Nur die Besten sterben jung
„... Sag mir warum!
Nur die Besten sterben jung.
Nur die Besten sterben jung.
Viel zu jung!
Nur die Besten sterben jung.
Viel, viel zu jung.
Viel zu jung!“
Die letzten Töne des Songs verhallten in der Luft, das Konzert sollte mit diesem Lied abschließen. Jenny hatte die ganze Zeit geheult. Sie wusste, für was dieses Lied gedacht war, und sie wusste, für wem sie es interpretieren sollte. Jetzt wischt sie sich die Wangen etwas trocken und tritt wieder zurück auf die Straße, begleitet von dem restlichen Publikum, das grölte. Normalerweise würde auch Jennifer grölen, bei ihrer Lieblingsband. Doch nicht nach solch einen Erlebnis, nicht nach ausgerechnet diesem Lied. Nicht mehr lange, dann würde die Masse sie wieder allein lassen.
Jennifer, die von ihren Freunden immer Jenny gerufen wird, lässt sich am Straßenrand fallen. Sie ist gerade erneut in Tränen ausgebrochen, als sich die Menschentraube in allen Richtungen verstreute. Jetzt ist Jennifer wieder allein. So allein, wie jeden Abend, wenn sie auf ihrem Bett liegt und heult. So allein, wie jeden Abend, wenn sie in ihrem Zimmer den gleichen Song hört und dabei an Tobias denkt. Sie hätte es ihm sagen sollen. Wenn er es gewusst hätte, wäre das alles nicht passiert, es wäre alles anders gelaufen. Doch jetzt ist es zu spät, Jenny ist allein und Tobias, den wird sie nie wieder sehen. Nicht heute, nicht morgen, nicht irgendwann. Nur noch auf den Fotos an ihrer Zimmerwand kann sie ihn sehen. Die Fotos, die Jenny heimlich gesammelt hatte, von Schulfeten oder Klassenfahrten. Keiner sollte es wissen, das war ein Geheimnis, welches Tobias als erster zu erfahren hatte. Doch dieser ist letzte Woche ums Leben gekommen, als er mit seinen betrunkenen Freunden von der Disco heimfahren wollte. Dieser Sebastian, der Tobias und noch einen anderen Jugendlichen von zu Hause abholte, und des Nachts wieder sicher heimbringen wollte, war sich totsicher, dass er das Steuer völlig unter Kontrolle haben würde. Doch laut Augenzeugenberichte konnte er noch nicht einmal richtig gerade laufen, als er die Disco verließ. Tobias und der andere sollten ebenfalls betrunken gewesen sein, was sich Jenny aber nicht vorstellen konnte. Sie hatte ihren Klassenkamerad noch nie trinken sehen. In ihrer Gegenwart lehnte er jegliche alkoholische Getränke ab, warum also sollte Tobias in jener Nacht etwas getrunken haben?
Ein Auto fährt an ihr vorbei, dass Licht blendet die müden Augen des Mädchens. Sie kneift die Augen zu einen Schlitz. Als das Auto vorüber ist quält Jenny sich auf die Beine und torkelt dem Auto hinterher. Eigentlich sollte sie jetzt nach Hause gehen, ihre Eltern würden sicher noch auf sie warten, doch irgendwie hat Jenny das Bedürfnis, genau in die entgegengesetzte Richtung zu laufen. Sie fühlt nichts, nichts außer die kühlende Nässe auf ihrer Wange. Spürt den Wind nicht, der ihre Haare zerzaust, spürt die Last ihres Körpers nicht an den Füßen wenn diese den Boden berühren und siehst das Licht der Straßenbeleuchtung nicht.
Dann, nach etwa 200 Metern unbewusstes Laufens, spürt sie das kalte, dreckige Eisen des Geländers an ihrer rechten Hand. Jetzt wird ihr bewusst, wo sie sich befindet, auf der Brücke über den Bahnschienen. Langsam, ganz langsam dämmert ihr ein, was Jennys Körper mit ihr vor hat, aber sie bemüht sich nicht, gegen das Vorhaben anzukämpfen.
Am nächsten Morgen, kurz vor halb 8, klingelt das Telefon im Elternhaus von Jenny. Ihre Mutter nimmt ab, geschockt von den Worten, die von der Hörmuschel in ihr Ohr wechseln, hält sie ihre Hand vors Gesicht. Als sie von der Polizei aufgefordert wird, auf die Wache zu kommen, legt sie sprachlos den Hörer wieder auf die Gabel und bricht in Tränen aus. „Dieser Junge“, flüstert sie zu sich und denkt an die Fotos im Zimmer ihrer Tochter, „dieser Mörder. Erst bringt er sich um mit diesen verdammten Alkohol und dann meine Tochter!“