seinen Tänzerinnen-Fantasien riss. Er sah zwei blutrote, glitzernde Augen vor sich. Kontaktlinsen. Der Blick der Frau durchbohrte ihn. Rob schätzte sie auf Anfang 30. Ein paar schwarze Haarsträhnen ihres Irokesen hingen ihr in die Stirn, kontrastreich zu ihrer weiß geschminkten Haut.
„Richtig“, antwortete Rob.
Die Frau setzte sich neben ihn, ließ ihn dabei nicht aus den Augen.
„Leute, die so aussehen wie du, bleiben für gewöhnlich nicht lange und kommen nie wieder. Du jedoch…“ Sie durchbohrte ihn wieder mit ihren roten Augen. „… bleibst bis kurz vor Sonnenaufgang. Ich habe dich beobachtet. Jemand wie du fällt hier auf.“ Sie deutete auf seine zerrissenen, blauen Jeans und sein graues T-Shirt. „Du sitzt die ganze Nacht an der Bar. Jedes Mal.“ Sie beugte sich leicht vor und zischte: „Was willst du hier?“
Rob drückte seine Zigarette aus. „Weiß nicht.“
Die Frau musterte ihn von oben bis unten, dann lachte sie. Es war ein kaltes Lachen. Die Spitzen ihrer langen, weißen Eckzähne blitzen kurz auf. Kronen. Macht jeder Zahnarzt.
„Hast du gar keine Angst vor mir, eh…“
„Rob.“
„Talia. Also?“
„Nee. Sollte ich?“
Talia legte ihre langen, dürren Finger auf Robs Knie und grinste bösartig. „Ja. Weil ich ein Vampir bin. So wie die meisten hier.“
Rob lächelte halbherzig und sah ihr in die Augen. „Soso. Ein Vampir. Meinst du nicht, dass du ein bißchen sehr mager für einen Vampir bist?“
Talia runzelte die Stirn über so viel Unwissenheit. „Das liegt wahrscheinlich daran, daß wir hauptsächlich Blut zu uns nehmen“, zischte sie verärgert.
„Blut ist sehr gehaltvoll“, entgegnete Rob und nippte an seinem Drink. „Ein fähiger Vampir hätte zumindest mehr auf den Rippen als du.“
Talia knurrte verärgert über dieses Argument. Dann setzte sie jedoch ihr verführerischstes Lächeln auf und schnurrte: „Der Grund dafür könnte ja unter Umständen sein, daß ich so viel im Feuer meiner Leidenschaft verbrenne…“
Rob sah sie an. Jetzt musste er lachen. Leise und ungläubig. „Ach, hör doch auf.“ Er nahm noch einen Schluck Gin Tonic. Talia grinste.
„Du glaubst mir nicht, was?“ Sie ließ ihre langen, spitzen Fingernägel über seinen Hals streichen. Robs Gesicht verfinsterte sich. Er ahnte, was nun kommen sollte.
„Bist´n hübscher Junge, Rob“, hauchte sie in sein Ohr und glitt mit der Zunge über seine Ohrmuschel, „wieso leerst du nicht deinen Drink und ich zeige dir die Wahrheit über die vampiristische Leidenschaft.“ Ihre Hand ruhte in seinem Schritt. „Ich bekehre dich.“
Ein trauriges Lächeln huschte über Robs Gesicht. Dann kippte er den Rest Gin Tonic in sich hinein. Talia nahm grinsend seine Hand und zog ihn wie einen Hund hinter sich her. Sie öffnete die Tür zur Damentoilette. Ein paar junge Frauen erneuerten gerade ihre Gesichtsfarbe mit weißem Camouflage und kicherten, als sie Rob an der Hand von Talia sahen, warfen ihm amüsierte und mitleidige Blicke zu. Scheinbar war Talia für diese Art von Bekehrung bekannt.
Talia zog Rob in eine der Kabinen und riegelte sie ab.
„Zieh dein T-Shirt aus, Süßer, sonst versaust du´s dir gleich.“
„Ist das nicht egal, wenn du mich gleich tötest?“ murmelte er sarkastisch, zog es aber aus.
Talia holte eine Rasierklinge hervor und fügte sich eine tiefe Wunde an ihrem Handgelenk zu. Sie drückte Rob gegen die Wand und flüsterte theatralisch: „Schmecke den Saft des Lebens.“
Das Blut lief in dicken, glänzenden Tropfen an ihrem Arm herunter und tropfte auf die blasgrünen Kacheln. Talia legte ihr Handgelenk auf seinen Mund, Rob leckte sich das warme Blut von den Lippen. Der süße, metallische Geschmack auf seiner Zunge legte einen Schalter bei ihm um. Er packte Talias Handgelenk, schloß ihre Verletzung mit seinen Lippen und fing an, gierig zu saugen.
"Sachte, Kleiner!" kicherte Talia, "du willst doch noch ein bißchen Spaß mit mir haben, oder?"
Sie schob ihren Rock hoch, fummelte mit spitzen Fingern an Robs Hose rum, seine Ungeduld sprang ihr direkt entgegen. Sie grinste selbstgefällig und rieb ihren Körper gegen seinen, schlang ihre Schenkel um seinen Körper, legte ihm direkt liebevoll ihr blutendes Handgelenk auf die Lippen, um dann mit einer schnellen Bewegung ihre Eckzähne in seinen Hals zu versenken. Rob ächzte kurz auf, nuckelte dann aber wie ein zufriedenes Baby an ihrer Wunde herum.
Talia fuhr mit der Zunge genußvoll über seinen Hals, hielt inne, runzelte die Stirn, biß dann nochmals zu, diesmal kräftiger. Rob indes war auf der Rolltreppe zum siebten Himmel. Oder zur Hölle. Je nachdem.
"Was zum...?" Ungläubig starrte Talia auf die tiefen Verletzungen am Hals ihrer neuen Bekanntschaft. "Wieso -"
In diesem Moment drückte Rob ihr seine Hand auf den Mund und drang in sie ein. Talia riss erschrocken die Augen auf, ein stechender Schmerz breitete sich in ihrem Unterleib aus, sie versuchte zu schreien, aber es gelang ihr nicht. Rob packte sie und presste sie gegen die gegenüberliegende Wand der Toilettenzelle, stieß zu, immer wieder, zog und zog und zog, bis glitzernde Flashlights vor seinen Augen flackerten, sein Körper sich mit Lebensenergie füllte, bis er fast zu bersten drohte -
Rob hielt inne. Er kam wieder zu Atem. Erschöpft lehnte er sich gegen die Wand, schloss für einen Moment die Augen. Dann sah er an sich herab. Etwas Blut lief an der Innenseite seiner Oberschenkel hinab. Er wischte mit der Hand darüber und leckte sich gedankenverloren die Finger ab, säuberte sich mit Toilettenpapier. Talia. Er hatte sie losgelassen, jetzt lag sie in einer grotesken Stellung zwischen Tür und Toilettenbecken. Er kniete sich zu ihr runter, schloss ihre Beine und richtete ihren Rock. Eine ihrer Kontaktlinsen war heraus gefallen. Sie hatte blaue Augen. Rob legte seine Finger auf ihre Lider und schloss sie sanft. Er richtete sich auf, warf sein T-Shirt über und verließ die Kabine. Es war niemand mehr da. Er machte sich schnell, aber ohne übertriebene Hast, aus der Damentoilette und steuerte auf den Ausgang des Clubs zu. Es war wieder Zeit zum Untertauchen.
Draußen begegnete ihm der grinsende Riesen-Türsteher.
„Na Kleiner, Glückwunsch, nach einer Stunde den Ausgang gefunden!“
„Ja, ganz recht“, brummte Rob im Vorbeigehen und setzte seinen Weg bis zur Kreuzung fort.
„Vampire“, murmelte er nicht ohne einen Unterton der Verachtung. "Vampire..."