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Nur drei Runden
„Dix - neuf - huit - sept - six“ - am ausgestreckten Arm des Starters zeigt sich die Hand mit den fünf abgespreizten Fingern - „cinq“ - ein Finger nach dem anderen wird eingeklappt - „quatre - trois - deux - un“ - Schuss. Das Echo des Startschusses verhallt im olympischen Velodrom zu Seoul. Mit dem Schuss lösen sich auch automatisch die Bremsbacken der Startmaschine.
Für einen Sekundenbruchteil droht das Ganze aus der Balance zu geraten. Doch zeitgleich setzen sich 90 Kilogramm Mensch, die in äußerster körperlicher und mentaler Anspannung auf das Startsignal gewartet haben, und 6 Kilogramm Maschine wie ein Rodeoreiter, der aus der Startbox stürmt, ruckartig in Bewegung.
Der rechte Fuß, in schmalen Rennschuhen mit altmodisch breitem Sprinterlederriemen mit zwei Schnallen ans futuristische Rad gefesselt, drückt als letztes Glied in der Kette eines extrem muskulösen Beines die Pedale mit maximaler Kraftanstrengung nach unten. Titanische Kräfte, geschaffen in unzähligen Trainingseinheiten im Kraftraum, wirken auf das ultraleichte Bahnrad und drohen es für einen Augenblick zu zerstören.
Das schwerere und größere hintere Mavic-Scheibenrad scheint für Sekundenbruchteile von der Bahn zu rutschen. Das kleinere Vorderrad mit seinen nur 18 zu Messern geschmiedeten Speichen, die die koreanische Abendsonne reflektierend die Luft zerteilen wie herumwirbelnde Säbeltänzer, droht unter dem Gewicht des Athleten einzuknicken.
Adern und Sehnen unter dünner, glattrasierter Haut treten vor Kraftanstrengung, der Illustration in einem Bodybuilding-Magazins ähnlich, plastisch hervor. Gleichzeitig übt der linke Fuß zur Unterstützung seines rechten Pendanten einen extremen Zug nach oben aus. Die schmale, filigrane Kette, das Verbindungsglied zwischen dem vorderen Kettenrad mit seinen 50 und dem hinteren Ritzel mit 14 Zähnen, ist zum Zerreißen gespannt.
Der eher zu einem Schwerathleten passende muskelbepackte Oberkörper stützt sich mit maximalem Krafteinsatz aggressiv auf den Lenker. Kräftige Hände drohen die Lenkergriffe zu verbiegen. Starke Arme leisten dabei Hilfestellung und versuchen gleichzeitig die Mensch-Maschine im Gleichgewicht zu halten. Das stromlinienförmig behelmte, schmerzverzerrte Gesicht des Fahrers wird vor Anstrengung und äußerster Willensanspannung zur Fratze, die stoßartig laute, an eine Dampflokomotive erinnernde, Ausatmungsgeräusche von sich gibt. Zug um Zug, Tritt um Tritt schiebt sich die symbiotische Einheit von Mensch und Technik auf das hölzerne Lattenoval, begleitet vom rhythmischen Schreien der Betreuer.
Noch mehr als der Torhüter beim Elfmeter empfindet der Athlet in dieser nur gut einen Wettkampfminute die Einsamkeit des Sportlers. Er ist alleine auf der Bahn und kämpft eigentlich mehr einen einsamen Kampf gegen sich selbst als gegen seine Gegner. Es gibt keine Mannschaftskameraden, die aushelfen oder ausgleichen können, keine Mitstreiter, die mit einem auf der Piste sind. Gegen das deprimierende Gefühl der Verlassenheit gilt es anzukämpfen.
Erschwerend kommt noch hinzu, dass er nur diese eine Chance hat, es gibt keine Vorläufe, keine Verlängerung, keine Möglichkeit der Korrektur eines schwachen Ergebnisses. Dieser einzige Versuch wird unwiderruflich über Sieg und Niederlage entscheiden. Alles, was danach kommt, hat in der Regel keinen Einfluss mehr und die nächste Gelegenheit kommt bei Olympia erst in vier Jahren, eine Ewigkeit, die nur wenige Kilometermänner bisher überstehen konnten.
Es fehlen zudem die finanziellen Anreize. Mit dem Kilometerfahren ist noch niemand reich geworden, die Teilnehmer betreiben ihre Disziplin überwiegend noch unter amateurähnlichen Bedingungen.
Tobias Meine, deutscher Meister und Teilnehmer für Deutschland im olympischen Zeitfahrfinale der Bahnradsportler über einen Kilometer – zu allem Überfluss einziger olympischer Wettbewerb, in dem nur einem Sportler pro Nation das Startrecht zugebilligt wird - begibt sich im weißen Einteiler mit den schwarz-rot-goldenen Streifen, im Nationaldress, auf die auslaugende Reise über drei Runden a 333,33 Meter.
Als Nachfolger des deutschen Olympiasiegers von Los Angeles 1984 wird er als Letzter ins Rennen um die Medaillen geschickt. Dieser Umstand ermöglicht ihm und seinem väterlichen Freund und Trainer Christian Kleemann, der diesen Showdown als Heimtrainer von der Tribüne verfolgen muss, sich an den von den Konkurrenten vorgelegten Zeiten zu orientieren.
Wie immer ist der Startschuss das erlösende Signal vom Vorwettkampfstress. Doch diesmal war es besonders nervig, schließlich ist es seine erste Olympiateilnahme und wohl auch gleichzeitig die letzte. So sieht es jedenfalls seine persönliche Zukunftsplanung vor.
Nur mit Mühe hat er die volle Konzentration auf den Startvorgang finden und seine Gedanken an seine so unerwartet verstorbene Mutter beherrschen können, der er am Gabe geschworen hatte, ihr eines Tages einen ganz großen Erfolg zu widmen. Und dann war da die immer noch ausstehende Abrechnungen mit seinem ihm wenig zugeneigten und ihn kaum bzw. nur widerwillig unterstützenden Vater, der sich nach dem plötzlichen Tod der geliebten Mutter als mieser Egoist erwiesen und ihn jämmerlich allein gelassen hatte.
Noch längst nicht quitt war er auch mit dem Bund Deutscher Radfahrer, der ihn zwar jahrelang gefördert hatte, aber in den entscheidende Krisen, die jeder Leistungssportler durchläuft, stets hatte fallen lassen, nicht zuletzt sogar die offensichtlichen Dopingpraktiken einiger nationaler Konkurrenten großzügig übersehen oder kaum geahndet hatte. Der enorme Druck, es heute allen zeigen zu können, die ihm nichts oder zu wenig zugetraut hatten, lastete auf seinen breiten, jugendlichen Schultern. Er spürte instinktiv, dass sich ihm eine solch großartige sportliche Chance nie wieder bieten würde.
Erst mit der Erinnerung an den Song „It´s A Long Way To The Top“ dieser unbekannten Schweizer Hardrockband, den ihm Kleemann eines Tages nach einer der vielen demotivierenden Niederlagen, die er jedes Mal als bedrohlichen Rückschlag empfand, als Motivationslied zugesteckt hatte, erlangt er in letzter Minute wieder die Fassung. Die harten Gitarrenriffs und der einhämmernde Refrain mit den aufmunternden, den Statistiken der Sportwissenschaft so sehr entsprechenden Worten putschen ihn auch diesmal auf.
Nach Dutzenden von Rennen über die Kilometerdistanz weiß er, wie sehr es auf die ersten 100 Meter ankommt. Serienweise hat er diesen ersten Rennabschnitt unter Anleitung und Aufsicht von Kleemann geprobt. Weniger als 10 Sekunden muss er dafür benötigen, sonst wären die Medaillenchancen oder auch nur eine gute Platzierung dahin, denn die Weltelite ist in den letzten Jahren immer dichter zusammengerückt. Der kleinste Fehler am Start und schon ist man auf der Verliererstraße.
So ist es ihm bei der nationalen Ausscheidung zur vorjährigen Bahnrad-WM ergangen, als er trotz eines angebrochenen Handgelenks, vom Mannschaftsarzt „fit gespritzt“, in ein an sich aussichtsloses Rennen gegangen war, das er bereits nach einer halben Runde verloren hatte. Diesmal hatten sie anscheinend alles richtig gemacht, was ihnen in den Jahren seit seinen ersten Anfängerrennen nicht allzu oft gelungen war.
Unter Einsatz all seiner in unmenschlich harter Trainingsarbeit angeeigneter Athletik gelingen Meine, der trotz seiner 22 Jahre schon so etwas wie ein Routinier im Zeitfahren ist, die ersten Pedalumdrehungen nahezu perfekt.
Er hasst diese Phase des Rennens, wenn schon nach wenigen Sekunden die Belastungsgrenze eigentlich überschritten ist, obwohl er gerade auf diesem Abschnitt schon länger einer der Weltbesten ist. Das Gnadenlose am Kilometer mit stehendem Start beginnt nämlich bereits auf diesen ersten, einem Straßenprofi lächerlich anmutenden, hundert Metern Form anzunehmen. Der Körper, aufgrund der hohen Übersetzung und des ebenfalls in Bewegung zu setzenden verteufelt hohen Körpergewichts seines Fahrers zu äußerster Kraftanstrengung gezwungen, würde am liebsten schon nach dieser Kurzdistanz die auf ihn noch wartenden Höllenqualen meiden.
Langsam fühlt er, dass die „Kiste“ ins Rollen kommt, die Fahrt wird ruhiger, das hin und her Gewackel des Sattels legt sich, der Widerstand wird geringer, die Fahrlinie gerader. Der sicher werdende Blick richtet sich nach vorne auf die unsichtbare, weil auf der Bahn nicht markierte, 100-Meter-Marke. Sie ist das erste Zwischenziel in diesem ultimativen Rennen. Wie im Training versucht er, so schnell wie möglich diesen Abschnitt zu bewältigen.
Die spätabendliche, schwülwarme Luft in Südkoreas Hauptstadt, die von leistungsfördernder Windstille begleitet wird, hilft ihm dabei, die gigantisch hohe Übersetzung zu bewältigen.
Trotz der physischen Überbeanspruchung fühlt er langsam die Zuversicht in sich wachsen und gewinnt jene mentale Stärke, die ihn schon in anderen Extremsituationen erfolgreich sein ließ.
Noch vor einem Jahr hätte er sich nicht an solch eine ungeheure Übersetzung getraut, war doch gerade er für seine enorme Trittfrequenz bekannt, mit der er seine Anfangserfolge als mit knapp 80 Kilogramm Körpergewicht bei einer Größe von 1,93 m wenig athletischer Kilometerfahrer auf der Bahn erringen konnte. Erst in mühsamer Überzeugungsarbeit und durch ein verschärftes Krafttraining mit und ohne Rad hatte ihn Kleemann dazu bringen können, einmal eine Übersetzung jenseits der erfolgreichen 93 Zoll zu ketten. Der erste ernsthafte Versuch bei den Meisterschaften seines Landesverbandes war trotz erfolgreicher Titelverteidigung gründlich daneben gegangen. In der letzten Runde waren ihm dermaßen die Schuhe aufgegangen, dass er nur noch mit Mühe ins Ziel gekommen war. Nach beharrlichen weiteren Experimenten hatte er sich in den letzten Monaten vor Olympia ganz vorsichtig Schritt für Schritt dieser Hammerübersetzung, die auch die Konkurrenz aus dem Ostblock und die Australier bewegten, angepasst.
Der Heimtrainer verfolgt mit der obligatorischen Rennmütze auf seinem nur noch von schütterem Haarwuchs bedeckten Kopf auf einsamen Posten oberhalb der Start- und Ziellinie am äußersten oberen Bahnrand das Startgeschehen. Durch sein jahrelanges Engagement im Radsport war er fast schon zu einem Einzelgänger geworden, zu einem Mann, der seine Vergangenheit hinter sich ließ, der alte Freundschaften nicht weiter pflegte. Sein flüchtiger, nervöser Blick sieht auf der elektronischen Anzeigetafel die Ziffern 182 und den Schriftzug MEINE, TOBIAS - FRG aufleuchten.
Mit der privaten Stoppuhr in der feuchten, leicht verkrampften Hand erlebt der 38-jährige die ersten Sekunden der Startnummer 182 im Kampf um olympische Ehren für die Bundesrepublik Deutschland. Ein ohnmächtiges Glücksgefühl durchströmt seinen immer noch athletischen Körper. Erst jetzt in dritter Generation ist es einem Kleemann gelungen, sich für Olympische Spiele - wenn auch „nur“ als Trainer - zu qualifizieren. Ihm ist es vergönnt, diesen alten Familientraum zu verwirklichen, an dem Großvater und Vater als Radrennfahrer bzw. Langstreckenläufer vor allem aufgrund der beiden Weltkriege scheiterten.
Die Startnummer 182 nähert sich dem Ausgang der ersten Kurve. Die Zuschauer nehmen wahr, dass der Fahrer ins Rollen gekommen ist und seinen großen Gang zu beherrschen scheint. Die wegen seiner Körpergröße weit aus dem Rahmen ragende Sattelstütze nähert sich dem Gesäß, es kann nicht mehr lange dauern, bis er sich in die sitzende Position begibt.
Noch immer sind die Bewegungen von Mensch und Rennmaschine unruhig. Nur mit Mühe scheint das Arbeitsgerät der menschlichen Krafteinwirkung gewachsen zu sein. Der sensible Betrachter spürt die eigentlich nicht wahrnehmbaren Verwringungen des ultraleichten Materials. Die ursprünglich zerstörerischen Kräfte werden in konstruktivem Sinne in Höchstgeschwindigkeit umgewandelt. Der schwer zu findende Kompromiss zwischen Haltbarkeit und Leichtigkeit ist geglückt. Der Mensch kontrolliert die Technik und macht sie sich zu Diensten im großen Spiel um Siege, Medaillen und Rekorde.
Der junge Mann auf der Fahrt zu olympischen Ehren muss jetzt nur noch die rasende Fahrt weiter unter Kontrolle halten und die immer stärker werdenden, quälenden Schmerzen ertragen. Schmerzen, denen er schon häufiger, nicht nur im Sport, ausgesetzt war.
Der letzte Fahrer in diesem olympischen Finale hat die ominöse 100-Meter-Marke erreicht, Kleemanns Uhr zeigt inoffizielle und deshalb leider nicht mit den Zeiten der Konkurrenten vergleichbare 9,79 Sekunden an, eine Superzeit, falls er sich nicht vor Aufregung verstoppt haben sollte. Der erste Schritt zu einem sehr guten Abschneiden ist jedenfalls getan. Der zweite Teil der alten Trainerweisheit, dass Kilometerrennen zwar erst in der letzten Runde gewonnen werden, aber schon auf den ersten 100 Metern verloren werden können, hat sich zumindest nicht bewahrheitet. Die Startnummer 182 wird sich in wenigen Augenblicken auf den Sattel setzen und die rasende Fahrt in Richtung zweiter Kurve fortsetzen. Die Geschwindigkeit wird dann gut 60 Kilometer pro Stunde betragen, die Phosphatvorräte werden allmählich verbraucht sein und die Lungen werden anfangen zu brennen. Die Trittfrequenz nähert sich den angestrebten 130 Umdrehungen pro Minute.
Die Herzfrequenz wird in einem für normal Sterbliche lebensgefährlichen Bereich um die 200 liegen, die mit knapp 16 bar aufgepumpten Reifen fühlen sich wie Hartgummipneus einer längst vergangenen Epoche an und bieten, je schneller die Fahrt wird, verhältnismäßig immer weniger Widerstand. Dafür droht der Luftwiderstand ins Unermessliche zu steigen, die Fahrt wird zum Sprint gegen eine Betonwand. In dieser Ausnahmesituation nimmt das menschliche Handeln masochistische Züge an. Wer tut sich so etwas an? Wo liegt der Sinn für dieses augenscheinlich
Unvernünftige Tun?
Fragen, die Menschen, die sich freiwillig in Extremsituationen begeben – seinen es die Abenteuer eines Reinhold Messner, aber auch die Lebensweise von Eremiten oder auch nur von Mönchen in ihren weltabgeschiedenen Gemeinschaften, immer wieder gestellt werden.
Tobias Meine hat für solche philosophischen Betrachtungen jetzt keine Zeit. Er muss die Fahrlinie möglichst nah an der schwarzen Messlinie halten, um jeden Millimeter feilschen und vor allem vermeiden, von den ungeheuren Fliehkräften zu weit aus den Kurven getragen zu werden oder die Schaumstoffstreifen zu berühren, die die Messlinie von der verbotenen blauen Zone abtrennen. Jeder kleinste Schlenker kostet Sekundenbruchteile, die er um keinen Preis zu verschenken hat. Inzwischen werden die Rennen nicht mehr nach Sekunden oder Zehntelsekunden, sondern oft im Hundertstelsekundenbereich entschieden.
Außerdem muss er die sich in solchen Extremsituationen leicht einstellenden Ängste kontrollieren: Die Angst, einen Reifen- oder einen anderen Materialschaden zu erleiden, die Angst in einen plötzlich aufkommenden Gegenwind auf dem offenen Velodrom von Seoul zu geraten oder den Körper überreizt zu haben und mit dem unsichtbaren Mann mit dem Hammer Bekanntschaft zu machen, der schon viele voreilige Medaillenträume platzen ließ.
Auch die Zwischenzeiten wird er nicht wahrnehmen, sie werden ihm kaum hilfreich sein, zumal sein Vertrauter diesmal nicht am Bahnrand stehen und ihn mit infernalischem Gebrüll anfeuern und ihm Zahlen und andere eigentlich völlig sinnlos erscheinende Anweisungen zurufen darf. So wurde schon in manch einem wichtigen Bahnradrennen die Einsamkeit erträglich, wenn er spürte, dass sie eigentlich zu zweit fuhren. Nähe besiegt Ängste und Verlassenheitsgefühle, auf einmal ist man nicht mehr allein, wenn auch der Verbündete eher einer im Geiste ist.
Wenige Augenblicke nach dem Passieren der 100m-Marke erreicht die Startnummer 182 die Linie, an der die 200m-Zeiten für die Sprinter genommen werden. Er hat sich immer noch nicht in den Sattel begeben und absolviert Sekundenbruchteile später auch schon die erste halben Runde auf der Mitte der Gegengraden. Seine Fahrt sieht weiterhin äußerst dynamisch und energisch aus.
In der Aufregung verpasst Kleemann seine private Zeitnahme an dieser Stelle. Sein subjektiver Eindruck sagt ihm aber, dass sein Schützling super ins Rennen gekommen ist und zumindest erst einmal eine äußerst starke erste Runde ins Haus steht. Nun gilt es, die erreichte optimale Geschwindigkeit möglichst lange zu halten und in den nächsten zwei Runden so wenig Fahrt wie möglich zu verlieren.
Gleichzeitig gilt es das nur dem Erfahrenen zugängliche Limit, das wie eine unsichtbare Schranke die individuellen Leistungsfähigkeit begrenzt, nicht zu überschreiten. Die unmittelbare Strafe wäre das nicht zu verhindernde Abriegeln unzähliger Muskelzellen und damit die Reduzierung des Leistungsniveaus auf das eines Hobbysportlers. Meine hat im Laufe der Zeit ein sehr feines Gespür für diese Gesetzmäßigkeit entwickelt und schraubt sich immer messerscharf an dieser Grenze weiter um die Olympiabahn.
So passiert er in atemberaubender Fahrt die erste halbe Runde und biegt zum ersten Mal auf die Zielgerade ein. Auf der Tribüne werden einige Betreuer angesichts seiner explosiven Vorstellung nervös und blicken erwartungsvoll auf die Zeitanzeige im Innenraum, die nach dem flüchtigen Kontakt mit dem Vorderreifen bei 23,28 Sekunden, knapp drei Zehntelsekunden hinter dem bis dahin Führenden, stehen bleibt.
Durch die Zuschauerränge geht ein Raunen, man registriert, das er sich damit vorerst auf Platz vier befindet. Vor ihm rangieren nur noch der sowjetische Favorit, der starke Australier und der Ex-Weltmeister aus der DDR.
Auch Kleemann müsste eigentlich sehr zufrieden sein, weiß er doch, dass die Stärke seines Schützlings eigentlich erst in der zweiten Runde kommt. Die enorme Aufregung, die sich seiner seit dem Startschuss bemächtigt hat, verhindert jedoch eine halbwegs rationale Wahrnehmung.
Meine spürt, dass er jetzt in seinem Element ist. Eigentlich wäre er der ideale Fahrer für die 2-Runden-Distanz, die leider nicht im offiziellen Wettkampfangebot steht. Im Geschwindigkeitsrausch laufen seine Beine rund wie Windmühlenflügel bei einer starken Brise. Seine Fahrlinie verläuft ruhig und entschlossen immer parallel zur Messlinie. Die hohe Übersetzung verhindert viele kleine Schlenker, die die unruhigere Fahrt in kleineren Gängen unweigerlich nach sich zöge.
Auch innerlich wachsen Zutrauen in die eigene Leistungsfähigkeit und Zuversicht. Die zweite Runde ist doch irgendwie sein Metier. In rasender Fahrt biegt er zum zweiten Mal auf die Zielgerade ein und überrollt wenige Augenblicke später zum zweiten Mal den Zielkontakt. Die Stadionanzeige zeigt sachlich-präzise 43,01 Sekunden an. Kann er dieses Niveau ohne allzu große Geschwindigkeitseinbußen aufrecht erhalten?
Kleemann hält vor Aufregung den Atem an. Das bedeutet Platz 2. Sein Eleve hat tatsächlich den Australier um wenige Hundertstel und den Mann aus dem anderen Deutschland schon deutlich überholt und sich um zwei Plätze verbessert! Jetzt liegt nur noch der große Favorit vor ihm, der seinen Vorsprung allerdings auf eine knappe halbe Sekunde ausgebaut hat.
Allen aufmerksamen Beobachtern ist jedoch nicht entgangen, dass der auf der letzten halben Runde Probleme mit seiner Sattelaufhängung bekommen hatte. Der Trainer weiß, dass eine Medaille in greifbare Nähe gerückt ist. Er kann seine Emotionen kaum noch beherrschen und würde am liebsten aus dem Velodrom laufen, um sich wenigstens körperlich abzureagieren.
Auch der Jüngere merkt, dass ihm heute der große Wurf gelingen kann. Mit dem Eintritt in die Schlussrunde hat jedoch die Übersäuerung ihren Höhepunkt erreicht. Von nun an bestimmt die mentale Stärke eher den Ausgang des Rennens als die physische Verfassung des Athleten. Obwohl jeder Teilnehmer an diesem olympischen Spektakel sicherlich genug Erfahrung mit dieser kritischsten Rennsituation besitzt, kommt die komatöse Phase des Kilometers doch auch immer wieder überraschend und brutal über die sportlichen Hauptdarsteller. Die letzte Runde wird zur Ewigkeit, der Rennfahrer begibt sich in eine Art dunklen Tunnel .
Meine weiß, dass es von nun an auf unbeugbare Willenskräfte ankommt. Er muss die immer heftiger werdenden Schmerzen versuchen zu ignorieren. Der Körper arbeitet nur noch mechanisch von unsichtbaren Kräften gesteuert, die Fahrt wird unwillkürlich langsamer und langsamer. Die Wahrnehmung ist extrem reduziert, er fährt wie im Rausch. Sein Herz droht zu platzen, die Lungen brennen höllisch und die Blutbahnen in seiner Beinmuskulatur fühlen sich wie mit Blei gefüllt an. Der gesamte menschliche Bewegungsapparat scheint kurz vor dem erzwungenen Stillstand zu stehen.
Auf der Gegengeraden wird seine Fahrt für einen kurzen Augenblick unsicherer. Er gerät etwas ins Schlenkern und entfernt sich dabei unmerklich von der Messlinie. Seine wie Kolben eines überhitzten Motors arbeitenden Beine gehen von einem rollenden in einen eher stampfenden Bewegungsablauf über. Sollte ihm nun das, was dem Russen als technisches Versagen passiert ist, sozusagen als biologische Gesetzmäßigkeit passieren?
Der quasi väterliche Freund unter den Zuschauern quittiert seine Beobachtung mit einem weiteren Anstieg seines Blutdrucks, hält die Stoppuhr in sinnloser Verkrampfung und fiebert mit hochrotem Kopf den entscheidenden letzten Metern entgegen.
Meine biegt in die letzte Kurve und erkennt mit verschwommenem Blick den weiß eingefärbten Zielstreifen in nebulöser Ferne. Sein überstrapazierter Körper arbeitet nur noch unbewusst. Die Muskeln drohen jeden Augenblick den Befehlen aus seiner Schaltzentrale den Gehorsam zu verweigern. Das Rauschen der Hinterradscheibe wird zum schmerzvollen Dröhnen, die Anfeuerungsschreie der deutschen Schlachtenbummler klingen wie ein Säuseln aus weiter Ferne in seinen glühenden Ohren. Es ist ihm nicht mehr möglich, irgendeinen klaren Gedanken zu fassen. Er wird ausschließlich von einem fast unmenschlichen Willen vorwärtsgetrieben. Einem Willen, der ihm in unzähligen härtesten Trainingseinheiten im Laufe vieler Jahre anerzogen wurde. Sollte seine gesamte Karriere auf diese Minute hier im fernen Seoul ausgerichtet gewesen sein?
Kurbelumdrehung für Kurbelumdrehung nähert er sich dem Punkt der Erlösung. Er hat die letzte Kurve doch noch relativ sicher durchfahren und die Zielgerade schon erreicht. Jetzt sind es nur noch wenige Momente bis zur rettenden Ziellinie. Mit einer allerletzten übermenschlichen Willensanstrengung schiebt er sein Velo förmlich auf diese Markierung.
Zeitgleich leuchtet die von ihm gefahrene Zeit in weißen Zahlen auf schwarzem Grund an der großen Stadionanzeige auf.
Kleemanns Blick geht unwillkürlich hoch zur elektronischen Anzeigetafel. Er lässt seinen Emotionen freien lauf, Tränen strömen über sein Gesicht.