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Nur ein Morgen
Der Regen klatscht in dicken, schweren Tropfen in mein Gesicht. Hinter mir Kilometer um Kilometer, Asphalt, Feldweg, Steine, Gras, Sand, ich nehme es nicht mehr wahr.
Nur weg. Weg von der Angst, weg von den Zweifeln, einfach weg.
Salz auf meinen Lippen. Die Regentropfen mischen sich mit Schweiß und Tränen, die mir messerscharf in die Wangen schneiden. Mein Pullover ist durchweicht, der Saum der Hosenbeine schlägt mir nässeschwer um die Knöchel. Wenn ich stehen bliebe würde ich zittern, doch ich laufe. So schnell, dass ich mich selbst nicht mehr fragen kann. Atme so laut, dass ich die gehässige Stimme übertöne, die immer wieder die bösen Worte „unfähig“, „wertlos“, „dumm“ durch meinen sich marternden Schädel wirft. Übertöne so auch die surrende Leere des Alleinseins, die Panik, nicht angenommen zu sein. Nur das Jaulen der Brandung dringt an meine tauben Ohren.
Ich renne so lange, bis es nicht mehr weitergeht, bis ich vor lauter Erschöpfung umfalle.
Einen kurzen Moment lang bin ich glücklich, schwebe über dem nassen Boden, fühle die Regentropfen nicht, nicht die Kälte und auch nicht meine Tränen. Einen kurzen Moment lang liegt ein Lächeln auf meinem Gesicht, streift ein Sonnenstrahl die müden Augen …
Die Sonne versteckte sich an diesem Morgen hinter grauen Wolken. Das einheitliche Grau machte es ihr leicht, die Überbleibsel des Traumes über das Erwachen hinwegzuretten. Was für ein Traum! Wieder einmal malte sie Gespenster in ausnehmend bunten Farben an sämtliche vorhandenen Wände. Marie hatte die beiden seit einem halben Jahr nicht gesehen, man war im Streit auseinander gegangen. Im Streit darum, dass sie ihren eigenen Weg gewählt hatte, sich ein eigenes Leben aufbauen wollte, weg von den Menschen, die ihr irgendwann einmal die Freundschaft angeboten hatten und die sie jetzt am liebsten nicht mehr kennen würden. Vielleicht auch weg von althergebrachten Vorstellungen, wie ihr Leben zu leben war? Sinnierend stand die junge Frau vor dem Spiegel und bürstete durch das lange dunkle Haar.
Heute Abend würde sie ihnen nicht mehr ausweichen können. Ihnen nicht und nicht dem Hass, der beim letzten Mal aus den beiden Augenpaaren gesprüht war, nicht der Missgunst, der aus beider Mimik gesprochen hatte. Nur, weil sie gegangen war?
Dann stürzt die Welt ein.
Das Warum ist wieder da. Diese ständigen Fragen, auf die ich keine Antwort weiß. Warum nannten sie sich Freunde, wenn sie mich doch verrieten? Warum verbreiten sie Lügen? Warum machen sie mir Angst? Warum lassen sie mich nicht einfach in Ruhe mein Leben leben?
Und darauf folgend: Warum habe ich ihnen vertraut? Warum immer wieder? Warum diese Dummheit?
Wut, die in Tränen zerfließt. Zittern, das den Körper so sehr erschauern lässt, dass ich in meinem Kopf das Krachen der Knochen vernehme. Und Angst, unbändige Angst. Nicht genug zu sein, zu viel zu fühlen, zu zerbrechen an all den Gerüchten, den Lügen, den Boshaftigkeiten.
Schlechtes Gerede verbreitet sich von allein, doch sie kannte den Ursprung, hatte ihn sogar bestätigt bekommen. Der Hintergrund aber blieb im Verborgenen. Wieso sollten Menschen sie schlecht machen wollen, die sie als Freundin bezeichnet hatten? Sie nannten sie vor anderen unfähig, jähzornig und altklug, hatten aber nicht den Mut, ihr diese Vorwürfe direkt ins Gesicht zu schleudern. Beide hatten Marie nicht direkt auf ihren Weggang angesprochen, keiner hatte ihr auch nur ansatzweise zu verstehen gegeben, dass es ein Problem gäbe. Sie wollte keinen Streit, sie wollte eine eigenständige Person sein, ihre eigenen Erfahrungen machen dürfen.
Der Spiegel reflektierte an diesem Morgen ein müdes, zerfurchtes Gesicht, das die Nachtmahre der Albträume nicht losgeworden war. Marie ließ sich kaltes Wasser über das Gesicht laufen, kniff ein paar Mal in die blassen Wangen und biss sich auf die Lippen.
Die Gerüchte kamen nur tröpfchenweise zu ihr zurück. Je länger die Liste wurde, umso größer wurde Maries Angst und die Fragen, die sie sich selbst zu stellen begann. Was war denn so falsch daran gewesen, zu gehen? Aus dem Verein auszutreten, nur noch für sich selbst Verantwortung tragen zu wollen und sich sicher zu sein, dass sie für diese Verantwortung bereit war.
Müde erhebe ich mich, lasse den Boden unter mir, nehme die Kälte daraus mit. Wie gelenkt gehe ich den Weg weiter, auf dem ich zusammenbrach. Erst Schritt um taumelnden Schritt, dann Schritt um fester werdenden Schritt. Heraus aus dem Schlamm, das Stolpern muss ein Ende haben. Die Arme schwingen an den Seiten, die Hände zu Fäusten geballt. In den Augen liegt nur Härte, in den Mundwinkeln ein maliziöses Grinsen.
Ihr kriegt mich nicht klein.
Frisch geputzte Zähne leuchteten ihr im Neonlicht des Badezimmerschrankes entgegen, als sie ihr Spiegelbild probehalber anlächelte. Ein Wolfslächeln. Die Dusche würde die letzten Unsicherheiten beseitigen.
Wohlig seufzend ließ sie das heiße Wasser über den Rücken rinnen.
War es möglich, dass sie Angst vor ihr hatten?
Angst davor, dass sie die neue Generation verkörperte, dass sie sich nicht mehr nur um Althergebrachtes kümmerte sondern nach vorn sah? Vielleicht zu schnell, vielleicht zu deutlich und vielleicht zu rigoros. Aber sie tat es und wusste, sie würde es immer wieder tun.
Es folgt die sorgfältige Wahl meines Äußeren. Ich bin schön. Und allemal gut genug für Euch.
Die Fragmente meiner Angst bleiben im Strudel des ablaufenden Wassers in der Dusche zurück.
Schwungvoll stoße ich die Tür auf und gehe hoch erhobenen Kopfes in den neuen Tag.