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Nur ein Penner
Frühling, Hauptbahnhof Münster:
Jemand wankte auf mein Taxi zu. Ich stand neben dem Wagen, und was da in meine Richtung kam, war ein dicker Penner. Die nackte Kugel seines Bauches quoll über die Hose. Die Haut seines Gesichtes war krebsrot.
"Hallo, Herr Taxifahrer." sagte er.
"Hallo." sagte ich. Natürlich wollte er schnorren, hier am Bahnhof gab es viele von denen.
"Habe doch gleich gesehen, dass du ein Kumpel bist." sagte er. "Ich war gerade beim Spiel auf Schalke und habe unsere Mannschaft nach vorne geschrieen. Jetzt bin ich hungrig. Kannst du nicht einem armen Schalker Kumpel mit ein paar Groschen aushelfen, damit er sich ein Brötchen kaufen kann?"
Erstaunt sah ich ihn an. Ich war nämlich ergebener Schalke-Fan, schon seit dem Kindergarten, und auf meiner Heckablage lag immer eine Fahne. Das Spiel hatte ich im Radio verfolgt, leider hatte unsere Mannschaft verloren, und er schien darüber noch trauriger zu sein als ich. "Natürlich", sagte ich und drückte ihm fünf Groschen in die Hand, dann überlegte ich kurz und legte noch einen nach: 60 Pfennig kostete bei Aldi gegenüber das billigste Bier.
"Danke." Er steckte das Geld in die Tasche und starrte auf meine Hand, auf die Zigarette, die dort qualmte. Es dauerte einige Sekunden, bis ich begriff. "Willst du eine?"
"Danke." Diesmal lächelte er. "Du bist ein guter Kumpel." Er hob die Hände, als wolle er mich umarmen, und eine Wolke bitteren Schweißes schlug mir entgegen. Schnell wich ich zurück.
"Ich muss arbeiten", sagte ich, "Auf Wiedersehen." Ich drehte ihm den Rücken zu. Er stand noch einige Sekunden hinter mir, dann wankte er davon.
"Was wollte der Bursche?" fragte Andreas, ein hagerer Kerl mit verkniffenem Gesicht. Er fuhr seit 23 Jahren und saß im Vorstand der Genossenschaft.
"Hat Unsinn erzählt." sagte ich.
"Aber du hast ihm was gegeben?" Er sah mich misstrauisch an, als wäre das ein Verbrechen.
"Warum nicht?"
Andreas wandte sich zu den anderen Fahrern, die neben ihm standen: "Vielleicht war das sein Vater." Sie lachten und ich wurde rot, aber sagen konnte ich nichts; ich war nur einfacher Fahrer.
"Apropos Schmutz." sagte Andreas. "Heute ist Samstag. Die Woche ist rum und du hast deinen Wagen noch nicht gewaschen. Alle Taxen müssen picobello sauber sein. Wenn du nicht gleich noch in die Waschanlage fährst, muss ich dich sperren lassen."
Ich war schon gestern in der Waschanlage gewesen, aber es wäre nicht gut, ihn zu provozieren. "Natürlich fahre ich in die Waschanlage." sagte ich.
Zwei Wochen später war der Dicke wieder da. Er ging zum Wagen vor mir. "Geh lieber arbeiten." sagte der Fahrer. Ein Windstoß ließ die Hose des Penners flattern und ich sah, die Beine waren dünn wie Stelzen.
Er kam zu mir. "Hallo, Kollege."
"Hallo." sagte ich. "Wie war das Spiel heute?" Seine glasigen Augen blinzelten und er öffnete und schloss die Lippen mehrmals, als müsse er sich erst erinnern, wie man ein Gespräch führt. Der Wind wehte in mein Gesicht und nun konnte ich ihn riechen: eine ölige Mischung aus Fäulnis, Kot und altem Schweiß dünstete aus seinem Schritt, und ich fragte mich, wie er das aushielt?
"Ich war nicht im Stadion." sagte er. "Sie lassen mich nicht mehr rein." Seine Stimme bekam einen weinerlichen Unterton. "15 Jahre war ich auf Schalke und jetzt lassen sie mich nicht mehr rein."
Er kam näher. Einen Moment sah ich ihn vor dem Stadion stehen, alleine vor dem Tor, während er mit offenem Mund dem Johlen und Trompeten lauschte. Seine Augen glänzten. Er wollte in seinem Suff doch nicht anfangen zu heulen - hier, vor allen Leuten, direkt neben meinem Wagen?
"Komm mir nicht zu nahe!" zischte ich, etwas härter, als ich das gewollt hatte. Erschrocken wich er zurück. "Hier." sagte ich. 50 Pfennig drückte ich ihm in die Hand. Achtlos steckte er das Geld in die Tasche. Er wollte gehen, da hielt ich ihn zurück. "Noch 'ne Zigarette?"
"Danke." sagte er und lächelte. Die Zigarette steckte er in seine Tasche. Eine alte Ledertasche, die über seiner Schulter hing. Die Tasche hatte er immer dabei, aber geraucht hat er nie. Vielleicht rauchte er zu Hause, obwohl, wo sollte das schon sein bei so einem?
In den nächsten Wochen wurde es ein Ritual. Jeden Samstag schlenderte der Dicke zu meinem Taxi. Meistens nannte er mich seinen Schalker Kumpel, manchmal sagte er auch "Bonjour Monsieur" und lüpfte einen imaginären Hut. Ich gab ihm eine Mark und natürlich seine Zigarette.
Ein paar Wochen später:
Etwas stimmte nicht mit ihm. Er kam wie immer aus dem Park. Die anderen Penner hatten so eine Art Treffpunkt dort, wo sie rauchten, tranken und Karten spielten, aber ich hatte ihn noch nie zusammen mit den anderen gesehen. Er ging zu mir, sagte höflich Guten Tag und bekam die Mark und die Zigarette. Ich reichte sie ihm, aber er konnte sie nicht halten. Seine Finger zuckten und auch die eine Hälfte seines Gesichtes; erst dachte ich, ist er verrückt geworden, was zwinkert er wie ein Bekloppter, aber es mussten wohl Krämpfe sein. Die Zigarette fiel auf den Boden. Nach einigen Sekunden entspannte er sich und ging weiter, sah mich gar nicht mehr an. Aber die Zigarette hatte er vergessen.
Am Abend stand ich mit den anderen Fahrern zusammen. "Ist der Pennbruder jetzt dein Freund?" fragte Andreas.
"Das arme Schwein tut mir Leid." sagte ich. "Wenn ich ihm 'ne Mark gebe, kann er sich ein Bier kaufen, sonst hat er ja nichts mehr vom Leben."
"Der soll arbeiten, ich arbeite ja auch." sagte er. Die anderen murrten zustimmend.
Ich musste an die stelzendünnen Beine des Penners denken und an seine Hände, die immer zitterten; er konnte ja nicht einmal mehr richtig gehen.
"Wir sollten das Pack nicht tolerieren." sagte Andreas. "Ist 'ne Schande, dass die Junkies und Penner hier rumlaufen und die Polizei tut nichts dagegen. Und wir Fahrer müssen mitten drinstehen."
"Er ist Penner und kein Verbrecher." sagte ich. "Wenn jemand Heroin verkauft, ist das was anderes."
"So wird man nicht ohne Grund." sagte Andreas. Ein ICE war gekommen und nun strömten die Leute aus dem Bahnhof. Wir mussten zu unseren Wagen.
Andreas sagte nichts mehr. Ich auch nicht. Ich hatte gerade Kontakte zu Leuten, die mir gute Fahrten vermitteln könnten, weite Fahrten mit Gewinn; seit ich vor drei Jahren selbstständig geworden war, lebte ich von der Hand in den Mund - ich wollte keinen jetzt Ärger mit ihm, er hatte Beziehungen.
Ich dachte schon, er hätte die Sache vergessen. Aber eines Morgens kam ich zum Bahnhof und es gab Ärger. Der dicke Penner stand auf dem Platz und die Fahrer umringten ihn.
"Nein!" rief er. Jemand zog an seiner Tasche und er schrie wie ein verwundetes Tier. Sie wichen zurück, kamen aber sofort wieder näher.
"Was ist los?" fragte ich.
"Hinterm Kiosk standen Zigaretten. Jetzt fehlen welche." sagte Andreas. Er deutete auf den Dicken. Dessen rote Augen bildeten zwei erschrockene Os.
"Er klaut immer Zigaretten!" rief jemand. "Alle wissen das."
Ein Arm stieß aus der Menge und traf den Penner in den Rücken. Der klatschte aufs Pflaster. Seine Kordhose rutschte nach unten. Er hatte nur einen Bindfaden als Gürtel. Aber er griff nicht nach der Hose, er presste die Tasche an seine Brust wie eine Mutter ihr Baby.
"Herrgott - das nenne ich einen Bremsstreifen." rief Andreas. Die Fahrer johlten. Er hatte Recht, da war Kot in der Unterhose, uralter Kot, schwarz und trocken. Einige Leute blieben stehen. Ein Vater hielt seinen Sohn an der Hand und gaffte, beide aßen Döner und starrten auf den schmutzigen Po.
"So helft ihm doch!" sagte eine alte Frau neben mir. Sie sah mich an und ich wurde rot.
"Die tun nichts." sagte ich. Sofort kam mir das unglaublich dumm vor, so was sagen Hundebesitzer immer - schließlich taten sie ihm etwas, wir sahen das ja beide.
"Mach dir nicht die Finger schmutzig", sagte jemand zu Andreas, "wenn er sich verletzt, hast du den Ärger."
Andreas nickte. "Verpiss dich." Der Dicke stand zitternd auf und stolperte davon. Er ging an mir vorbei und ich war fast dankbar, dass er mich nicht ansah.
Am nächsten Tag kam er nicht mehr.
Ich traf Hildegard. Sie arbeitete in der Bahnhofsmission, schon seit über 30 Jahren. "Kennst du den Dicken?" fragte ich.
"Welchen Dicken?"
"Der so aussieht wie Räuber Hotzenplotz. Rote Nase."
"Ach so." Hildegard lachte. "Er hatte mal einen Laden. Irgendwann bekam er einen Schlaganfall. Ich glaube, seit ein paar Jahren ist er verrückt. Er erzählt immer noch, er würde es schaffen, käme wieder nach oben."
"Was hat er denn zuletzt verkauft?"
"Er hatte einen Tabakladen." Hildegard seufzte. "Man sieht's ihm nicht mehr an, aber er war ein großer Schmeichler. Hätte viele Frauen haben können, wäre er nicht so geizig gewesen."
"Woher weißt du das so genau?"
"Erzählt man sich." Hildegard wurde rot.
Er kam nicht mehr. Einmal ging ich durch die Stadt und dachte, ich hätte ihn gesehen. Ich lief hinterher, die Zigarette lag schon in meiner Hand. Aber dann war es doch ein anderer. Auch ein Penner und er sagte erstaunt Danke, als ich ihm die Zigarette in die Hand drückte, nur lächelte er nicht, er zog auch nicht zum Dank seinen Hut, wie der Dicke es immer getan hatte.
Es wurde Winter. Die Luft voller Flocken, der Wind schnitt ins Gesicht und die Bank ganz weiß. Da hätte er auch nicht sitzen können. Erst im April war er wieder da. Er schaute in den Park. Die Sonne schien und die Röcke der Frauen wurden kürzer. Eine Blonde ging vorbei, mit Apfelpo und blauen Kuhaugen. Hätte mich interessiert, ob er das noch bemerkte.
Aber er kam nicht, obwohl ich rauchte, als ich schließlich neben ihm stand.
Später schlenderte ich an ihm vorbei. Seine Augen blieben starr.
"Hallo, Kollege." flüsterte ich. Er hustete.
"Willst du eine Zigarette?" fragte ich. Die großen Hände auf seinen Knien zitterten, aber er drehte nicht einmal den Kopf, obwohl ich die Zigarette direkt vor seine Nase hielt. Ich klappte seine Tasche auf und steckte sie hinein. Etwas sagen wollte ich auch noch, aber die Leute schauten schon.
Am nächsten Tag kippte er von der Bank. Er kippte gar nicht, er rutschte nur langsam zur Seite und lag auf dem Boden. Wir haben das erst gar nicht bemerkt, denn er rief ja nicht um Hilfe, sondern blieb einfach liegen; ein Speichelfaden lief aus seinem Mund, aber gesagt hat er nichts. Ein Krankenwagen kam und sie brauchten vier Mann, um ihn auf die Trage zu legen. Dabei rutschte sein Pullover nach oben und entblößte die gewaltige Wampe. Sie hätten ihn wenigstens runterziehen können, obwohl ich glaube, er war da schon tot.
Was sie wohl gedacht haben, als sie seine Tasche öffneten? Eine braune Masse aus Tabak und Papierfetzen, und dazwischen die Filter. Es waren Tausende, und er musste Jahre gebraucht haben, um sie zu sammeln.
[Beitrag editiert von: Quasimodo666 am 27.02.2002 um 21:35]