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Nur das!
Verstört saß ich im Vorlesungssaal. Das durch das Fenster einfallende Licht stach in den Augen. Dem Druck in meiner Stirnhöhle gelang es immer wieder, mich abzulenken. Jedoch nicht so stark, dass ich dem fein gekleideten, großgeistigen Theologen vor einer vielbeschäftigten Studentenschaft entrinnen könnte. Für einige scheint die Leistung im Studium linear mit der Menge gegessener Mandarinen in einer Vorlesung zusammenzuhängen. Wobei das Stapeln der Schalen zu einem Türmchen oder das Abfüllen des ebend verzehrten Jogurtbechers zu einer Prüfungsleistung ausufert. Die Verbindungen zwischen Kommilitonen reicht über symbiotisches Verhalten nicht hinaus! Der Zweck bestimmt nicht nur die Mittel, sondern auch die zweckmäßigen Adressaten. Dadurch verkommt dieses ganze Campuskonstrukt zu einer elitären, egozentrischen und leistungsorientierten Subkultur. Menschen, die sich menschlich nicht kennen, aneinander vorbei leben. Jedoch ist das wohl kein subkulturelles Problem, sondern ein …
Weiter vorn wird gerade diskutiert, ob man vollbesetzte Passagierflugzeuge, wenn sie terroristisch missbraucht werden, abschießen darf! Sehr interessant, wie ich finde! Jedoch verliere ich mich wieder gedanklich in mir selbst…
Ich liebe das Leben und doch vergesse ich es manchmal. Heute Morgen saß mir eine Frau gegenüber, die es mir schwer machte, in meiner bisher nicht unangenehmen oder engen Sitzposition zu verweilen. Der Gedanke sie anzusprechen, zu fragen, die Realität zu verändern, schien mir lächerlich, nicht von Nutzen, außerhalb meiner Reichweite. Der fiktive Gedanke war nett und gefiel mir, wie es die durchaus physisch, reale Reaktion meinerseits deutlich machte. Eine wirkliche Reaktion war jedoch unendlich unwahrscheinlich. Nicht das mir der Mut gefehlt hätte, sie anzusprechen! Nein, wäre dies der Sinn aller Dinge gewesen, ich hätte es getan. Doch in dem Land aus dem ich komme, spricht man Menschen nicht einfach so an. Außer ein gelegentliches „Gesundheit“ , „Bitte … Danke“ oder „Sie haben ihren Schal vergessen!“ ist Konversation auf ein kleines, eingespieltes, festgelegtes soziales Hilfenetz, das ausschließlich auf Freunde, Verwandte und Bekannte aufgebaut wurde, beschränkt. Ich hätte sie gern angesprochen, doch hörte ich schon die vorwurfsvollen, lästernden Gedanken der anderen Menschen um uns herum. Und sie erst, was sollte sie von mir denken? Vielleicht möchte sie gar nicht angesprochen werden und ich würde sie nur nerven, wie eine ältere Frau die mir im Krankenhaus einmal ihre Probleme mit dem Einführen der Zäpfchen schilderte und mich danach Hilfe suchend anschaute. So schlimm bin ich doch nun auch wieder nicht! Oder? Oh Gott, ich starrte sie die ganze Zeit an …
Sie wirkte auf einmal sehr genervt und beobachtet. Da sind wir auch schon am Ostbahnhof. Ich muss aussteigen und plötzlich überkommt mich eine Traurigkeit. Als ich meine Sachen nehme, um aufzustehen, erhebt sich die junge Frau auch sehr langsam, als ob sie abschätzen möchte, dass ich auch wirklich aufstehe, um mir dann unauffällig zu folgen, damit wir uns in den Wirren des Bahnhofsalltags nicht verlieren. Sie hat es also auch gemerkt. Sie möchte auch ungestört mit mir reden, möchte mit mir zusammensein, einen gemeinsamen Vormittag verbringen! Als ich mich umdrehe, um sie wohl wissend, freudig anzulächeln, sehe ich, dass sie nur den Sitzplatz gewechselt hat. Vielleicht um einer besseren Sitzposition willens oder anderer trivialer Gründe. Keine Sympathie? Kein stilles, gegenseitiges Einverständnis. Nur das!
Als vom Bahnsteig aus noch einmal der Blick auf die Sitzplätze frei wird, sieht die junge Frau glücklich und zufrieden an mir vorbei. Nicht als ob sie mich nicht sehen möchte, eher wie jemand der einen gar nicht erst wahrgenommen hat. Ich war verloren in der Identitätslosigkeit einer unsichtbaren Gesellschaft. Nur das!