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Nusspli für Sinatra (Lesungsstory Düsseldorf, 9.2.07)

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Nusspli für Sinatra (Lesungsstory Düsseldorf, 9.2.07)

Ich habe die perfekte Frau gefunden - Sie ist taubstumm, sexbesessen und betreibt einen Schnapsladen.
Frank Sinatra


Ich bin nun Vierzig, war aber früher jünger. Trotzdem war ich schon immer immun gegen Musik, wie sie von Dieter Bohlens Klonkriegern gemacht wird.
Ohnehin wähne ich mich eher in den Gefilden zeitloser Musik, selbst Klassik, obwohl ich mit Woody Allen konform gehe, der mal behauptete, er verspüre beim Genuss von Richard Wagners Kompositionen stets das Verlangen, in Polen einzumarschieren.

Mein Faible gilt dem größten Sänger, Trinker und Journalistenverprügler in der Geschichte der Musik: Francis Albert Sinatra, von Uneingeweihten wie Studiobossen, der Mafia und der eigenen Familie lediglich Frank genannt. Früh auf den Brettern amerikanischer Bars und Clubs zu finden, machte er bereits mit 19 seinen Weg, wurde Vorzeigesänger einen kleinen Bigband und erwuchs schließlich zum jungen Womanizer; in New York standen Schlangen von jungen Damen vor der Radio City Music Hall, und manche dieser Schlangen waren kilometerlang. Wenn er dann sang, die Stimme benutzend, als werfe er geschmolzene Schokolade in die ersten Sitzreihen, flog vereinzelt Unterwäsche. In den Dreißigerjahren war diese zumeist aus klobiger Wolle gefertigt, was ein gelegentliches Ausweichen Sinatras erforderlich machte, aber die Magie war da – und sie blieb sechs Jahrzehnte.

Meinen ersten bewussten Kontakt mit dem Werk Frank Sinatras hatte ich Mitte der Achtziger. Ich kaufte, von den Halligalli-Kapellen aus Großbritannien und Frank Farians X-ter Boney - M-Exhumierung genervt, eine Kassette, die lediglich SINATRA hieß und dessen Hülle den Mann höchstselbst zeigte, wie er nachdenklich vor einem Mikrophon hockte, das so antik wirkte, dass ich mich genötigt sehe, Mikrophon mit »ph« zu schreiben.
Das Band enthielt nur Coverversionen, also keine ausgewiesenen Sinatra-Songs, die wir automatisch mit ihm verbinden, wenn überhaupt.
Das besondere war allerdings, wie Sinatra die Songs intonierte: Wo Peggy March »Downtown« gezwitschert hatte, als würde ein Gang in die Unter-Stadt mit anschließendem Spaziergang am Hafen Hodenkrebs heilen, setzte Sinatra auf eine etwas andere Darbietung. Bei ihm klang Downtown nach »Ab in die Stadt, sauf dich zu oder rutsch mir den Buckel runter, du Saftsack«. Zudem fügte er eine Reihe vielsagender »Rrrrrrrrrrrrrrrrrrr`s« an.
So oder so: Ich wurde zum Fan. Ich kaufte alles, was mir in die Finger kam, inklusive einer Sinatra-Büste aus Holz, die aussah, als wäre sie aus angemaltem Styropor und einer Replik der Goldenen Schallplatte für MY WAY – die selbst als Nachbildung eine Fälschung war, denn Sinatra hat für diesen Song keine Goldene Schallplatte bekommen. Trotzdem ist MY WAY der beste Titel, um beispielsweise stilvoll dem Erdreich überantwortet zu werden. Zumindest ist es passender als I will survive.
Sinatra, der in den Sechzigern im Sands in Las Vegas mit einer Attitüde auftrat, als wäre das Publikum eigentlich nur Penner, die wie durch ein Wunder in sein Wohnzimmer gefunden hatten, begann in den Neunzigern mit einer ausgedehnten Tournee über den Planeten, in deren Verlauf er dann doch ein gewisses Interesse für zahlende Fans an den Tag legte. Im Dezember 1993, so die Plakate an der Litfasssäule meines Vertrauens, würde der Weg Sinatras nach Dortmund führen, und zwar im Alter von 78 Jahren.
Auf meiner To-Do-Liste des Lebens, also den Dingen, die es für einen Mann zu tun gibt, bevor er stirbt, standen viele, viele Punkte. Sinatra live zu sehen, koste es was es wolle, rangierte auf den oberen Rängen, eingepfercht zwischen »Haare wachsen lassen, dann beim Friseur eine Dauerwelle in Auftrag geben, die man direkt vor Ort abrasieren lässt, um die Angestellten zu schocken« und »ein Kind in die Welt setzen, wobei man einen Jungen Luke Skywalker und ein eventuelles Mädchen Barbarella nennt«.
Apropos Barbarella: Auf der Liste waren noch einige Punkte, zum Beispiel: »Mit Jane Fonda schlafen«, aber dieser Punkt stammte noch aus den Siebzigern und rutschte über die Jahre immer weiter nach unten, bis er noch hinter »öfter feuchtes Toilettenpapier benutzen« landete. Egal. Sinatra Live war ab sofort Platz 1.

Das Plakat noch auf der Netzhaut, rannte ich zum Kartenverkaufsschalter in der Innenstadt; vielleicht ein bisschen übertrieben, wenn man bedachte, dass wir Februar hatten, aber ich wollte kein Risiko eingehen. Der Schalter befand sich in einer wundervoll gestalteten Passage, die früher auch einen ehrwürdigen Buchladen beherbergt hatte, welcher allerdings mittlerweile von H&M verschlungen worden ist. Das leuchtet natürlich ein. Bücher gibt es sowieso auf jedem lausigen Flohmarkt, zumeist in gutem Zustand - aber Jeans, die aussehen, als kämen sie von einem lausigen Flohmarkt, bietet nur H&M mit einer Selbstverständlichkeit an, die neu und aufregend, wenngleich vollkommen für den Arsch ist.

Der Vorverkaufsschalter war ein viereckiges Loch und bot gerade eben Platz für eine Person, einen Locher und eine Handvoll Musical-Flyer.
Die Dame des Lochs war ganz gepuderte Gleichmut, vielleicht Mitte Fünfzig; sie strickte nicht, aber ihr Blick war verschleiert, so als würde sie gleich damit beginnen. Sie hob den Kopf.
»Westernhagen«, sagte sie mit Kennermiene.
»Blödsinn«, erwiderte ich.
Ihr Blick, nun weniger verschleiert, tastete in meinem Gesicht, um meine Mimik nach einer Band oder einem Solokünstler abzusuchen. Es schien eine Art Hobby zu sein; vielleicht hielt sie es auch für Menschenkenntnis.
Ich wartete, kam ihr aber dann zu Hilfe.
»Sinatra, zweimal. Gute Plätze.«
»Wer?«, fragte sie.
Ich legte den Kopf schräg und dachte: Sie veralbert dich, gefolgt von dem Gedanken, dass sie die letzten Vierzig Jahre etwas anderes getan haben könnte als Radio zu hören, Zeitschriften zu lesen, ins Kino zu gehen, TV zu schauen oder sonst irgendwie am Leben teilzunehmen. Gleichzeitig gestand ich ihr gütig zu, vielleicht nicht jeden japanischen Godzilla-Film gesehen zu haben oder Studio-Alben von Ostblocksuppenwürfelmachenkrebs zu sammeln. Ich gestattete ihr sogar in aller Stille, die meisten Miami Vice-Folgen nicht zu kennen, auch oder vor allem, da Sinatra in einer mitgespielt hatte, aber verdammt. Sie mochte Ricardo Tubbs nicht kennen, aber doch Corega Tabs und somit, zeitbedingt, wohl auch Frank Sinatra. Das war nicht zuviel verlangt.
Dann hörte ich bei ihr den Groschen fallen. Er schien direkt aus ihrem Temporallappen und auf einen Prospekt für ein Musical über Josephs unfassbar bunten Traumbademantel zu poltern.
»Frank Sinatra?«, fragte sie.
Nicht doch - Horst Sinatra, dachte ich. Panflötenspieler aus Wattenscheid.
»In der Tat. Frank Sinatra. Nebst Orchester. Westfalenhalle. Dortmund.«
Dann öffnete sie einen schmalen Katalog und fuhr mit dem Finger dicht geschriebene Zeilen ab.
»Da«, sagte sie desinteressiert. »Tatsache. Frank Sinatra und Band. Das sind aber noch ein paar Monate. Ende des Jahres.« Dann fügte sie gedankenverloren hinzu: »Erst im Winter. So lange noch. Winter. Sinatra ist doch ziemlich alt.«
»Dieses Risiko gehe ich ein«, entgegnete ich. »Wenn er vorher verstirbt, nehm` ich Karten für die Gipsy Kings, in Gottes Namen. Gibt es schon Tickets?«
»Noch nicht. Nein.«
Ich erkundigte mich nach dem Preis. Ihr Finger bereiste erneut die Zeilen.
»Die liegen so bei…« Ihre Augen verengten sich zu so verschlagenen Schlitzen, dass ich mir fast sicher war, dass sie sehr wohl jeden Godzilla-Film gesehen hatte. » …280 DM.«
»Und wenn er nicht bei mir zuhause singt?«
Sie ignorierte den kleinen Scherz.
»Damit geht’s erst los. Wenn sie vorn sitzen möchten, haben wir 310, 340 und 365 DM.«
»Wie bitte?«, sagte ich. »Sinatra ist der größte Entertainer des Jahrtausends, wenn wir Attila den Hunnenkönig mal außen vor lassen. Keine Frage. Ol`Man River, My Way, das Rat Pack, der Oscar für Verdammt in alle Ewigkeit, ein paar hundert Affären, 1800 Aufnahmen, der Auftritt bei Al Bundy…aber 365 Mark gehen einen Tick zu weit. Für das Geld kann ich wohl erwarten, dass er mir auf der Bühne seinen Arm um die Schultern legt. Schauen Sie noch mal nach. Vielleicht stimmt die Währung nicht.«
Die Währung stimmte. Ich musste mir etwas einfallen lassen.

Winter.
Nutella war gestrichen worden, und zwar nicht aufs Brötchen, sondern von meinem Speiseplan. Ich hatte mich bis tief in den Herbst mit einem Ersatzstoff beschieden, der weder so schmeckte wie das Original, noch dessen bestechende Optik aufwies, aber 45 Prozent günstiger war. Nusspli, der Daihatsu Cuore unter den Brotaufstrichen, verlangte mir wirklich einiges ab, aber ich tröstete mich mit dem Gedanken an das Konzert.

Ich war auch nicht mehr in reguläre, teure Theatervorstellungen gegangen, sondern lediglich in die preislich günstigere Generalprobe – was ich im Übrigen jedermann ans Herz legen möchte. My Fair Lady kommt noch mal so gut, wenn Doolittle mitten in »es grünt so grün« über einen nachlässig montierten Stuhl stürzt und »SCHEISSDRECK« brüllt. Dies wird dann in der Regel nur noch durch den darauf folgenden Auftritt eines Mannes mit Akkuschrauber gekrönt, der versucht, unsichtbar zu sein, während er in seinem Blaumann nach einer Schlitzschraube sucht.
Jedenfalls sparte ich an allen Ecken und Enden. Ich benötigte ohnehin nur eine Konzertkarte; die Fronten zwischen meiner Freundin und mir hatten sich über den Sommer soweit verhärtet, dass ich gezwungen war, mir in meiner eigenen Wohnung Simply Red und ihr Gemecker über minderwertigen Nussnougataufstrich anzuhören. Sie hätte mich vielleicht trotzdem zum Konzert begleitet, aber ein gemurmeltes »Dir zuliebe« mit Opfermiene für 365 Mark wollte ich nicht provozieren. Ich suchte den Schalter in der Passage erneut auf.
Statt der älteren Dame saß dort nun eine bedeutend Jüngere. Sie trug einen Rolli, der sie ebenso einengte wie ihr Arbeitsplatz und rauchte sich mit Mentholzigaretten eine Nebelbank zusammen. Ich wartete auf mein »Westernhagen«, wurde stattdessen aber wie ein Mensch begrüßt.
»Gibt es noch Karten für Sinatra?«
Einen entsetzlichen Moment lang dachte ich, sie würde verneinen. Tut mir Leid, die waren schon im März ausverkauft. Gestern gabs noch vierzig VIP-Tickets, aber die hat jetzt alle Westernhagen.
»Allerdings«, erwiderte sie jedoch. »Welche Kategorie?«
»Die Königsklasse«, sagte ich. »Den besten Platz, den Sie haben.«
Sie zog die Stirn in Falten.
»Ich habe etwa 400 gute Plätze.«
Das konnte unmöglich sein. Was lief hier für ein Kokolores?
»Wo ist eigentlich Ihre Kollegin?«
»Welche?«
»Die, die fast strickt.«
»Wer?«, fragte sie.
Ich produzierte eine wegwerfende Handbewegung.
»Ihre Kollegin. Etwas älter.«
»Ach so«, sagte sie. »Krankenhaus.«
Erzähl du mir noch mal einen von Winter, dachte ich und zählte das Geld ab.


Mein Kleiderschrank offenbarte Unerfreuliches. Eingedenk das Plakatmotivs, welches das Konzert ankündigte, konnte ich kaum in Jeans und Motto-T-Shirt aufkreuzen, nicht mal, wenn das Motto »Verzeihung, aber das Atelier meines Maßschneiders ist explodiert« gewesen hätte.
Denn Sinatra war der Stilgott: Überlebensgroß und sanft von hinten beleuchtet, zeigte er sich von seiner besten Seite: Graues Toupet über lächelnden Jackettkronen im Wert eines Hubschraubers, darunter verschränkte Arme, die in den Ärmeln eines Smokings steckten, der so gut saß, als handele es sich bei dem Kleidungsstück um eine Airbrush-Arbeit. Frank Sinatra, jenseits jeden menschlichen Rentenalters, sah nicht eben aus wie ein Mann, der in ausgeleierten Shorts vor einem Großbildfernseher mit Grünstich hockte, der guten alten Zeit nachtrauerte und von seinem Diät-Martini aufstieß. Auf diesem Poster wirkte er wie eine Mischung aus einem durch seine Auferstehung erheiterten Tut-Ench-Amun, dem Sechs-Millionen-Dollar-Mann und Gott, wenn der Himmel ein Puff gewesen wäre. Das Poster war riesig, und Sinatra wirkte darauf ebenso gigantisch. Man kam nicht umhin, ihn sich als vier Meter große Lichtgestalt vorzustellen, deren Schritte in Lackschuhen von Gucci den Bühnenboden erbeben lassen würden. Kurz gesagt: Mit seinen verschränkten Armen sah er aus wie ein Türsteher, und ich hörte förmlich sein »Vergiss die popeligen 365 Mark – mit der Hose kommst du hier nicht rein, Sportsfreund.« Ich würde in der ersten Reihe sitzen. Jeans waren definitiv gestorben.
Meine Freundin mied mich, während ich den Kleiderschrank durchwühlte. Der Schrank, 4 Meter breit, war in zwei Bereiche abgeteilt: Die drei Meter sechzig der linken Seite beherbergten den Fundus der Königin von Saba, für die meine Freundin sich offenbar hielt; sie bevorzugte witzlose Jeans von Esprit, von der eine der anderen aufs Haar glich, und Kostüme mit wuchtigen Schulterpolstern. Sie hatte ein Püppchengesicht, aber wenn sie im Kostüm einen Schatten warf, sah der aus als gehöre er zu George Foreman.
Die restlichen vierzig Zentimeter Schrank gehörten mir. Es war zum Haare raufen: Alles, was im Dunkel des Schranks schwarz wirkte, erwies sich bei Tageslicht als dunkelgrau oder ehemals weiß bzw. ecru, ein gebrochenes beige, in den Neunzigern schwer in Mode, für mich aber seit jeher die Geschlechtskrankheit unter den Farben.
Letztlich fand ich doch noch meinen guten Kord- Anzug. Er hatte im Laden schwarz gewirkt, auf der Straße graublau und in Neonlicht grünlich, aber da ich damit nicht in den Kernspintomographen wollte, würde es gehen.
Ich stand zu Sinatra, ich stand dazu, dieses Konzert der Konzerte zu besuchen, und schon der Gedanke an die ersten Takte des Orchesters beschleunigte meinen Puls. Trotzdem kam mir gelegen, meiner Freundin in dieser heißen Phase vor dem Event nicht vor die Flinte zu laufen: Ein Blick aus ihren Augen gab mir neuerdings das Gefühl, im Zeitraffer zu altern. Wir prallten in der Küche aufeinander.
»Na«, sagte ich.
»Na.«
Schweigen.
»Ich bin dann heute Abend nicht da.«
»Ich bin keineswegs so dement wie du. Hab ich behalten.«
»Ich bin nicht dement«, erwiderte ich. »Ich gehe auf ein Sinatra Konzert.«
»Das ist vermutlich erst der Anfang«, sagte sie düster, den Blick auf ihre Fingernägel geheftet. Sie unterzog sich mindestens einmal monatlich einer komplexen Behandlung, in deren Verlauf ihre Nägel mit Strasssteinen, Palmen und ganzen Planentensystemen bemalt wurden. »Erst gehst du zu diesem Sinatra, dann beginnst du, Hosenträger zu kaufen. Als nächstes trägst du aus Bequemlichkeit nur noch Slipper von BAMA.«
»Der Ersatzkasse?«, fragte ich.
»Siehst du, geht schon los. Du mutierst. Ich kann dich fast altern hören.«
Ich schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Es reicht. Denkst du, du bist resistent gegen das Altern? Ich bin gerade mal sechs Jahre älter als du, verflucht. Ich trage Jeans. Mein Wortschatz ist über jeden Verdacht erhaben. Ich sage mitunter »verdammte Scheiße« und nicht »oh Weh« oder »Scheibenkleister«, wie beispielsweise dein Vater, der nebenbei bemerkt in der Tat wirklich alt ist, das aber durch Schallplatten von Pink Floyd übertünchen will. Dark Side of the Moon, was? Dein Vater ist auf der dunklen Seite des Mondes gut aufgehoben, und er genießt es.«
»Lass meinen Vater aus dem Spiel.«
»Lass du Sinatra aus dem Spiel. Wenn ich demnächst Bücher von Stephen Hawking lese – beantragst du dann Pflegestufe 2 für mich? Kokolores. Was sind das überhaupt für Gespräche? Eine Beziehung wie unsere sollte von Liebe und Zutrauen geprägt sein- sie sollte ein Manifest der Zärtlichkeit sein, eine marmorne Säule des gegenseitigen Respekts, du blöde Kuh.«
Sie verschränkte die Arme über ihrer pastellfarbenen Benetton-Strickjacke.
»Wenn du Vierzig bist, wirst du älter sein als jeder andere Vierzigjährige.«
»Unsinn. Wenn ich Vierzig bin, schreiben wir das Jahr 2006. Dann werden sie einem in der Fußgängerzone binnen zehn Minuten Haare implantieren können, während man mit seiner Armbanduhr seinem Haushalts-Androiden mitteilt, was man zum Abendessen wünscht.« Ich lächelte überlegen.
»Wie dem auch sei«, schloss ich den Beweisvortrag, »ich muss mich nun fertig machen.«
»Genau«, sagte sie. »Du machst dich jetzt fertig. Wir haben 13 Uhr 45. Das Konzert beginnt um Acht, oder? Setz dich doch einfach so lange mit deinem braunen Kordanzug auf die Couch und warte, bis es dunkel wird. Findest du nicht, das klingt nach Seniorenheim?«
Meine Erwiderung enthielt einige Worte, die ihr Vater nie benutzt hätte. Und was zum Teufel meinte sie mit braun?


20 Uhr.
Ich hätte vom Management der Westfalenhalle erwartet, dass alles in bunte Lichter getaucht ist. Mindestens war ich auf einen roten Teppich, oder einfach nur einen Teppich in irgendeiner Farbe gefasst gewesen. Fehlanzeige. Immerhin hatten sie gestreut. Als der Parkplatzwächter mir mitteilte, ich zitiere, »Wenn du deine Omma abholen willst bist du zu früh dran, Bursche – aber parken kostet trotzdem einen Fünfer«, ahnte ich bereits, was auf mich zukam.
Die Schlange vor der Kasse war recht kurz, verglichen mit anderen Musikevents; ich sah ein Meer aus weißem Haar, viele Anzüge, Perlenketten. In dieser Schlange war ich der Jüngste.
Ich kaufte mir ein Glas Sekt, nachdem ich durch war. Im Foyer, wenn man die etwas industriell wirkende Vorhalle so nennen wollte, war ich ebenfalls der Jüngste. Der Piccolo, preislich eher zur Gruppe der Jahrgangsweine zu zählen, die der Graf von Monte Christo zu sammeln pflegte, lockerte mich etwas. Natürlich waren die Leute meines Alters bereits auf ihren Plätzen; Nur die Alten und Schwachen, nicht in der Lage, in Trab zu verfallen, dümpelten noch in der Halle. Die Halle lag im Halbdunkel, sah ich kurz darauf. Aber es war nicht halbdunkel genug, um zwei Sachverhalte zu verschleiern.
Erstens:
Die Halle war lediglich zur Hälfte gefüllt.
Zweitens: »Zur Hälfte« bedeutete etwa 3000 Besucher, und von denen war ich augenscheinlich noch immer der Jüngste.

Gute Sitze in Reihe Eins; es roch nach Kölnisch Wasser und Festiger; Seide, oder Material das sich zumindest wie Seide anhörte, raschelte hinter mir.
Direkt links blickdichte Strumpfhosen, rechts ein haariger Arm mit Hemdmanschetten und goldener Uhr mit Bergmannsmotiv. Ein Aufwallen von Sodbrennen erfasste mich. Ich mutmaßte, dass das am Sekt lag, aber es konnte auch eine physische Reaktion auf das Gefühl sein, gleich zwangsadoptiert zu werden.
Vereinzeltes Husten. Ich war starr wie eine Porzellanvase. Hier, in der ersten Reihe, herrschte die angespannte Atmosphäre einer Versteigerung.
»Jetzt Kopulierender Gratulant, ein vierjähriges Rennpferd aus dem Gestüt Pawlowski. Ja, fünftausend vom Herrn mit der Bergmannsuhr… sechs, ja, sechsfünf von der Dame in … Seide? Sieben, ich höre sieben, wer bietet acht? Sekunde - Wir brauchen hier ein Kehrblech.«
Dann ging alles Schlag auf Schlag. Das Licht erlosch.
Das Orchester stimmte »I’ve Got The World On A String « an, Lichter flammten auf, hinter mir Stöhnen, als würde reihenweise erblindet.
Der Meister, Francis Albert, The Voice, Ol`Blue Eyes, Leader of the Pack betrat die Bühne. Er grinste von einem sonnenbraunen Ohr zum anderen; sein Toupet wirkte, als wäre es verchromt; alt, ja, aber voller Würde - im Großen und Ganzen ließ er die Rolling Stones wie dieses singende Sperma von Tokio Hotel aussehen. Er griff zum Mikro, sagte »good Evening«, und addierte sechs Millionen Jahre Ruhrgebiets-Geldadel applaudierten. Die Druckwelle tausender Hände presste eine Killerwoge von Tosca von den Oberrängen in die ersten Reihen, eine Art Geruchs-La Ola, die mir noch wochenlang im Nackenbereich anhaftete.
Ich war wie vom Donner gerührt.
Die Stimme, die überall auf der Welt berühmt war, schallte aus den Lautsprechern eines unbedeutenden Gebäudes in Dortmund, Nordrheinwestfalen. Ich bekam eine Gänsehaut wie eine Ritterrüstung, stand auf, applaudierte, schrie irgendetwas, und es geschah: Sinatra persönlich sah mich an. Er zog eine Augenbraue hoch, die »Thats Right Boy«, aber auch »hinsetzen, Provinz-Blödmann« bedeuten mochte, aber ich konnte nicht, auch dann nicht, als sich meine Uhr in einem Nest aus Haar und Haarspray verfing, was die Dame links von mir heftig zum Nicken brachte.
»FRANK«, brüllte ich.
Er lächelte.
Ich bellte irgendetwas und riss meinen Arm los. Mein Uhrenarmband sah neuerdings so aus, als trüge es ebenfalls ein Toupet.
Die Frau neben mir kreischte und hielt sich den Kopf, und sie hatte natürlich recht: Was für ein Konzert.
Es wurde ein Triumph, den zu Papier zubringen mangels Wortschatz unmöglich ist; Nur soviel: Es war als hätte ein egozentrisches Regime mit Swing gefüllte Marschflugkörper auf die Teilnehmer einer Butterfahrt abgefeuert. Ich war neben Sinatra der einzige, der was unternahm, um den Stimmungspegel zu halten.

00 Uhr.
»Ich bin wieder jung«, erklärte ich meiner Freundin, als ich nach Hause kam. »Du kannst jetzt gerne wieder Coco Jambo oder Ole`Ole` oder was du sonst so hörst laufen lassen. Ich bin gesegnet.«
»Bist du bescheuert ?«, fragte sie.
»Sinatra hat mich gesehen. Ich habe Sinatra gesehen.«
Ich unterschlug die kleine Geschichte mit den Saalordnern, die mich zurück in den Sitz gepresst hatten ebenso wie eine Bemerkung über meinen tränenreichen Zusammenbruch, als Sinatra am Schluss sichtlich erleichtert »My Way« intoniert hatte. Sinatra gab keine Zugabe; ich auch nicht.
»Geh jetzt ins Bett«, sagte sie mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.
»Ich kann jetzt nicht«, erwiderte ich. Ich war noch immer aufgeregt. Außerdem schmerzten meine Schultern.
»Ah ja«, sagte sie. »Alte Leute brauchen ja nicht soviel Schlaf. Du riechst übrigens wie meine Uroma.«
Das ließ mich kalt. Völlig.
Ich hatte Sinatra Live erlebt. Auf der »To Do« Liste meines Lebens war ein Punkt abgehakt, und die Position »Mach dich vor ein paar tausend Leuten zum Vollidioten« konnte ich gleich mitstreichen.
So saß ich des Nachts in unserer Küche; Sinatra selbst mochte zeitgleich an irgendeiner Bar sitzen, während er mit den Fingern nach einem Radiergummi schnippte, um Dortmund von der Landkarte zu tilgen. Ich schnappte mir etwas Briefpapier meiner Freundin, malte der Diddlmaus darauf eine Augenklappe und begann meine To-Do-Liste auf den neuesten Stand zu bringen.
Punkt 1: »Nutella, bis Elvis wieder aufersteht.«

 

JackTorrance schrieb:
Und nu, da ich weiß, dass Rainer RAINER INNREITER ist, weiss ich auch die seltsame Kritik zu werten

Vielen Dank! Es war so ein schönes Geheimnis, bis du...

...sie ist in Ironie eingelegt wie saure Grurken.

Ich weiß nicht einmal, wie man Irronie schreibt!

Ist schon reizend: Der Mann, der meine erste Kritik ever schrieb, hält mir mit bizzaren Statements die Treue.

Was für ein Riesenkompliment!
Torsten, äh, Jack: Das war mein Ernst! Deine Satiren sind (nicht immer, aber meistens) einfach erste Sahne. Hat natürlich auch mit dem berühmten Geschmack zu tun. Aber was soll ich machen, wenn du ihn ganz genau bedienst?
Bitte mach weiter so, ja?

 

Hallo JackTorrance,

wunderbar! Witzige Unterhaltung! Viele gekonnte Vergleiche und Bilder! Ich hatte während des Lesen ununterbrochen ein breites Grinsen im Gesicht!

Wie gut, dass lakita die Geschichte empfohlen hat - sonst hätte ich sie vermutlich nicht gelesen und richtig was versäumt!

Einmal - irgendwo in den Tiefen deiner Dialoge - hast du die Anrede "Sie" klein geschrieben - aber ich finde es jetzt nicht mehr ...

al-dente

 

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