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Oben am See
Die folgende Geschichte spielte zu einer Zeit, als die Berge zum Teil noch einsam waren. Sehr einsam, so einsam, dass man in manchen Gegenden oft tagelang keinen Menschen traf, halt, ich muss sagen, keinen Touristen oder Fremden. Die Einheimischen, die Senner und Sennerinnen waren sehr wohl da, oft den ganzen Sommer, denn der Weg hinaus ins Tal dauerte Stunden. Heute hat man zu jedem noch so versteckten Winkel eine Forststraße durch den Bergwald gefräst, auf der dann die Mountainbiker in Scharen einfallen, Radau machen und ihren Dreck hinterlassen und - beinahe hätte ich es gesagt - diese geheimen Orte entweihen, aber halt, das ist nur das Gerede eines alten Mannes, der die neue Zeit nicht mehr versteht, vielleicht auch nicht mehr verstehen will. Aus persönlichen Gründen will und kann ich die Namen der Orte nicht nennen. Derjenige, der sich ein bisschen auskennt, wird es eh wissen, zumindest wird er es vermuten, für die anderen ist es unwichtig.
Ich kam vom Tal herauf, von einem Ort, der damals nur sehr mühsam und umständlich zu erreichen war. Ich war noch jung und so oft es ging in den Bergen unterwegs. Geld hatte ich selten, ich brauchte auch kaum welches. Ich war zufrieden, wenn ich durch „meine“ geliebten Berge strolchen konnte, und heute, wo ich alt bin, liegt die Geschichte schon so lange zurück, dass ich mich selber manchmal frage, ob ich sie wirklich erlebt habe, ob sie sich wirklich so zugetragen hat, und manchmal kommen mir dann Zweifel ...
An jenem Tag, als alles begann, stieg ich hinauf zu den Wiesen unter den Nordwänden des ...massivs und verbummelte den ganzen Tag. Ich hatte stundenlang faul im Gras gelegen, geschlafen und den Murmeltieren, den Gämsen und den Bergdohlen zugesehen. Schließlich wollte ich weiter über den ...sattel zur ...hütte. Da stand plötzlich ein alter Senn vor mir, sonnenverbrannt, mit ungepflegtem Bart und fragte mich in seinem fast unverständlichen Dialekt nach Kühen.
„Hoascht nit meine Küah gsechn?“
Nein, leider, ich hatte heute den ganzen Tag noch keine Kühe gesehen.
„Es ischt immer wieder a Ärgernis. Dauernd verführen die Berggeister meine Kuahlan. Die kloanen Berggeister tuans ja noch, die sein halt ständig zu Spaßetln aufgelegt.“
„Ja, was tun denn die Berggeister mit deinen Kühen?“ fragte ich ihn lächelnd.
Ernst sah er mich an. Nein, der Mann wollte mich nicht veralbern, er meinte es ernst.
„Ja“, er suchte mit den Augen die nähere Umgebung ab. „Neulich habe ich meine Kuahlan an einer einsamen, unzugänglichen Stelle getroffen, wo sie einen Kreis gebildet haben, mit den Köpfen nach innen gerichtet“, er sah mir in die Augen, „weder fressend, noch wiederkäuend, sondern so, als würden sie einer Erzählung lauschen.“
Er lächelte entschuldigend, als er meinen ungläubigen Blick bemerkte.
„Woasch, manchmal finde ich sie an den unmöglichsten Stellen, an Stellen, die sonst keine Kuh aufsucht.“
Wir setzten uns ins Gras.
„Aber so a Stadtfrack wia du kennt so was nit. Glaubst mir eh net?“
Ich musste wieder lächeln.
„Nein, in der Stadt gibt´s keine Berggeister. Da hast du schon recht.“
Prüfend schaute er mich an, ob ich mich über ihn lustig mache. Aber jetzt war ich neugierig, was er sonst noch zu erzählen wusste.
Also fragte ich: „Gibt´s noch viele Berggeister da heroben?“
„Was heißt noch? Wo sunst sollen sie denn sein?“ war seine Antwort.
„Wie schauen sie denn aus?“ wollte ich wissen, doch statt zu antworten, sprang der alte Senn auf, rief mir einen kurzen Gruß zu und lief mit erstaunlicher Geschwindigkeit den Bergpfad zurück. Er drehte sich noch einmal um: „Ich glaub, ich hab’s g`hört!“
Ich legte mich zurück. Über mir ragten die Wände des ... empor. Gewaltig wirkten sie und bedrohlich. Doch hier im Gras war ein wundervoller Fleck. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass ich noch genügend Zeit hatte für eine längere Rast. Wie meine Blicke so umherwanderten, konnte ich fast selber an die Existenz von Berggeistern glauben. Ich träumte den Wolken nach. Es hätte nicht viel gefehlt und ich wäre eingeschlafen. Wieder einmal.
Schließlich wandte ich mich den Bergwänden zu. Ja, dort musste eine relativ leichte Möglichkeit sein. Von links führte ein breites Grasband quer in die Wand. Oben wurde es schmal und steil. Und dann folgte eine kurze Steilschlucht, die zum felsigen Gipfelaufbau leitete. Es müsste gehen, eine mittelschwere Kletterei, die ich mir schon zutrauen konnte. Die Schrofen im unteren Teil waren ziemlich brüchig und erdig, vorsichtig stieg ich über sie hinauf. Oben folgte wunderbar fester Fels, und in weniger als einer Stunde hatte ich den Gipfel erreicht. Es war schon spät, und ich beeilte mich beim Abstieg, damit ich die Nacht nicht in den Felsen zubringen musste. Schließlich stand ich wieder auf einem ungefährlichen Bergsteig, die Sonne ging gerade hinter den benachbarten Bergketten unter. Mit dem letzten Tageslicht lief ich den Steig hinab zur Alm.
Vor der Hütte traf ich den Senn, dem ich mittags begegnet war.
„Tätst gern da schlafen?“ fragte er mich.
„Wenn es möglich wäre“, antwortete ich.
"Schlafst halt im Heu“, meinte er, „aber rauchen darfst halt nicht!“
Vor dem Schlafengehen setzten wir uns noch ein bisschen zusammen, für ihn in seiner Einsamkeit - wie ich glaubte - eine willkommene Abwechslung. Außerdem war ich neugierig. Ich wollte mehr von seinen Berggeistern erfahren.
„Ich komme mit ihnen ganz gut zurecht“, erzählte er, „nur mit den großen nicht. Die werfen mit Steinen und Ästen nach mir! Da muss ich immer aufpassen!“
„Wie sehen sie denn aus“, wollte ich wissen.
„Wenn dir einer begegnet, dann erkennst du ihn sofort.“
Mehr bekam ich nicht heraus. Ich bot ihm einen Schnaps an, vielleicht würde er so gesprächiger. Doch er lehnte ihn ab, sagte nur, er trinke nie. Später erzählte er von sich - auch ohne Alkohol. Ich erfuhr, dass er nie geheiratet hatte.
„Es war nicht die richtige dabei“, so drückte er es aus. „Und mit denen da unten“, er meinte die Dorfbewohner von ... , „will ich nichts zu tun haben. Aber schon gleich gar nichts. Und ihr Pfaff kann mir ganz und gar gestohlen bleiben!“ schimpfte er vor sich hin.
„Bist nicht recht allein da heroben?“ fragte ich ihn.
„So schlimm ist es nicht, ich kenn es nicht anders“, war seine Antwort.
Als ich am anderen Morgen wach wurde, war er schon unterwegs. Ich legte ihm einige Münzen auf den Tisch und stieg ab ins Tal. Im Wirtshaus erkundigte ich mich nach ihm. Ja, man kannte ihn. Er stammte aus dem Dorf. Früher habe er den Winter bei seiner alten Mutter verbracht. Doch die sei schon lange tot. Wo er jetzt den Winter über sei, wisse niemand, es wolle auch keiner wissen. Er sei ein Taugenichts, das habe auch der Pfarrer gesagt. Keiner im Dorf wolle etwas mit ihm zu tun haben.
Einige Wochen später war ich wieder in dieser Gegend unterwegs. Ohne bestimmtes Ziel strolchte ich umher und machte an einem der schönsten Plätzchen der Gebirgsgruppe Rast. Schließlich schlief ich ein. Spät kam ich hoch. Die Sonne verschwand eben am westlichen Horizont. Für den Abstieg war es zu spät. Und auch die ...hütte war nun nicht mehr zu erreichen. Das Wetter war gut und wenn kein Gewitter mehr kam - und es sah nicht danach aus - dann konnte ich ganz gut im Freien nächtigen. Ich stieg noch ein Stück auf und kam bis in die Nähe des ...sees, einer kleinen Lacke, in dessen Nähe ich es mir unter einem riesigen Steinblock für die kommende Nacht gemütlich machte.
Die Nacht war mild. Ich lag auf dem Rücken und sah zum Himmel empor. Keine Wolken war zu sehen. Es war Vollmond. Er erhellte mit seinem bleichen Licht die Berge, so dass ich trotz dunkler Schatten meine Umgebung gut erkennen konnte. Plötzlich hörte ich Schritte. Der alte Senn schritt dicht an meinem Biwakplatz vorbei hinunter zum See. Im Licht des Mondes hatte ich ihn deutlich erkannt. Was wollte er zu dieser Zeit hier? Um diese Zeit - mitten in der Nacht - war er wohl sicher nicht auf der Suche nach einer seiner Kühe. Er blieb am See stehen, entkleidete sich und stieg ins Wasser. Was jetzt geschah ist wahr. Ich schwöre es! Wenn man es mir nicht glaubt, dann halt nicht ... Doch es ist wahr!
Der alte Mann stand bis zu den Knien im Wasser - völlig nackt. Doch schien er nicht alt, sondern jung zu sein. Sein Haar war wieder dunkel, keine einzige graue Strähne, die Schultern breit, der Rücken stark und gerade. Ich starrte und starrte, nein, ich täuschte mich nicht. Dort im Wasser stand der Senn, ein junger Mann von höchstens 25 Jahren.
Und dann sah ich sie - eine junge Frau von gerade mal zwanzig Jahren. Sie stand am anderen Ufer und winkte dem Senn zu. Dann streifte sie ihr Kleid ab. Sie war die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Langes, volles schwarzes Haar, eine hohe Stirn, hohe Backenknochen ... wenn ich die Augen schließe, sehe ich sie vor mir ... muskulöse, doch schlanke Arme und Beine ... schmale Finger ... kleine spitze Brüste, deren Warzen hoch aufgerichtet waren ... helle, fast weiße Haut ... und ein kleines, dreieckiges Vlies ... nie wieder sah ich eine solche Frau! Selbstbewusst stieg sie ins Wasser, ohne falsche Scham. Ja, ich glaube, sie wusste, wie schön sie war, begehrenswert! Und sie war stolz. Ich sah, dass sie auch wusste, was sie einem Mann schenken konnte.
Die beiden ließen sich ganz ins Wasser gleiten und schwammen aufeinander zu. In der Mitte des Sees trafen sie sich. Sie umschlangen sich, und ihre Münder fanden sich zu einem wilden und dennoch zärtlichen Kuss. Ich konnte meinen Blick nicht lösen. Ich wollte nicht ... und dennoch konnte ich meinen Blick nicht abwenden. Und gleichzeitig brannte mein Herz in erwachender Liebe und wilder Eifersucht auf den anderen.
Lachend schwammen sie zu einem Stein am Ufer. Er umfasste sie, hob sie aus dem Wasser und legte sich neben sie. Sie schienen die Kälte nicht zu spüren. Er streichelte ihren Nacken, biss zärtlich in ihre Schulter und rieb seine Wange an ihren Brüsten. Sie griff ihm ins Haar und schüttelte ihn wie einen Hund. Ich sah, wie sie sein Glied umfasste, ohne Verlegenheit, ohne verlogene Scham. Und als sie erkannte, wie sehr er sie begehrte, lachte sie, nicht triumphierend, nein, selbstbewusst, und doch liebevoll. Im nächsten Moment küsste sie ihn wieder mit einer animalischen Leidenschaft. Er verlor den Halt und rollte auf den Rücken. Mit einer Hand drückte sie ihn zu Boden, stark und selbstbewusst. Ja, ich wiederhole mich ... Dann setzte sie sich rittlings auf ihn und streichelte mit ihren Brüsten sein Gesicht, während er in ihrem langen Haar wühlte. Nicht er nahm sie, nein, sie ließ ihn zu sich kommen. Er lag leise stöhnend auf dem Rücken, während sie auf ihm ritt. Und noch immer konnte ich meinen Blick nicht von den beiden abwenden. Über ihrem Po sah ich zwei reizende Grübchen.
In diesem Augenblick zerriss das Knacken eines Astes die Stille. Ich hatte mich wohl an einen Latschenast geklammert, und dieser war unter meinen Händen mit einem unüberhörbaren Laut zerbrochen. Was nun geschah ... Noch heute fühle ich die Beschämung ... Ohne Hast, langsam, aufreizend langsam, war die Frau von ihrem Geliebten heruntergeglitten. Sie sah mich an ... in ihrem Blick lag eine solche Verachtung, dass ich selbst heute nur mit Beschämung daran zurückdenken kann. Dann sprach sie einige Worte zum Senn. Ich konnte es nicht verstehen, sie gebrauchte eine fremde Sprache. Noch einmal sah sie mich an, würdigte mich jedoch keines einzigen Wortes, dann drehte sie sich um, holte ihr Kleid, schlüpfte hinein und ... war verschwunden.
Der Senn war aus seiner Erstarrung erwacht. Er sprang auf und lief auf mich zu. Er warf sich auf mich, seine starken Hände umklammerten meinen Hals. Mit aller Kraft schlug ich ihn immer wieder ins Gesicht. Das Blut schoss ihm aus der Nase, ohne dass er seinen Griff lockerte. Plötzlich ließ er aus, rollte sich auf die Seite und vergrub seinen Kopf in den Händen. Ich sprang auf, da hörte ich sein Weinen. Er lag im Gras, wimmerte wie ein Kind und stammelte immer nur zwei Worte, die ich nicht genau verstand: Donna Kollia, Donna Kolina, Donna Kelia oder so. Ich raffte zusammen, was ich von meiner Ausrüstung erhaschen konnte und rannte davon.
Ich verbrachte die Nacht mehr recht als schlecht am Waldrand. Das Waldesdunkel verwehrte mir den Weiterweg. Ich konnte den Weg nicht sehen, war doch auch inzwischen der Mond hinter den Bergen untergegangen. Im ersten Licht des neuen Tages stieg ich am anderen Morgen ab, fürchtete ich doch, dem Senn noch einmal zu begegnen. In diesem Jahr traute ich mich nicht mehr dort hinauf.
Im Jahr darauf war ich mit einem Kameraden wieder dort unterwegs. Wir waren auf dem Weg zum Einstieg einer Klettertour, als wir auf den Senn trafen. Er war alt geworden in diesem vergangenen Jahr, um Jahre gealtert. Zuerst erkannte er mich nicht, er sah nicht mehr gut. Doch meine Stimme verriet mich. Er sah mich an, Tränen in den Augen, dann flüsterte er mit kraftlos: „Geh zum Teufel! Schau, dass du weiterkommst!“ Er drehte sich abrupt um und ließ uns stehen. Die Frage meines Gefährten, was er von mir wollte, ließ ich unbeantwortet.
Einige Tage darauf stieg ich wieder hinauf. Ich musste, ich konnte nicht anders. Die Erinnerung ließ mich nicht los, der Gedanke an die Frau quälte mich. Ich musste wissen, wer sie war, wie sie hieß, wo ich sie finden könnte. Er sah mich kommen.
Mit den Worten: „Ich hab´s gewusst, dass du wiederkommst!“ empfing er mich. „Du hast sie gesehen. Keine Frau ist wie sie!“
Ich setzte mich schweigend auf die Bank vor der Hütte. Er ließ mich allein und begann seine Arbeit zu machen: melken, käsen und was sonst noch auf einer Alm zu tun war. Es war schon finster, als er wiederkam.
„Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig“, begann er, „trotzdem will ich dir erzählen, wie ich sie kennengelernt habe. Ich war noch ein junger Kerl, als ich sie das erste Mal traf. Ich war auf der Suche nach einem verschwundenen Kalb, als ich oben am See vorbeikam. Sie schwamm im Wasser.“
Er sah mein ungläubiges Gesicht.
„Sie schwamm im Wasser. Sie ist nicht wie wir, sie ist eine ... Aber das verstehst du ja doch nicht. Am Ufer lag ihr Kleid. Ich nahm es und rief: ‘Was bekomme ich dafür?“
Sie lachte.
„Sei vorsichtig, sonst geht es dir schlecht!’ war ihre Antwort.
Ich lachte auch und sagte: „Einen Kuss könnte es dir schon wert sein!“
„Ja, einen Kuss schon! Dreh dich um!“
Ich legte das Kleid wieder ab, drehte mich um und ging ein Stück weg. Sie umfasste mich von hinten und mit einer Kraft, die ich ihr nie im Leben zugetraut hätte, hob sie mich hoch. Dann küsste sie mich auf die Wange und sagte: „Du hast gut daran getan, es mir zurückzugeben. Ich hätte es mir genommen, und du kannst sicher sein, dir wäre das nicht bekommen.“
Sie lachte mich an und forderte mich auf: „Wenn du morgen Zeit hast, komm bei Sonnenuntergang! Ich werde auf dich warten.“
Wir trafen uns am Abend. Sie saß neben dem See und wartete schon. Es war eine schöne Zeit. Schon bei diesem ersten Treffen gab sie sich mir ganz hin. Es war bei ihr ganz selbstverständlich, nicht so wie bei den Mädchen im Dorf. Sie wollte es, ich musste nicht bitten, sie wollte es, genau wie ich. Anschließend aber sagte sie mir: „Jetzt gehörst du mir. Hier heroben gehörst du nur mir! Nie, hör genau zu, nie darfst du eine andere mit heraufbringen! Und noch etwas, erzähle den anderen nichts von mir. Niemanden!“
Ich habe mich immer an diese Regeln gehalten. Welche andere Frau kann schon gegen sie an. Sie sagte mir, was ich unten im Dorf mache, sei ihr gleich. Sie war schon lange nicht mehr unten, es war nicht ihre Welt, nicht mehr. Als ich noch klein war, hatten mir die alten Frauen erzählt, was mit einem jungen Burschen geschehen sei, der sich - es war schon lange her - in sie verliebt hatte. Als mir klar wurde, dass sie von ihr gesprochen hatten, konnte ich es nicht glauben. Sie konnten nicht von ihr gesprochen haben. Nein, so alt konnte sie doch gar nicht sein. Und doch war es die Wahrheit. Sie war zu einem jungen Burschen ins Dorf gezogen und hatte mit ihm ein Kind gehabt. Sie passte aber nicht hinunter, sie ging nicht in die Kirche, sie sagte jedem frei ihre Meinung heraus ... Irgendwann war sie wieder weggegangen, hatte ihren Mann und das Kind unten gelassen. Sie hatten mir auch erzählt, was dann mit ihm und ihrem Kind geschehen war. Und dass beide weggegangen seien, und dass heute sich keiner mehr daran erinnere, sich keiner mehr daran erinnern wolle.
Seit jenem Abend habe ich sie nur noch einmal gesehen. Sie sagte, ich hätte sie verraten. Sie versteckt sich vor mir. Aber heute Nacht werde ich noch einmal versuchen, sie zu sprechen. Ich muss, und wenn es mich das Leben kostet ...“
Er sah zum Fenster hinaus. Es war stockfinster, kein Mond erhellte heute die Nacht.
Am anderen Morgen erwachte ich vom Muhen der Kühe. Sie standen um den Stall herum, aus ihren vollen Eutern lief die Milch. Wo war der Senn? Ich suchte die Umgebung ab, nirgends war er zu sehen. Ich rief nach ihm. Damals fiel mir auf, dass ich nicht einmal seinen Namen kannte. Schließlich kam ich auf der Suche auch hinauf zum See. Er schwamm tot im Wasser. Ich setzte mich ans Ufer bis der Wind ihn an das Ufer trieb. Als ich ihn an Land zog, war er schon steif. Er musste schon seit Stunden tot gewesen sein. Ich legte ihn unter einen Latschenbuschen, deckte ihn mit meinem Biwaksack zu und stieg ins Tal, so schnell es ging, um die Gendarmerie zu verständigen. Am anderen Tag, ich war mit zwei Gendarmen und dem Bezirksarzt wieder zum See hinaufgestiegen, fanden wir den Toten aufgebahrt am Ufer des Sees. Er ruhte auf einem Bett aus Latschenzweigen, sein Haupt war mit Bergblumen geschmückt und auf der Stirn war ein seltsames Zeichen aufgemalt, ein Drudenfuß oder Pentagramm. Die drei Amtspersonen musterten mich misstrauisch. Ihre Fragen „Waren Sie das?“ und „Warum haben Sie das gemacht?“ ließ ich unbeantwortet Ich wusste, sie würden mir nicht glauben.
Es gab keine Angehörigen. Der Fall wurde bald zu den Akten gelegt, obwohl ich einige unangenehme Verhöre über mich ergehen lassen musste. Ich stellte mich dumm. Ich gab nur das zu, was sie eh schon wussten. Nein, nie habe ich das Geheimnis verraten. Und erst heute habe ich von ihr erzählt.
Nein, ich habe sie niemals wiedergesehen. Es ist aber kein Tag vergangen, an dem ich nicht mindestens einmal an sie gedacht habe. Und bis heute kenne ich nicht einmal ihren wirklichen Namen. Donna Kolina, war das ihr Name? Im Traum sehe ich sie, ich spreche mit ihr, doch immer sieht sie mich voller Verachtung an und dreht sich um ...
Wie lange ist das jetzt schon her? Nie habe ich sie vergessen können. Überall habe ich sie gesucht... immer in der Hoffnung, sie wiederzusehen. Ich kann und ich will sie nicht vergessen. Oft bin ich oben am See gewesen, seit sie die Seilbahn gebaut haben, ist er nicht mehr so abgelegen, ganz im Gegenteil. Vielleicht zeigt sie sich deshalb nicht. Und heute, als alter Mann, weiß ich, dass ich sie niemals werde vergessen können. Heute weiß ich, sie ist die Frau meines Lebens gewesen.