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Obskure Spiele

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09.08.2006
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Obskure Spiele

In meiner schäbigen Wohnung am Bahnhofsplatz stand ich auf dem Tisch und sah durch die Schlinge, die rau in meinen Händen lag. Der Schlummertrunk, den ich so eben genossen, ein Glas Wein mit darin gelöstem Opium, sorgte dafür, dass ich mich seltsam friedlich und mit der Welt im Einvernehmen fand.
Meine Phantasie, von der Droge mit dunklen Schwingen beschenkt, stieg auf in Sphären, in denen die Luft dünn und der Körper fern ist. Das Oval der Schlinge schien mir ein Fenster zu sein, durch das ich meinen Tod betrachten konnte: Ich sah meinen verlassenen Körper ein paar Stunden später, wie er unter dem Dachbalken baumelte, von der frühen Morgenbrise, die durch das offene Fenster hereinreichte, sanft gewiegt und vom ersten Sonnenglanz gestreichelt.
Bald aber wurde die Ruhe von einer heftigen Wehmut abgelöst. Denn im Morgenschimmer sah ich nicht nur meinen Tod, nein, dem Bild gesellten sich bald weitere aus frühester, glücklicher Kinderzeit hinzu.
Ende und Anfang standen direkt beieinander – und ist das denn verwunderlich? Hat der Daseinsweg nicht die Form einer liegenden Acht, deren Mittelpunkt den Tod markiert?
Die Kindheitsidylle, samt Geborgenheit im Elternhaus und endlos scheinender Sommertage, verschwand alsbald im Wirbel der Zeit und wurde ersetzt durch jüngere, minder verklärte Erinnerungen.
Meine Studentenzeit war ein Seiltanz gewesen und oft schon schien es mir, sie hätte ein besseres Ende finden können, wäre ich weniger reich begütert gewesen, was sowohl Geld als auch Geist anbetraf. Hätte eine langsamere Auffassungsgabe mich länger an die Bücher gefesselt, hätte mich doch der finanzielle Mangel vor schlimmster Ausschweifung bewahrt!
So aber gingen mir die Studien der Philosophie nur all zu leicht von der Hand und ließen mir ein Übermaß an Zeit für das Genießen und Verschwenden.
In jeder Zecherrunde war ich der tüchtigste und lauteste. Kaum dämmerte ein Morgen herauf, an dem mir nicht Erinnerungsfetzen der durchfeierten Nacht wie Nebelschwaden vor den Augen schwebten.
Ich hatte zahlreiche Freunde und Bekannte, deren Gesichter mir nur vertraut waren, wenn nächtlich grelles Licht und trunken überfröhliches Lachen ihre Züge fratzenhaft verzerrten.
Ich begann zu spielen, jedes Spiel, das mit Karten möglich ist. Und ich hielt mich für einen großen Spieler. Verlor ich, so verdoppelte ich den Einsatz – um dann all zu oft wiederum zu verlieren. Ich zettelte Streit an und in dem Maße, in dem meine Reserven schmolzen, begannen die Freunde und Mitzecher, sich von mir abzuwenden. Bald war ich allein und mittellos.
Meine Unterkünfte wurden immer armseliger, meine Vergnügungen hässlicher: Die studentischen Trinkrunden vertauschte ich mit jenen der Zwielichtigen und ganz Verworfenen. Zudem suchte ich die Gesellschaft von Dirnen, wie man sie in den schäbigen Vierteln findet.
Die Philosophie hatte ich hinter mir gelassen und aus Scham und Trotz traute ich mich nicht mehr, meinen Eltern zu schreiben oder auf ihre Briefe zu antworten. Mein letztes Geld fraß längst der Opiumkonsum, auf dessen beruhigende Wirkung ich angewiesen war.
Zudem versuchte ich falsch zu spielen, mit einem gezinkten Blatt, das ich stets in der Tasche mit mir führte. Doch war ich hierin so ungeschickt, dass ein ruppiger Gesell, ein kräftiger Hafenarbeiter, den Betrug erkannte und meine linke Wange mit seinem Messer zeichnete.
So sah ich also die wichtigen Stationen meines Lebens im Rund der Schlinge zusammenlaufen. Die letzten Reste einer bangen Aufregung wurden überdeckt von einem Gefühl der Wärme.
Dazu kam mit einem Mal ein zunehmendes Schwindelgefühl. Ich fürchtete, die Dosierung des Rauschmittels könne diesmal zu hoch gewesen sein und das Bewusstsein mir schwinden. Darum näherte ich die Schlinge rasch meinem Kopf, wollte sie eben darüberziehen – als ein hohes Knarren mich innehalten ließ.
War das nicht das Geräusch, das schwere Schritte auf der Stiege zu verursachen pflegten, die zu meiner Kammer heraufführte?
Ich hörte genauer hin. Tatsächlich! Schritte auf der Treppe. Und schon folgte ein lautes Pochen an der Tür.
Meine erste innere Regung bestand in einer irrationalen Angstaufwallung, die ihre Ursache wohl in meiner völligen Verwunderung fand. Wer konnte nun noch etwas von mir wollen? Dazu um diese Zeit?
Ich stolperte vom Tisch, wäre fast lang hingeschlagen. Taumelnd fand ich den Weg zur Tür. Ohne groß mit der Frage, wer da sei, Zeit zu verschwenden, sperrte ich auf. Im nächsten Augenblick fühlte ich, wie eine starke Hand meine Rechte ergriff und sie heftig schüttelte. Der Fremde trat ins Zimmer und grüßte mit den Worten: „Eine schöne Geisterstunde, Fritz! Ich werd’ dich doch nicht etwa aufgeweckt oder gar erschreckt haben?“ Die Worte sprach er mit einer tiefen, männlichen Stimme.
Seine Erscheinung passte dazu und schlug mich gleich in ihren Bann. Er war von kräftiger Statur und hoch gewachsen. Braunes Haar fiel ihm fast bis auf die Schultern herab, er trug Schnurr- und Kinnbart. Die Züge waren, sofern ich das im fahlen Licht, das eine Straßenlaterne in meine Kammer warf, erkennen konnte, ebenmäßig, wie gezeichnet: Die Nase gerade, der Mund kräftig. Die blauen Augen blickten entschlossen und ruhig.
Den größten Teil zu meinem Erstaunen trug aber der Umstand bei, dass der Unbekannte mich mit „Fritz“ angesprochen hatte – dem Namen meiner Knabenzeit, der mir hier und zu dieser Stunde in etwa so deplaziert erschien, wie ein Schellen behangener Narr auf einer Beerdigung.
Wieder überkam mich der Schwindel, kaum traute ich noch meinen Beinen und Augen. Der Fremde aber trat sicheren Schrittes ins Zimmer und fragte: „Nun? Was hielt dich wach, was trieb dich um? Geschlafen hast du ja wohl wirklich noch nicht.“
Ich hörte ihm nur mit halbem Ohr zu, mein Hirn arbeitete daran, eine Antwort auf die Frage zu finden, woher er meinen Jugendnamen kennen könnte. Tatsächlich kam er mir mittlerweile recht bekannt vor, das Gesicht war kein fremdes, auf rätselhafte Art sogar vertraut. Ein alter Schulfreund, eine abgelegte Bekanntschaft?
Forschend schaute er sich in der Kammer um und unsere Blicke fielen zur gleichen Zeit auf den noch von der Decke baumelnden Strick. „So!“, rief er laut aus. Brennende Scham stieg in mir auf. Mein Vorhaben, mir das Leben zunehmen, erschien mir mit einem Mal nicht nur feige, sondern ganz und gar lächerlich.
Mein nächtlicher Besucher schien, zumindest was die Lächerlichkeit anbetraf, mit mir einer Meinung zu sein, denn er ließ ein Lachen hören, bevor er fortfuhr: „Aber nein! Das ist ja eine Sache! Das wirst du mir erklären müssen.“
Er setzte sich an den Tisch und stellte eine Flasche Wein darauf, die er, von mir unbemerkt, in der Linken getragen hatte. „Hol rasch ein paar Gläser! Ich will mir anhören, was dir das Herz schwer macht.“
Ich war dermaßen überrascht, dass ich sofort tat, wie mir geheißen. Ich schloss die noch immer offene Tür, fand zu meiner Überraschung zwei saubere Weingläser und ging zum Tisch. Hier, direkt beim Fenster, traten die Züge des Fremden schärfer hervor und das zugleich befremdliche Gefühl der Vertrautheit wuchs weiter an.
Als er die Gläser füllte, wollte ich protestieren, da ich mich ohnehin schon recht miserabel fühlte. Er aber wischte meinen Einwand hinweg und versicherte, der Trunk würde mir gut tun.
Eine lockere Plauderei entspann sich wie von selbst und bald bemerkte ich, dass er recht gehabt hatte: Der Wein schien, so seltsam das auch war, die üblen Symptome des Rausches an den Rand zu drängen und mir Klarheit und Leichtigkeit einzuflößen. Wir wurden recht fröhlich und lachten laut. Ihren Höhepunkt erreichte die Heiterkeit regelmäßig, wenn mein Besucher stumm nach oben deutete und so auf die Skurrilität aufmerksam machte, dass wir hier unter einer Würgeschlinge zechten.
Endlich kam er wieder auf das Thema zurück, das ihn offenbar eigentlich bewegte: „Also, Fritz: Woher denn nun der Kummer?“
Ich zögerte einen Moment, dem geheimnisvollen Fremden von der Quelle meines Leides zu berichten. Dann aber erzählte ich ihm alles, angefangen bei meiner Kindheit, über die Studentenzeit, bis hin zu meinem Ruin durch das Kartenspiel. Die ganze Zeit über hatte er aufmerksam zugehört, der letzte Punkt aber schien sein ganz besonderes Interesse zu erregen. Er stützte sich auf die Ellbogen und beugte sich vor. Indem er mir fest in die Augen sah, fragte er: „Glücksspiel sagst du, Kartenspiel? Auch das ist doch höchst sonderbar. Ich meine: Ist es nicht das, wovor ein jeder warnt? Und meinst du nicht, sie sagen zu recht, dass es töricht sei, sein Geschick einem zufälligen Blatte anzuhängen?“
Ich dachte kurz darüber nach, wollte schon mit den Schultern zucken, und sein aufdringliches Fragen übergehen – da holten mich, wohl durch den Wein hervorgelockt, gewisse Überlegungen ein, die ich die letzten Monate hindurch verfolgt hatte und ohne mich noch zu besinnen, sprach ich sie aus: „An sich mag das durchaus richtig sein. Für den Spieler aber stellt es sich ganz anders dar: Für den, der mit Leib und Seele an den Karten klebt, hören Zufall und Glück letztlich auf zu existieren. Der Spieler verdrängt sie zunächst, später verleugnet er sie. Stattdessen fühlt er unsichtbare Kräfte am Werk. Eine Schicksalskraft, genauer gesagt, die alle Räume und Dinge durchwirkt, auch die Karten – der alles anhängt, wie Marionetten an unsichtbaren Fäden. Diese Kraft ist wie ein leise knisterndes elektrisches Feld. Es ist auch im Spieler selbst, es kitzelt und erhitzt sein Hirn, es erschreckt und erleichtert sein Herz. Er gewinnt den irrationalen Glauben, dass er dieses Feld beeinflussen kann, mit der Gewalt seines Willens, durch heftigstes Wollen. Und wenn er dann einmal eine Strähne erwischt … So fühlt er sich bestätigt. Drei, vier Mal gewinnt der Spieler hintereinander und er schreibt es sich selbst zu. Er hat seinen Geist endlich in die richtige, die geheime Ordnung gebracht! Verliert er darauf, so schreibt er es sich wieder selbst zu: Sein Herzensjubel hat den Willen geschwächt und den Bann gebrochen. Und er spielt weiter, immer fort.“
Nach diesen Ausführungen fühlte ich mich ermattet. Mein Besucher schüttelte nur mitleidig den Kopf. „Aber inzwischen hast du natürlich erkannt, dass all das nur wüste Phantasie, eine Falle der Sucht ist?“
„Vom Kopf her ja, da war’s mir wohl immer bewusst. Aber vom Herzen her … Ach, ich komm ja nicht los! Darum eben wollte ich ein Ende machen. Dieser düstere Aberglaube, den meine Vernunft nicht niederringen kann, gewinnt ständig neue Formen. Wahrsager und Kartenleger habe ich aufgesucht, mich in der Hermeneutik und im Okkulten geübt; einmal ein Ritual zelebriert. Denn mittlerweile gibt mein Wahn mir vor, mein schwacher Wille habe zwar keine Gewalt über das unsichtbare Feld – es existiere aber dennoch. Die ganze Welt erscheint mir als großes Kartenspiel, als ein Automat vielleicht, nur begreife ich die Regeln und Funktionen nicht, die zu Grunde liegen … Es ist alles so töricht!“
„Töricht?“, erwiderte der Besucher mit tröstendendem Tonfall. „So töricht will mir das nicht scheinen. Ist es nicht die moderne Wissenschaft, die lehrt, dass die Welt so aufgebaut ist, wie du sie eben beschrieben hast? Als ein Gebilde aus Abläufen, die dem Menschen zwar zum großen Teil verborgen bleiben, die aber dennoch am Wirken sind? Und wer sagt, dass die Fäden nicht an einem Punkt zusammenlaufen? In einem zyklopischen Schloss im entlegensten Winkel des vereisten Kontinents im Süden? In einer verborgnen Schinderhütte unterhalb der feurigen Abstürze des Erdinnersten? Oder in einem scheinbar funktionslosen Bereich des menschlichen Gehirns? Nein, mein Freund! Das ist nicht töricht. So muss es doch sein: Dass dort der tausendfach verschleierte Strippenzieher sitzt, der Lenker dieser Welt …“
Wie träumend hatte ich der Rede gelauscht, die auf wunderbare Weise an meine innigsten Wünsche rührte mit Bildern, die aus meinen eigenen Träumen hervorzudämmern schienen.
„Wenn das so wäre … Ach, was gäb’ ich um den Beistand dieses Strippenziehers! Wenn er mir nur die rechten Blätter in die Hände spielen wollte …“
Darauf leerte ich mein Glas.
Der Besucher tat es mir gleich und entgegnete dann, wie in tiefes Sinnen versunken: „Wer sagt, dass das unmöglich ist? Wozu sonst all der Wunderglaube, die Rituale, das Paktieren mit dem Herrn dieser Welt? Aber eins ist doch sicher: Es liegen eherne Gesetze zu Grunde. Aus dem Nichts wird kein Etwas, aus dem Unglück kein Glück. Wer sich den Gral heute übervoll schenkt, wird ihn morgen leer finden, denn er zehrt von Künftigem oder Verborgenem …“
„Ha!“, rief ich, von plötzlichem Übermut ergriffen, aus. „Und wenn schon. Sollten die Karten einen Monat lang zu meinen Gunsten fallen, so stiege ich gern mit erhobenem Haupt die Stiegen zum geheimsten Heim hinab, die Rechnung zu begleichen. Mir fiele schon etwas ein, die Ordnung zu überlisten.“
Darauf saßen wir schweigend. Unsere Blicke ruhten auf den leeren Gläsern und der gleichfalls leeren Flasche. Wir waren in ein stilles Träumen verfallen und Nachklänge des die Nacht hindurch Gesagten schwebten im Raum wie Nebel über dem Weiher.
Endlich fiel das erste milchig gelbe Sonnenlicht ins Zimmer. Mein Besucher schob unter vernehmlichem Knarren seinen Stuhl zurück, indem er sich erhob und verabschiedete sich mit den Worten: „Dann wünsche ich erfolgreichere Tage, auf dass sich alles deinem Willen unterwerfen möge.“
Meinen Kopf füllte eine bleierne Müdigkeit aus, sodass es nur noch zu einer knappen Erwiderung reichte. Der nächtliche Besucher verschwand leise aus meiner Kammer und ich schleppte mich zu meinem Bett hinüber.


Erst am frühen Abend erwachte ich wieder. Die Erinnerung an das nächtliche Gespräch war bereits seltsam verschwommen, als läge es Wochen zurück.
Missmutig registrierte ich die Schlinge, die noch immer von der Decke baumelte – dieser Weg schien mir nun nicht mehr gangbar. Dennoch ließ ich den Strick als makabren Raumschmuck hängen.
Mit dem Gefühl, dass nun ohnehin alles vorüber sei – geradeso, als betrachte ich die Gegenwart bereits wie ein zurückliegendes Geschehen, an dem es nichts mehr zu ändern gäbe – suchte ich mein letztes Geld zusammen und verließ die Wohnung.
Meine verschlungenen Wege führten mich am Bahnhofsplatz vorbei, durch schmutzige und stinkende Gassen, vorüber an Jammergestalten, die sich, um den Kältetod hinauszuzögern, dicht zusammendrängten.
Endlich erreichte ich den Alten Weinschlauch, eine Spelunke, in der auch der noch willkommen ist, dem der Ruf des Betrügers vorauseilt. Ich nahm einen Korn an der Theke und begab mich dann an einen der Tische, um im Kartenspiel mein Unglück zu versuchen.
Doch was ich dabei erlebte, ist kaum zu beschreiben. Es war, als hätte ich einen neuen Sinn ausgeprägt, eine Form der Hellsichtigkeit. Nicht etwa, dass ich um die Blätter meiner Gegner gewusst hätte oder den Gang des Spiels vorausahnen konnte, nein. Es war vielmehr so, dass ein mir bis dahin völlig unbekannter aber zwingender Instinkt meine Spielzüge bestimmte. Und auch wenn es kein optischer Eindruck war, weiß ich den Vorgang nicht anders in Worte zu fassen: Die Karten, die auszuspielen waren, traten in einem hellen, wohltuenden Licht hervor. Und sobald ich sie anrührte, durchströmte ein freudiges Kribbeln zuerst meine Hand, dann meinen ganzen Körper – doch nicht nur meinen Körper! Es war, als spürte ich das selbe Wohlgefühl in den Karten. Als seien die Karten und ich selbst Teil eines größeren Etwas.
Jedenfalls gewann ich Spiel auf Spiel. Bis mir endlich klar wurde, dass es ratsam wäre, auch zu verlieren, so ich das Etablissement lebend verlassen wollte. Ich erlebte also ein paar „Niederlagen“ und zum Ende hin, als versöhnlichen Abschluss des Abends, noch eine regelrechte „Pechsträhne“.
Dennoch ging ich mit erheblichem Profit nach Hause. In meinem Kopf surrte und schwirrte es vor heller Freude. Gedanken an all die Möglichkeiten lieferten sich eine wilde Jagd: Alle Sorgen waren ja passé. Morgen schon würde ich mich wieder ordentlich einkleiden können, drei, vier gute Tage würden genügen, dann reichte es bereits wieder für eine größere Wohnung in einer besseren Gegend. Die Welt war wieder strahlend schön!
Lächelnd ließ ich meine Hand über das gezinkte Blatt fahren, das noch immer in meiner Tasche steckte. Was war ich doch für ein Narr gewesen! Wer musste schon betrügen, wenn er hellsehen konnte?


Alle Zweifel, ob es sich nicht doch um eine einmalige Glückssträhne gehandelt habe, zerstreuten sich bereits am folgenden Abend. Die Gabe blieb mir erhalten und machte sich immer schneller bezahlt, denn bald verfügte ich über genug Kapital, um mich auch an Partien zu beteiligen, bei denen es um mehr ging.
Orte wie den Alten Weinschlauch musste ich nun nicht mehr aufsuchen. Stattdessen konnte ich mich, mit meiner neuen, vornehmeren Garderobe, an Herrschaften bereichern, die über mehr Geld verfügten, als ich ihnen abnehmen konnte und die auch die größten Verluste mit einem Lächeln hinnahmen.
Der Bruch war für mich selbst erschreckend: Vor wenigen Tagen noch hatte ich am Abgrund gestanden, heute war mir jeder Luxus zugänglich.
Wann genau sie auftauchte, kann ich nicht sagen. Es ist nicht etwa so, dass ich einen Zeitpunkt benennen könnte, an dem ich sie das erste Mal sah. Viel mehr will es mir im Rückblick so erscheinen, als sei sie von Anfang an da gewesen und ich hätte erst nach und nach begonnen, sie wahrzunehmen. Gleich einem Ton etwa, der anfangs noch fast vollständig in der Stille verborgen ist und erst allmählich lauter wird oder einem Schatten ganz am Rande des Gesichtsfeldes.
Jedenfalls erschien sie stets dort, wo ich mein Geschäft betrieb. Gelegentlich dauerte es ein wenig, doch früher oder später entdeckte ich sie. Sie saß dann etwa ein, zwei Tische weiter, allein, nippte an einem Getränk – und hielt den Blick unverwandt auf mich gerichtet.
Darauf konnte ich mir keinen Vers machen, tatsächlich fühlte ich mich bald im höchsten Maße beunruhigt. Wie konnte es ihr gelingen, mich stets überall aufzuspüren? Und was hatte dieser Blick zu bedeuten? War er eine Drohung? Wusste sie um meine Gabe?
Etwa eine Woche nachdem ich des Nachts Besuch erhalten hatte, steigerte sie meine Verwirrung noch, indem sie mir zuzwinkerte, in der Art, wie es Leute zu tun pflegen, die in ein und dasselbe Geheimnis eingeweiht sind. Darin aber meinte ich, etwas wie Wohlwollen zu erkennen – und spätestens von diesem Augenblick an fühlte ich mich zu ihr hingezogen. Dieses Gefühl war von ungewöhnlicher Intensität und ich spürte, dass es sich aus mir vollkommen unbekannten Quellen speiste. Jedenfalls war diese Anziehung nur zum geringsten Teil körperlich bedingt, obwohl sie zweifelsohne von ansprechendem Äußeren war: Ihr Gesicht, das dunkelblondes Haar umrahmte, war absolut ebenmäßig und fein modelliert. Aus den tiefblauen Augen schien ein ebenso tiefes Verständnis der Dinge zu sprechen. Insgesamt erweckte sie den Eindruck außerordentlicher Zartheit, wie wenn sie das Werk eines Malers wäre, der großen Wert auf die Leichtigkeit seines Bildes legte.
Am gleichen Abend noch versuchte ich, ihre Bekanntschaft zu machen. Jedoch, als ich mich vom Spieltisch erhoben hatte und mit den Blicken den Raum nach ihr absuchte – da war sie verschwunden.
Am darauffolgenden Abend aber sah ich sie wieder und nun glaubte ich verstanden zu haben: Sie wollte sich das Recht vorbehalten, die Bedingungen unseres Kennenlernens zu bestimmen.
In den nächsten Tagen schwand die Distanz, die sie zu mir einnahm, Stück für Stück. Sie wählte ihren Platz an jedem Abend etwas näher bei mir. Und langsam begann ich zu begreifen, woher mein Gefühl der Zuneigung zu ihr – wenn man es denn so nennen wollte – rührte: Mein neu erworbener Sinn schlug heftig auf sie an. Es war, als wirkten zwischen uns unsichtbare Kräfte von unfassbarer Stärke. Die Verbindungen, die zwischen allem und jedem bestehen – die etwa den Spieler mit seinem Blatt, die Karten desselben untereinander verbinden – die über Glück und Unglück entscheiden – die kausalen wie auch die über- und irrationalen – waren zwischen uns in besonderem Maße ausgeprägt. Ihre genaue Natur jedoch blieb mir verborgen.
Die Anziehung, die sie auf mich ausübte, verhielt sich genau antiproportional zu unserer tatsächlichen Nähe zueinander. Sah ich sie entfernt irgendwo im Raume stehen oder sitzen, wollte mich eine geheime Macht zu ihr hinüberziehen. War sie dann aber ganz in der Nähe, so fühlte ich mich hilflos und beinah panisch. Ich war fest überzeugt, mich in einem Kräftegeflecht zu befinden, das ich nicht verstehen konnte und das zutiefst zerstörerisch war.
Einmal, als ich mich spät in der Nacht – oder schon wieder früh am Morgen – vom Spieltisch erhob, sah ich mich, als ich mich zur Tür wandte, ihr auf einen Schlag von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestellt. Ich schwebte zwischen Überraschung und Schock. Kaum hörte ich die Worte, die sie an mich richtete, ihr Sinn erschloss sich mir nur zum Teil.
Ich weiß noch, dass ich sie nach ihrem Namen fragte.
Sie antwortete, sie heiße Fortuna. „Das Glück“, fügte sie hinzu.
Richtiger: das Schicksal, schoss es mir durch den Kopf, doch wagte ich nicht, den Gedanken auszusprechen.
Nach wenigen Sätzen war sie wieder fort, unmerklich, wie ein Schatten, der über die Mondscheibe zieht.


Das zunehmende Gefühl drohenden Verhängnisses verfolgte mich in die Nacht und wuchs dort zu monströser Größe heran. Ich fand nur noch wenig Schlaf, denn wenn ich so einsam in meiner Kammer im Bett lag, gewann die Bedrohung etwas entsetzlich Akutes. Als könne das Gebäude jeden Augenblick über mir zusammenstürzen.
Und die Schlinge, die ich im Halbdunkeln gerade noch erkennen konnte, war wie eine Manifestation der düsteren Drohung. Anfangs hatte ich sie als einen makabren Scherz hängen lassen. Mittlerweile jedoch, in jenen fürchterlichen Nachtstunden, zweifelte ich allen Ernstes, ob es mir überhaupt möglich wäre, sie zu entfernen.
Es war, als werde der Zauber, der mir zum Erfolg verhalf, nun gegen mich gerichtet. Als messe mich ein kalter Blick, als betasteten mich Schattenfinger. Ein ungeschautes Ungetüm schien nun mir gegenüber jene Stellung inne zu haben, die ich gegenüber den Karten besaß.
Mit einem Schlag wurden meine dunklen Vorahnungen war, als ich mich aus dem Schlaf gerissen und bei beiden Armen gepackt fand. Ich wurde aus dem Bett gezerrt und erkannte eben noch zwei hünenhafte Gestalten in der Dunkelheit – als ich aber den Mund zum Schrei öffnete, traf mich etwas mit Wucht am Hinterkopf und die Schwärze verschluckte mich.


Mein Wiedererwachen wurde von einem hässlichen Knarren begleitet, das mir, gleich einem Messer, in den ohnehin schmerzenden Kopf fuhr. Jenseits des körperlichen Elends und durch den Schleier der Benommenheit hindurch erkannte ich, dass ich mich in einer winzigen vergitterten Zelle befand.
Ihre Tür war soeben geöffnet worden und schon beugte sich eine massige Gestalt über mich. Ein heftiger Schrecken fuhr mir durch alle Glieder, als ich das Gesicht eben des Gesellen erkannte, der mich vor einigen Wochen zu nächtlicher Stunde besucht hatte. Sein Blick aber war verwandelt: Starr und mitleidslos sah er mich an. Ohne ein Wort des Grußes stellte er mich, als wöge ich nicht mehr als eine Feder, auf die Füße.
In höchstem Maße befremdlich war seine Kleidung: Er trug ein blau und rot gestreiftes Oberhemd von, wie mir scheinen wollte, erlesener Güte. Darüber einen Mantel in blutroter Farbe, auf dem Haupt eine Mütze von ebensolcher Art, von der sich, in deutlichem Kontrast, zwei grüne Federn abhoben. Am auffälligsten aber war die schwere, goldgefügte Kette, die vor seiner Brust hing und die mit Edelsteinen besetzt war, von denen ein jeder ein Vermögen wert sein musste. Alles in allem erinnerte er mich an die idealisierte Darstellung eines Barock-Fürsten oder dergleichen.
Mein Erstaunen ging noch über das hinaus, was die Situation an sich wohl gerechtfertigt hätte. In der Tat löste sein Anblick bei mir ein heftiges Misstrauen gegen die Wirklichkeit des Augenblicks an sich aus: Bei der Betrachtung meines Gegenüber, der mir nun allerdings noch vertrauter schien als in jener Nacht, fühlte ich mich, als besähe ich eines jener Gaukelbilder, bei denen man nicht zu sagen vermag, ob der dargestellte Kubus sich zum Betrachter hin oder von ihm fort neigt.
Für weitere Überlegungen blieb mir indes keine Zeit. „Komm“, erfolgte harsch die Aufforderung, wobei ich am Arm gepackt wurde.
Wir gingen einen schmalen Korridor entlang, der zu beiden Seiten von Zellen der Art begrenzt wurde, wie ich sie eben verlassen hatte. Nach der fünften Zelle folgte jeweils ein Flur, der in andere Bereiche des offenbar gigantischen Baus führen musste.
Der Korridor war von solcher Ausdehnung, dass ich weder weiter vorne, noch irgendwo hinter mir ein Ende erkennen konnte und in mir wurde der eigentlich absurde Gedanke zur Gewissheit, dass dieser Kerkertrakt tatsächlich von unendlicher Länge sei.
Beinah jede Zelle war belegt. Einige der Insassen sah ich im Vorübergehen gerade erwachen, als hätten sie das gleiche Schicksal erlitten wie ich selbst. Einen sah ich in sich zusammengesackt in einer Ecke hocken und den Kopf schütteln. Manche löffelten eine unidentifizierbare Speise aus hölzernen Tellern.
Wir gingen eine ganze Weile und schließlich ging mir darüber das Zeitgefühl verloren. Denn die Szenen in den Zellen begannen sich zu wiederholen: Schon tauchte der dritte Gefangene auf, der nur noch resigniert den Kopf schüttelte. Angst und Übelkeit stiegen in mir auf, als mein Geist wider meinen Willen aus dem Gesehenen Rückschlüsse über die Begriffe des Individuums und des persönlichen Schicksals zu ziehen begann.
„Hier lang!“ Endlich verließen wir den furchtbaren Korridor über einen der abzweigenden Flure. Anschließend ging es eine steinerne Treppe hinauf.
Was folgte war eine Odyssee durch eine Unzahl weiterer Flure und Gänge, treppauf und treppab. Das Gebäude, in dem wir uns befanden, musste von schier unfassbaren Ausmaßen sein und war in seiner labyrinthisches Anlage absolut undurchschaubar.
Die Wände waren vielfach getäfelt und behangen mit Porträts im idealisierenden Stile des Klassizismus. Der Blick durch die hohen Fenster fiel auf eine unüberschaubar sich erstreckende Gartenlandschaft, die nach strengen geometrischen Regeln gestaltet war. Einen genaueren Eindruck davon konnte ich jedoch nicht gewinnen, da mein Bewacher mich unbarmherzig weiter zog.
Auf die Fragen, die ich von Zeit zu Zeit stellte, antwortete er entweder gar nicht oder nur in aller Kürze. Während unseres gesamten Weges sah ich nur bei zwei Gelegenheiten und auch nur auf die Distanz Männer, die offensichtlich Wache standen und die ähnlich gekleidet waren wie mein wenig gesprächiger Begleiter. Ansonsten schien der gigantische Komplex wie verwaist. Als ich meinen Bewacher darauf ansprach, antwortete er nur: „Der Hof ist zusammengetreten.“
Während ich noch über den vollen Sinn dieser rätselhaften Formel nachgrübelte, traten wir, wohl zum tausendsten Mal, durch eine Tür – hinter der sich ein Saal auftat von solch irrwitzigen Ausmaßen, dass es mir den Atem nahm. Weit streckte er sich in alle Richtungen hin und von der Decke hingen Kristallleuchter, die so groß wie ganze Häuser waren.
Eine solche Masse von Menschen erfüllte den Raum, als habe man hier meine halbe Heimatstadt zur Volkszählung versammelt. Diese Menschen aber waren nicht gekleidet wie solche aus der Stadt, der ich entstamme oder irgendeiner anderen Stadt, die heute auf der Erde zu finden ist. Stattdessen waren sie in farbig leuchtende Gewänder gehüllt, in die erlesensten Stoffe, die sich ein Mensch nur denken kann und von überall her funkelte der goldene Zierrat.
Vor mir aber öffnete sich die Menge zu einem nach hinten gestreckten Halbrund und gewährte den Blick auf ein am anderen Ende des Raumes befindliches erhabenes Podest, auf dem sich etwas wie ein Altar oder ein Thron befand – noch vermochte ich es, aufgrund der Entfernung, nicht zu erkennen.
Die plötzlich mir entgegen stürmenden Eindrücke ließen meine Brust in eisiger Panik erstarren. Ich wäre wohl auf der Stelle herumgefahren und aus dem Saal geflohen – hätte mich der grausame Bewacher nicht schon weitergezogen.
Die Menschenmasse zu beiden Seiten raunte und rauschte wie ein Leibermeer, als wir vorübergingen. Wie wir uns weiter näherten und ich immer mehr Einzelheiten erkannte, begann die Erkenntnis der irrmachenden Wahrheit in mir heraufzudämmern. Ich wollte mich dem eisernen Griff entwinden, einen verzweifelten Fluchtversuch unternehmen – aber mein Körper gehorchte mir längst nicht mehr.
Auf dem Podest standen zwei Throne, ein größerer und ein kleinerer, auf dem König und Königin Platz genommen hatten. Zunächst nahm der König meine Aufmerksamkeit in Beschlag: Er war ein gewaltiger Herr. Auf seinem strengen Haupt ruhte eine vor Gold und Edelsteinen starrende Krone, dunkelbraunes Haar fiel ihm in dichten Wellen auf die Schultern, ein Bart von ebensolcher Art umfasste die untere Gesichtshälfte. Seine Linke hielt das Szepter, das Zeichen seiner Macht, die Rechte ruhte auf einer goldenen Harfe, die in Form eines Jünglingskopfes endete.
Die Königin aber war – und hier setzte mir beinah das Herz aus – jene Unbekannte, von der ich mich stets beim Kartenspiel beobachtet gefunden hatte. Zwar war sie hier anders, nämlich in der Art der übrigen Gesellschaft gekleidet, doch erkannte ich sie ohne jeden Zweifel. Als sie mein Erschrecken sah, lächelte sie mir listig zu.
Mir war nun endgültig bewusst, in welches Dämonenreich ich hier geraten war.
Das Podest war von Wächtern umstanden, die meinem Bewacher glichen – ihm tatsächlich bis aufs Haar glichen. Davon abgesehen, dass ein jeder von ihnen eine Hellebarde hielt.
Als wir unmittelbar vor der Plattform standen, wich auch der Wächter von meiner Seite und nahm den freien Platz unter seinesgleichen ein.
Es dauerte eine ganze Weile, bis die allgemeine Unruhe im Saal verebbt war, aber endlich trat doch Stille ein. Dann begann der König zu sprechen. Seine Stimme war schwer und dunkel; fest und doch von jenem untergründigen Beben tausendfach gebrochen, das in den Herzen der Menschen verfängt und sie gleichsam zum Erzittern bringt.
„Du bist“, sprach er und das letzte Gemurmel ringsum erstarb, „hierher gebracht worden, um deine Schuld zu begleichen.“
„Ich“, hob ich an, musste jedoch feststellen, dass mir die Stimme versagte.
„Versuche nicht, es abzustreiten!“, donnerte es mir entgegen. „Du hast meinen Beistand erfleht und er wurde gewährt. Wisse: Niemand nimmt von den Reichs-Kleinodien aus Räumen und Zeiten, ohne im gleichen Wert zurückzuzahlen. Alles andere brächte Chaos in die Zusammenhänge!“
Im Saal erhob sich ein zustimmendes Raunen.
„Du wirst also bezahlen, indem du Dienst tust bei den Legionen derer, die das Gewirr entflechten, auf das Ordnung und Weltenlauf daraus werde.“
Um mich wurde nun boshaft gekichert, im Augenwinkel sah ich, wie einer der Höflinge mit dem Finger auf mich deutete.
„Du wirst die Siebenen, die Achten, die Neunen und die Zehnen ordnen! Nach Farben und aufsteigend! So soll es geschehen!“
Schon traten zwei der Hellebardenträger auf mich zu, in der Absicht, mich zu ergreifen. Erschrocken machte ich einen Schritt zurück – dabei glitt meine Rechte zufällig über meine Tasche und ich erfühlte darin mein gezinktes Kartenblatt. Mir kam der rettende Gedanke!
Ich langte in die Tasche und fand sogleich das entsprechend markierte Pik Ass.
Rasch riss ich die Karte hervor. Wie einen schützenden Talisman reckte ich sie in Richtung des Throns. Dazu rief ich: „Ass sticht König!“
Der Ausdruck auf dem Gesicht des Königs wandelte sich schnell: von Erstaunen über Zorn in ungläubiges Entsetzen.
Der gesamte Hofstaat verfolgte wie fest gebannt das grausige Schauspiel: Der Kehle des Königs entrang sich ein markerschütternder Schrei. Schon wurde auf seiner Wange ein schwarzer Fleck sichtbar, der sich schnell erweiterte – über ihm tanzte eine gelbe Flamme – und bald das halbe Gesicht zerfraß, als sei es aus Papier.
Am ganzen Körper züngelten jetzt die Flämmchen hervor. Der König krümmte sich – er verlor an Substanz. Dann gab es ein scharfes Zischen, das Feuer schnellte empor und verschlang den König ganz und gar. Schwarze Asche glitt durch die Luft und rieselte auf die schockierte Gesellschaft hernieder.
Nur einen Augenblick noch währte das stumme Entsetzen. Dann brach das Chaos los: Panische Schreie erfüllten den Saal, Füße trampelten und die Menge stürzte durcheinander.
Durch das Gewühl hindurch sah ich einen der Hellebardenträger, der auf mich wies und wutentbrannt etwas schrie, das ich nicht verstand. Es war mir auch gleichgültig.
Drängelt und stoßend, mich durchzwängend und schiebend, versuchte ich eine der Türen zu erreichen. Dabei kam mir zugute, dass die Höflinge mich zu fürchten schienen: Vor mir sprangen sie beiseite, auch schrien sie in Todesangst auf, wenn ich sie berührte.
Meine Verfolger hatten, wie mir gehetzte Blicke über die Schulter verrieten, größere Schwierigkeiten, durchzukommen.
Endlich erreichte ich eine der Türen, die aus dem Saal hinausführten. Ich fand mich auf einem der Korridore wieder, die ich vorhin schon zu Dutzenden durchschritten hatte. Zu beiden Seiten zweigten weitere Flure ab. Einen Augenblick lang überlegte ich, welchen ich nehmen solle – da brachte mich der wütende Ruf „Packt ihn!“ in meinem Rücken dazu, mich nach links umzuwenden und einfach drauf los zu rennen.
Ich rannte und rannte – die Verfolger stets hinter mir wissend – und fand doch keinen Ausweg. Mehrmals versuchte ich, im Geiste einen Plan der schon durchquerten Räume anzulegen, im Aufbau dieses labyrinthischen Schlosses ein System auszumachen – vergebens. Treppauf und treppab führte mich mein Weg, mal links mal rechts herum.
Meine Ausdauer war nie die beste gewesen und bald klebte mir die Kleidung feucht am Körper. Ich hatte kaum mehr genug Kraft, noch Luft zu holen und ich würde nicht mehr lange rennen können. So wählte ich, wenn ich mich nun einmal wieder vor die entmutigende Wahl gestellt war, stets den Weg die Treppe hinunter.
Schließlich war ich vollends erschöpft. Ich ließ mich an einer Wand niedersinken und den Kopf auf die Knie fallen. Selbst wenn ich die Augen schloss, schien sich noch immer alles zu drehen und gefährlich zu schwanken. Also blickte ich wieder auf.
Ich stellte fest, dass eine dünne Staubschicht den Boden bedeckte. An den Wänden hingen keine Bilder und ihre Farbe wirkte matt und schmutzig. Ich mutmaßte, dass ich in einen ungenutzten, wohl unterirdisch gelegenen Bereich des Titanenbaus gelangt sein musste. Auch meine Häscher schienen sich hier nicht auszukennen. Ihre Stimmen klangen leise durch das Gewirr der Gänge und Flure an mein Ohr.
Dennoch musste ich weiter.
Je weiter ich mich vorwärts schleppte, desto stärker wurde der Eindruck der Verlassenheit des Ortes. Wände, von denen die Farbe abblätterte, wurden abgelöst von solchen, die wohl nie verputzt worden waren.
Endlich gelangte ich in Gänge – vielmehr Tunnel – die augenscheinlich durch das graue Gestein getrieben worden waren. Tageslicht drang nicht in diese Tiefen, aber dennoch konnte ich alles in einem schummrigen Licht blauer Farbe erkennen. Es war, als würde dieses Licht von den Wänden selbst abgestrahlt und als ich sie berührte, spürte ich, dass sie von einer flaumigen, klammen Schicht überzogen waren.
Ein leichter Schwindel, der von der körperlichen Überanstrengung und der nervlichen Anspannung herrühren musste, machte mir das Weitergehen schwer.
Der Weg ging leicht schräg hinab. Geräusche, die ich zuerst noch als Einbildung abtat, nahmen an Lautstärke stetig zu: Ein vielfaches Schlagen von Metall auf Metall – ein schnelles Pfeifen und Zischen – ein allgemeines Rattern und Brummen.
Vor meinen Augen stiegen Bilder einer gigantisches Maschine auf, deren zahllose Räder sich in blindem Schwunge immer und immer weiter drehen.
Als der Lärm schließlich Ohren betäubend wurde, meinte ich darunter eine zweite Art von Geräuschen zu hören. Etwas wie ein tausendkehliges Stöhnen. Als würden sich jenseits der Gesteinsmassen vor, über und neben mir ungezählte Menschen unter namenloser Folter winden. Ein eiskalter Schauer schüttelte meinen Körper – für einen Augenblick meinte ich gar, ich müsse die Besinnung verlieren.
Beinah wäre ich gegen die Tür gelaufen, die plötzlich den Gang vor mir abschnitt. Sie war rund und aus dunklem Holz. Silberne Verziehrungen, etwa in Form von Flammen, fassten sie ein. Mittig waren die vier Symbole des Kartenspiels angebracht: Karo, Herz, Pik, Kreuz.
Ein tückisches Grauen begann in mir aufzusteigen. Ich spürte meine Entschlusskraft wanken und wusste, dass mich aller Mut verließe, wenn ich noch länger zögern würde. Also fasste ich mir ein Herz und stieß die Tür auf.
Ich machte einen Satz in die Dunkelheit dahinter – und stürzte hinab.


Ich schlug die Augen auf und sprang auf die Füße. Der Raum, in dem ich mich nun befand, schwankte auf Übelkeit erregende Weise und ich wäre gestürzt, hätte meine Hand nicht eine Wand gefunden.
Das Licht stach mir grell in die Augen, sodass ich wenig erkannte – vor dem hellen Gleißen aber zeichnete sich scharf die Silhouette eines zur Schlinge geformten Strickes ab!
Eine Hand aus Eis schloss sich um mein Herz. Ich taumelte an der Wand entlang und bekam einen Türknauf zu fassen. In meiner wilden Flucht stürzte ich halb einige Treppen hinab, ich stürmte einen Flur entlang – und gelangte endlich ins Freie.
Trotz der Erschöpfung rannte ich weiter. So viel Raum wie nur möglich wollte ich zwischen mich und das schreckliche Schloss bringen. Aber bald darauf brach ich dann doch ohnmächtig zusammen.


Fröstelnd erwachte ich in von Gaslicht gebrochener Dunkelheit. Jenseits der offenen Fläche schwebte eine große Uhr scheinbar im Nichts. Noch ehe ich wieder ganz auf den Beinen war, wusste ich, dass ich mich am Bahnhofsplatz, unweit meiner Wohnung befand.

 

Hey Abdul!

Meine Phantasie, von der Droge mit dunklen Schwingen beschenkt, stieg auf in Sphären, in denen die Luft dünn und der Körper fern ist
Da würde ich am liebsten wieder aufhören zu lesen, aber gut, auf viele deiner Geschichten muss man sich eh einlassen - besonders wegen deinem Stil. Aber gut, ich will das jetzt lesen.

So, zu Ende gelesen, das war jetzt ein Trip. :D
Das, was da so passiert, gefällt mir eigentlich ganz gut, ich hab nur ein Problemchen mit den Figuren, ich kann ihre Rollen nicht ganz einordnen. Angefangen bei diesem angeblichen Freund aus Kindertagen - da dachte ich erst, der Prot. bastelt sich ein zweites Ich und redet mit sich selbst, gerade weil der zweite seine innigsten Wünsche offenbart und seinen Namen kennt und sich für sein jetziges Leben interessiert. (Jugendfreunde haben das eine an sich, sie interessieren sich immer für die Vergangenheit;)) Als die Glückssträhne kam und sie davor ja noch über diese Macht-Geschichte gesprochen haben, dachte ich mir, dass er so eine Art Gott ist - aber das ist ja so langweilig, also immer Gott für alles ins Spiel zu bringen und alles mit Gott zu erklären, jedenfalls hat dieser Jugendfreund Macht dem Prot. selbst Macht zu verleihen, und er hat ihm die Macht für eine Weile angeboten, um zu sehen, wie dieser mit ihr umgeht (?) (So bisschen Bruce Allmächtig-mäßig?) Da er offenbar wieder dieser Spielsucht verfällt und sein Ton um eine Tonlage arrogante wirkt, kommt das Schicksal/die Frau hinzu, als Vorbote, was ihn erwarten wird bzw. um ihn zu warnen? (Keine Ahnung)
Dann die Sache mit dem Kartenkönig, das ist eine tolle Idee. Und dann das Ende - was für mich bisschen darauf deutet, dass der Prot. einfach zu viel Opium geraucht hat und na ja, dass sich das alles in seinem Kopf abgespielt hat. (Das wäre aber, glaub ich, die langweiligste Erklärung, die man bringen könnte, genauso wie als wäre es nur ein Traum, das glaub ich nicht.)
Da ist mehr - wahrscheinclih etwas Kosmisch-Göttliches - würd zu dem verstaubten Stil passen. :P (Da waren ein paar schöne Bilder bei, sonst holst du zu sehr aus, also mit deinen Erklärungen, wirkt ermüdend nach 'ner Zeit,)

Sonst, hab ich's eigentlich gerne gelesen, nur fehlt mir was, ich könnte dir nicht sagen, was ich da eigentlich gelesen habe, der Zusammenhang fehlt für mich, und ich lese das jetzt nicht ein zweites Mal - nicht jetzt! :D
Aber ich muss ein Lob für deine Arbeit aussprechen, hast dir viel Mühe gegeben und man merkt das. *applaudier*

JoBlack

 

Hallo Abdul!

Ich mag diesen schwülstigen Stil, der aus dem 19. Jahrhundert geliehen ist. Das hast du wirklich recht gut hingekriegt. Es ist vergnüglich zu lesen, weil man eben diese Art von Geschichten gut kennt, weil das alte Bekannte sind, an die man sich gerne wieder erinnert.

Aber Jo hat schon Recht: Die Geschichte ist auf eigentümliche Weise leer - vielleicht, weil nichts darin ist, was mit unserem heutigen Leben zu tun hat. Sicher, Sucht spielt auch heute noch eine sehr große Rolle, aber du gehst auch dieses Thema auf die Weise des 19. Jahrhunderts an. Und daher wirkt alles nur wie ein riesiges, aufgebauschtes Tamtam, mit nicht viel dahinter. Vergnüglich zu lesen, ja, aber am Ende ist man unbefriedigt, weil nichts passiert, was einen wirklich zu denken gibt, auch wenn noch so oft das geheime und ungeheuerliche Geschehen behauptet wird, spüren tu ich es nicht. Alles erscheint irgendwie wie abgepaust, es wird aber nicht mit neuen Inhalten gefüllt.

Trotzdem: Erzählt ist es spannend, auf jeden Fall ist es eine unterhaltsame Geschichte. Der Einfall mit der Karte ist natürlich genial! Es ist ein Gemisch von Poe, Alice im Wunderland und dieser einen komischen Serie mit dem Schachspiel, von der ich nicht mehr weiß, wie sie heißt, und vielen anderen Quellen.

Der Schlummertrunk, den ich so eben genossen, ein Glas Wein mit darin gelöstem Opium, machte, dass ich mich seltsam friedlich
"machte, dass ... " sehr unschön
von der frühen Morgenbriese, die durch das offene Fenster hereinreichte
Morgenbrise, hat diese Brise Arme? ;) "hereinreichen" passt nicht
Der Ruhe mischte sich jedoch bald darauf eine heftige Wehmut bei.
hier geht dieser gestelzte 19.-Jahrhundert-Stil deutlich daneben
hätte mich doch der finanzielle Mangel vor schlimmster Ausschweifung bewahrt!
Mann, ich liebe das alte Wort "Ausschweifung"! Das ist wirklich ein Wort, das die Fantasie anregt! :D
Ich begann zu spielen, jedes Spiel, dass mit Karten möglich ist
das
Bald war ich allein und mittellos.
Tja, diese Mittellosigkeit der reichen Herren des 19. Jahrhunderts - die reicht noch immer aus, um auch weiter ausschweifend leben zu können, arbeiten muss da nie einer ;)
Die studentischen Trinkrunden vertauschte ich mit jenen der Zwielichtigen und ganz Verworfenen.
klein: zwielichtigen und verworfenen
Zudem suchte ich die Gesellschaft der Dirnen, wie man sie in den schäbigen Vierteln findet
von Dirnen - aber frag mich nicht, wieso ;)
Zudem versuchte ich, falsch zu spielen mit einem gezinkten Blatt, das ich in der Tasche mit mir führte.
Kommas: Zudem versuchte ich falsch zu spielen, mit einem gezinkten Blatt, das ich stets in der ... ich würde das "stets" auf jeden Fall dazunehmen, da der Nebensatz sonst keinen Zweck hat.
Darum nährte ich die Schlinge rasch meinem Kopf
näherte
wollte sie eben darüber ziehen
zusammen: darüberziehen
Meine erste innere Regung darauf bestand in einer irrationalen Angstaufwallung
weglassen: darauf
wie ein Schellen bewährter Narr auf einer Beerdigung.
du meinst "bewehrter", aber ich würd sowieso "mit Schellen behangener" nehmen
Mein Vorhaben, mir das Leben zunehmen
auseinander: zu nehmen
Hier, direkt beim Fenster, traten die Züge des Fremden schärfer hervor
ich dachte, es ist Nacht? ;)
wohl durch den Wein hervor gelockt
zusammen: hervorgelockt
Eine Schicksalskraft, genauer gesagt, die alle Räume und Dinge durchwirkt, auch die Karten –
da fehlt etwas: Eine Schicksalskraft, genauer gesagt, eine Kraft, die ... du musst es wiederholen
Und wenn er dann mal eine Strähne erwischt
das umgangssprachliche "mal" passt nicht zum gehobenen Stil
Oder in einem scheinbar funktionslosen Betreich des menschlichen Gehirns
Bereich
die Stiegen zum geheimsten Heim hinab
geheimsten Heim? :schiel:
dem der Ruf des Betrügers voraus eilt.
zusammen: vorauseilt
an dem ich sie das erste mal sah
groß: Mal
und spätestens von diesem Augenblick an, fühlte ich mich zu ihr hingezogen.
ohne Komma
die in ein und das selbe Geheimnis
ein und dasselbe
Die Verbindungen, die zwischen allem und jedem bestehen – die etwa den Spieler mit seinem Blatt, die Karten des selben untereinander verbinden – die über Glück und Unglück entscheiden – die kausalen wie auch die über- und irrationalen – waren zwischen uns in besonderem Maße ausgeprägt
desselben - überhaupt ein schlimmer Stolpersatz
wollte mich eine geheime Macht zu ihr hinüber ziehen
zusammen: hinüberziehen
wie ein Schatten der über die Mondscheibe zieht.
Komma: Schatten, der ...
Das zunehmendes Gefühl drohenden Verhängnisses
zunehmende
mir nun allerdings noch vertrauter schien, als in jener Nacht,
ohne Komma
Einen sah ich in sich zusammen gesackt
zusammen: zusammengesackt
und die ähnlich gekleidet waren, wie mein wenig gesprächiger Begleiter
ohne Komma
Diese Menschen aber waren nicht gekleidet, wie solche aus der Stadt
ohne Komma
wohl auf der Stelle herum gefahren
zusammen: herumgefahren
hätte mich der grausame Bewacher nicht schon weiter gezogen.
zusammen: weitergezogen
als wir vorüber gingen
zusammen: vorübergingen
begann die Erkenntnis der irrmachenden Wahrheit in mir herauf zu dämmern
irre machenden ... zusammen: heraufzudämmern
nämlich in der Art der übrigen Gesellschaft, gekleidet
ohne Komma
ohne im gleichen Wert zurück zu zahlen
zusammen: zurückzuzahlen
auch schrieen sie in Todesangst auf, wenn ich sie berührte
schrien
größere Schwierigkeiten, durch zu kommen.
durchzukommen
die aus dem Saal hinaus führten
zusammen: hinausführten
Treppauf und treppab führte mich mein weg
groß: Weg
Geräusche, die ich zu erst noch als Einbildung abtat
zuerst
deren zahllose Räder sich in blindem Schwunge immer und immer weiter drehen
Zeit: drehten
Etwas, wie ein tausendkehliges Stöhnen
ohne Komma
Noch ehe ich wieder ganz auf den Beinen war wusste ich
Komma: war, wusste ich ...

Gruß
Andrea

 

Angestaubte Grüße!

Da bin ich ja regelrecht schockiert, wie schnell hier, bei einer doch recht langen Geschichte, gleich zwei Kritiken herein flattern.
Dank euch beiden dafür! Ist ja schon erfreulich, dass ihr mit dem Stil generell was anfangen könnt. (Und natürlich: Danke für den Applaus, Jo. ;))

Darüber dass ihr beide sagtet, am Ende fehle euch bei der Geschichte etwas, habe ich jetzt eine Weile nachgedacht. Ich möchte auch nicht mal behaupten, dass es mir da anders geht ...
Aber woran liegt's denn nun?
Ich denke eigentlich nicht, dass es auf die Altertümlichkeit der Geschichte zurückzuführen ist. Generell glaube ich nicht daran, dass irgendetwas Gutes wirklich veralten kann. Ich meine: Wenn ich heute noch Geschichten von Poe gern lese - warum sollte ich dann nicht auch Geschichten im Stile von Poe gern lesen, die irgendein Typ hundert Jahre später geschrieben hat? Und den hier geübten Stil auf das 19. Jahrhundert zu datieren, ist wohl auch ein wenig übertrieben ... Thomas Mann zum Beispiel hat ja bis weit ins 20. Jahrhundert hinein auf eine Weise geschrieben, die nicht weniger "altbacken" wirkt.
Auch die Wichtigkeit von aktuellen Bezügen halte ich für überschätzt. Die wirklich interessanten Themen bleiben im Kern doch immer gleich. Nur weil es in den Dramen des Sophokles keine Mobiltelefone gibt, sind sie für mich kein Stück weniger wertvoll.
Persönlich denke ich, dass die Geschichte einen ein wenig unzufrieden zurück lässt, schlicht und ergreifend deshalb, weil der gewählte Stil von sich aus viel will. Oder anders gesagt: Einen schlechten King liest man vielleicht immer noch lieber als einen mittelmäßigen Poe. Was in der Konsequenz heißen würde: Insgesamt hab ich's einfach noch nicht so gut drauf. :D

Zur Interpretation der einzelnen Figuren könnte ich jetzt was sagen ... Aber vorerst lasse ich es einmal. Die Auslegung des Verfassers ist für manch einen Leser höchst unbefriedigend, hat dabei aber so etwas ärgerlich "offizielles".

Also: Noch einmal schönen Dank für die aufschlussreichen Kritiken!

Ich werde mich jetzt erst einmal Andreas Liste widmen ...


Gruß,
Abdul

 

Salü AbdulAlhazred,

wow, da hast Du einen Dostojewski in Kurzform geliefert und, wie mir scheinen will in gar prachtvoller Manier die altertümelnde Sprache durchgehalten. Dafür mein uneingeschränktes Lob. Ich konnte die Geschichte gut, teilweise auch mit schmunzelnd erhobenen Mundwinkeln lesen und mich an der aufgebauten Spannung weidlich ergötzen.

Hier noch einige Textbeeinträchtigungen, die mir in der vorgelegten Länge des Textes durchaus verständlich, deren Verbesserungen mir aber trotzdem ratsam erscheinen:

jedes Spiel, dass mit Karten > das

das Gesicht war kein fremdes > war mir nicht fremd / kein Fremdes

der Besucher mit tröstendendem Tonfall. > tröstendem

Schloss im entlegensten Winkel > entlegendsten

scheinbar funktionslosen Betreich > Bereich

Es war, als spürte ich das selbe Wohlgefühl >dasselbe

an dem ich sie das erste mal sah. > Mal

wie es Leute zu tun pflegen, die in ein und das selbe Geheimnis > dasselbe

Das zunehmendes Gefühl > zunehmende

Mit einem Schlag wurden meine dunklen Vorahnungen war, > wahr

war in seiner labyrinthisches Anlage > labyrinthischen

in farbig leuchtende Gewänder gehüllt, in die erlesensten Stoffe > erlesendsten

Drängelt und stoßend,> Drängelnd

sie beiseite, auch schrieen > schrien

Treppauf und treppab führte mich mein weg, > Weg

So wählte ich, wenn ich mich nun einmal wieder vor die entmutigende Wahl gestellt war, > gestellt sah oder wenn ich nun einmal wieder vor die entmutigende Wahl gestellt war (dann MICH weg)

stiegen Bilder einer gigantisches Maschine > gigantischen

Durchaus seltsame Geschichte. Kein Schnäppchen für zwischendurch! Wahrlich ein erlesener Lesegenuss.

Liebe Grüsse,
Gisanne

 

Hallo Gisanne,

wow, da hast Du einen Dostojewski in Kurzform geliefert und, wie mir scheinen will in gar prachtvoller Manier die altertümelnde Sprache durchgehalten. Dafür mein uneingeschränktes Lob.
Das tut doch mal gut. :D Dostojewski ... Hat der nicht selbst einen Großteil seines Vermögens verspielt?
Freut mich, dass es dir insgesamt so gut gefallen hat. Die von dir angeführten Punkte werde ich demnächst durchsehen und gegebenenfalls einarbeiten ...


Gruß,
Abdul

 

Dostojewski ... Hat der nicht selbst einen Großteil seines Vermögens verspielt?

Zumindest in seinem Roman 'Der Spieler' schlagen sich seine Erfahrungen nieder. Und den hab ich mir gerade wieder hervorgeholt. Is nicht so lang wie 'Schuld und Sühne' :D

 
Zuletzt bearbeitet:

Guten Abend, Abdul Alhazred!

Phantastik ist doch prima. Ich hab Deine Geschichte gern gelesen, sie liest sich wie eine liebevolle Hommage an die Düsterwirren Laudanumbrüder, und ich glaube, daß sie durch ebenso liebevolles Streichen und Überarbeiten noch viel besser werden könnte. Dieser Stil verführt regelrecht zum Überflüssigen und manchmal zur Übersättigung, wo Üppigkeit und Fülle gemeint waren.

Ich hab da so eine Liste geschrieben:

den ich soeben genossen
frühen Morgenbrise, die durch das offene Fenster hereinreichte, sanft gewiegt
das Unterstrichene kann raus
nicht nur meinen Tod, nein, dem Bild gesellten sich bald weitere aus frühester, glücklicher Kinderzeit hinzu.
das klingt ein bißchen, als sei sein Tod eines der Bilder aus frühester glücklicher Kinderzeit. Vorschlag:

..., auch Bilder aus frühester, glücklicher Kinderzeit stiegen in mir empor (o.ä.)

Die Kindheitsidylle, samt Geborgenheit im Elternhaus und endlos scheinender Sommertage, verschwand alsbald im Wirbel der Zeit und wurde ersetzt durch jüngere, minder verklärte Erinnerungen.
Das ist komisch. Klar weiß man, was gemeint ist, aber ersetzt wird die Idylle ja nicht. Die Erinnerungen werden überlagert, geraten außer Sicht, irgendsowas.
und oft schon schien es mir, sie hätte ein besseres Ende finden können, wäre ich weniger reich begütert gewesen, was sowohl Geld als auch Geist anbetraf. Hätte eine langsamere Auffassungsgabe mich länger an die Bücher gefesselt, hätte mich doch der finanzielle Mangel vor schlimmster Ausschweifung bewahrt!
Das Unterstrichene würde ich streichen. Das bringt nur weitere hättes und ist nicht nötig.
nur allzu leicht
der tüchtigste und lauteste
Mir ist, als gehöre das großgeschrieben.
Kaum dämmerte ein Morgen herauf
Kaum ein Morgen dämmerte herauf oder Kaum je(mals) dämmerte der Morgen ...
jedes Spiel, das mit Karten möglich ist.
um dann allzu oft wiederum zu verlieren.
allzu oft könnte genausogut weg. Vorhin war schon allzu leicht.
Die studentischen Trinkrunden vertauschte ich mit jenen der Zwielichtigen und ganz Verworfenen.
Na, wenn das nicht ein prima Tausch war! :D
Mein letztes Geld fraß längst der Opiumkonsum, auf dessen beruhigende Wirkung ich angewiesen war.
Zwoter Satzteil ist auch überflüssig. Auf jeden ernsthaft betriebenen Konsum, der Geld frißt, ist der Betreffende angewiesen.
Reste einer bangen Aufregung wurden überdeckt von einem Gefühl der Wärme.
Wiederholung. Das erste einer streichen: Reste banger Aufregung ...
Dazu kam mit einem Mal ein zunehmendes Schwindelgefühl.
entweder ein zunehmendes Schwindelgefühl oder mit einem Mal Schwindelgefühl.
ein hohes Knarren
Unlogisches Geräusch. Ich weiß, was Du meinst, dieses hölzerne Quietschen, das sich ans Knarren annapft. Wie heißt das aber? Knirzen gibt’s ja nicht, aber hier würde es prima passen. Sonst halt hohes streichen und der Phantasie des Lesers trauen.
War das nicht das Geräusch, das schwere Schritte auf der Stiege zu verursachen pflegten, die zu meiner Kammer heraufführte?
kann weg
Meine erste innere Regung bestand aus einer irrationalen Angstaufwallung, die ihre Ursache wohl in meiner völligen Verwunderung fand. Wer konnte jetzt noch etwas von mir wollen?
Taumelnd fand ich den Weg zur Tür. Ohne groß mit der Frage, wer da sei, Zeit zu verschwenden, sperrte ich auf.
Unterstrichen kann weg. Ich würde den Satz auch umstellen: Erst die Frage, dann die Wallung, dann direkt das Türtaumeln, etwa so:

Wer konnte jetzt (um diese Zeit) etwas von mir wollen? Meine erste Regung (nach völliger Verwunderung) war das Aufwallen irrationaler Angst. Taumelnd fand ich den Weg zur Tür und sperrte sie auf.

Seine Erscheinung passte dazu und schlug mich gleich in ihren Bann.
weg
Die Züge waren, sofern ich das im fahlen Licht, das eine Straßenlaterne in meine Kammer warf, erkennen konnte, ebenmäßig, wie gezeichnet:
entweder weg oder das Stakkato raus: ..., soweit ich das im fahlen Licht der Straßenlaterne erkennen konnte, ...
Den größten Teil zu meinem Erstaunen trug aber der Umstand bei, dass der Unbekannte mich mit „Fritz“ angesprochen hatte – dem Namen meiner Knabenzeit, der mir hier und zu dieser Stunde in etwa so deplaziert erschien kein Komma wie ein schellenbehangener Narr auf einer Beerdigung.
Der erste Satzteil ist ein bißchen hilflos. Besser wäre z.B.: Das größte Erstaunen bereitete mir jedoch der Umstand, …
Schön, daß Du nicht deplatziert geschrieben hast. Nach der neuen Rechtschreibung müßtest Du das eigentlich ... gar nicht dran denken.
Mein Vorhaben, mir das Leben zunehmen, erschien mir mit einem Mal nicht nur feige, sondern ganz und gar lächerlich.
was hatte er sonst noch vor an diesem schönen Tag? Überflüssig.
Mein nächtlicher Besucher schien, zumindest was die Lächerlichkeit anbetraf, mit mir einer Meinung zu sein, denn er ließ ein Lachen hören, bevor er fortfuhr: „Aber nein! Das ist ja eine Sache! Das wirst du mir erklären müssen.“
würd ich ersetzen mit ... derselben Meinung zu sein, ...
Ich schloss die noch immer offene Tür
Wie über alle Maßen logisch! Streichen.
das zugleich befremdliche Gefühl der Vertrautheit wuchs weiter an.
Komisch, sich ein weiter anwachsendes Gefühl vorzustellen. … vertiefte sich oder … wurde stärker fände ich passender.
Zugleich kann weg.
Als er die Gläser füllte, wollte ich protestieren, da ich mich ohnehin schon recht miserabel fühlte. Er aber wischte meinen Einwand hinweg und versicherte, der Trunk würde mir gut tun.
Warum will er protestieren, nachdem er die Gläser schon geholt hat? Das würde ich zusammenstreichen:
Er füllte die Gläser und versicherte, der Trunk werde mir guttun.
Eine lockere Plauderei entspann sich wie von selbst und bald bemerkte ich, dass er recht gehabt hatte: Der Wein schien, so seltsam das auch war, die üblen Symptome des Rausches an den Rand zu drängen und mir Klarheit und Leichtigkeit einzuflößen. Wir wurden recht fröhlich und lachten laut.
Auch hier: Zusammenstreichen! Es wird davon kompakter und stärker.
Ihren Höhepunkt erreichte die Heiterkeit regelmäßig, wenn mein Besucher stumm nach oben deutete und so auf die Skurrilität aufmerksam machte, dass wir hier unter einer Würgeschlinge zechten.
Ihren Höhepunkt kann die Heiterkeit nur einmal erreichen. Regelmäßig ginge es mit Einen Höhepunkt, aber warum nicht einfach schreiben: Ihren Höhepunkt erreichte die Heiterkeit, als mein Besucher …
Endlich kam er wieder auf das Thema zurück, das ihn offenbar eigentlich bewegte: „Also, Fritz: Woher denn nun der Kummer?“
Dieser Satz wirkt komisch, wenn man bedenkt, daß vorher immer wieder die Schlinge Anlaß zu Heiterkeitshöhepunkten (und das Thema also dauernd gegenwärtig) war. Zusammenstreichen! Endlich fragte er: reicht schon.
Ich dachte kurz darüber nach und wollte schon mit den Schultern zucken, und sein aufdringliches Fragen übergehen – da holten mich, wohl durch den Wein hervorgelockt, gewisse Überlegungen ein, die ich die letzten Monate hindurch verfolgt hatte, und ohne mich noch zu besinnen, sprach ich sie aus:
Dies & das streichen. Der Held hat sich der Situation ja bereits ergeben. Warum sich also zieren und – unlogischerweise und schwächend für die Geschichte – z.B. das Fragen als aufdringlich bezeichnen?
Für den Spieler aber stellt es sich ganz anders dar: Für den, der mit Leib und Seele an den Karten klebt, hören Zufall und Glück letztlich auf zu existieren. Der Spieler verdrängt sie zunächst, später verleugnet er sie. Stattdessen fühlt er unsichtbare Kräfte am Werk. Eine Schicksalskraft, genauer gesagt, die alle Räume und Dinge durchwirkt, auch die Karten – der alles anhängt, wie Marionetten an unsichtbaren Fäden. Diese Kraft ist wie ein leise knisterndes elektrisches Feld. Es ist auch im Spieler selbst, es kitzelt und erhitzt sein Hirn, es erschreckt und erleichtert sein Herz. Er gewinnt den irrationalen Glauben, dass er dieses Feld beeinflussen kann, mit der Gewalt seines Willens, durch heftigstes Wollen. Und wenn er dann einmal eine Strähne erwischt … So fühlt er sich bestätigt. Drei, vier Mal gewinnt der Spieler hintereinander und er schreibt es sich selbst zu. Er hat seinen Geist endlich in die richtige, die geheime Ordnung gebracht! Verliert er darauf, so schreibt er es sich wieder selbst zu: Sein Herzensjubel hat den Willen geschwächt und den Bann gebrochen. Und er spielt weiter, immer fort.“
Das ist meine Lieblingspassage. Die ist besonders liebevoll geschrieben, wirklich schön.
Paar Sachen würd ich ändern:

Für ihn, der mit Leib und Seele an den Karten klebt, hören Zufall und Glück letztlich auf zu existieren. Er verdrängt sie zunächst, später verleugnet er sie.

Drei, vier Mal hintereinander gewinnt er und er schreibt es sich selbst zu.

„Töricht?“, erwiderte der Besucher mit tröstendendem Tonfall.
Würd ich streichen.
so stiege ich gern mit erhobenem Haupt die Stiegen zum geheimsten Heim hinab, die Rechnung zu begleichen. Mir fiele schon etwas ein, die Ordnung zu überlisten.“
Was denn, was denn? Entweder die Rechnung begleichen oder die Ordnung überlisten.
Nachklänge des die Nacht hindurch Gesagten schwebten im Raum wie Nebel über dem Weiher.
Schön, schön! Das Überflüssige zu streichen verbessert den Klang noch.
Mein Besucher schob unter vernehmlichem Knarren seinen Stuhl zurück, indem er sich erhob und verabschiedete sich mit den Worten:
Das holpert. Mit einem Komma nach erhob wäre es schon nicht mehr ganz so arg.
– geradeso, als betrachte ich die Gegenwart bereits wie ein zurückliegendes Geschehen, an dem es nichts mehr zu ändern gäbe –
das ist ja exakt das, was Du schon vorher gesagt hast. Streichen.
Meine verschlungenen Wege
wenn schon ein Mensch mehrere Wege geht, müssen die auch noch verschlungen sein? Das hat zuviel Komik.
begab mich dann an einen der Tische, um im Kartenspiel mein Unglück zu versuchen.
Albern. … an einen der Spieltische wäre genug.
Doch was ich dabei erlebte, ist kaum zu beschreiben.
Dann streich den Satz doch einfach. Der treue Leser guckt ja zu, was weiter passiert.
Es war vielmehr so, dass ein mir bis dahin völlig unbekannter, aber zwingender Instinkt meine Spielzüge bestimmte. Und auch wenn es kein optischer Eindruck war, weiß ich den Vorgang nicht anders in Worte zu fassen:
Der zweite Satz kann weg. Wird ja sofort beschrieben, wie es aussieht und sich anfühlt und zugeht.
Ich erlebte also ein paar „Niederlagen“ und zum Ende hin, als versöhnlichen Abschluss des Abends, noch eine regelrechte „Pechsträhne“.
erlebte in Zusammenhang mit den Sogenannt-Gänsefüßchen ist häßlich. Die Niederlagen und die Pechsträhne sind ja echt, wenn er es auch anders hätte haben können. Er forciert Niederlagen und eine Pechsträhne, das wäre treffender.
wieder ordentlich einkleiden können, drei, vier gute Tage würden genügen, dann reichte es bereits wieder für eine größere Wohnung in einer besseren Gegend. Die Welt war wieder strahlend schön!
Alle wieders brauchst Du sicher nicht. Eigentlich nur das letzte.
an Herrschaften bereichern, die über mehr Geld verfügten, als ich ihnen abnehmen konnte, und die auch die größten Verluste mit einem Lächeln hinnahmen.
Gleich einem Ton etwa, der anfangs noch fast vollständig in der Stille verborgen ist und erst allmählich lauter wird, oder einem Schatten ganz am Rande des Gesichtsfeldes.
Jedenfalls war diese Anziehung nur zum geringsten Teil körperlich bedingt, obwohl sie zweifelsohne von ansprechendem Äußeren war
Streichen!
wie wenn sie das Werk eines Malers wäre
wie wenn sie wäre? Was würde Friedrichard dazu sagen? als sei sie oder als wäre sie.
Jedoch, als ich mich vom Spieltisch erhoben hatte und mit den Blicken den Raum nach ihr absuchte – da war sie verschwunden.
Als ich ich mich jedoch vom Spieltisch erhob und mit … absuchte, war sie verschwunden.
In den nächsten Tagen schwand die Distanz, die sie zu mir einnahm, Stück für Stück.
Den Einschub weg. Kann ja keine andere Distanz gemeint sein. Und: Eine Distanz einnehmen? Willst Du an der Stelle unbedingt was: Die Distanz zwischen uns.
sah ich mich, als ich mich zur Tür wandte, ihr auf einen Schlag von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestellt.
Das ist auch kraus. Vorschlag: … stand ich ihr (meinetwegen: fand ich mich), als ich mich zur Tür wandte, plötzlich von Angesicht zu Angesicht (ihr) gegenüber.
Nach wenigen Sätzen war sie wieder fort, unmerklich, wie ein Schatten, der über die Mondscheibe zieht.
Das ist nicht der Vergleich allererster Wahl. Die Frau verschwindet plötzlich zackpeng. Ein Schatten wandert aber sehr merklich und geruhsam über die Mondscheibe. Und diese Sätze … ich sah sie zuerst forthüpfen wie ein junges Reh, aber das kann ich Dir nicht in die Schuhe schieben. Stünde nicht fort schon da, ich schlüge Dir dennoch vor, die Sätze durch Worte zu ersetzen.
Das zunehmende Gefühl drohenden Verhängnisses verfolgte mich in die Nacht und wuchs dort zu monströser Größe heran. Ich fand nur noch wenig Schlaf, denn wenn ich so einsam in meiner Kammer im Bett lag, gewann die Bedrohung etwas entsetzlich Akutes. Als könne das Gebäude jeden Augenblick über mir zusammenstürzen.
Das könnte stärker sein. Erstmal der Bruch: Verfolgt ihn in die Nacht, dabei ist es erstmal früher Morgen. Dann merkt man: Es verfolgt ihn von diesem Morgen an dauernd und vor allem durch alle folgenden Nächte. Wäre einfach zu reparieren, so etwa:

Das Gefühl drohenden Verhängnisses verfolgte mich und wuchs während der Nächte zu monströser Größe heran. Ich fand nur noch wenig Schlaf, denn wenn ich einsam in meiner Kammer lag, gewann die Bedrohung etwas entsetzlich Akutes, als könne das Gebäude jeden Augenblick über mir zusammenstürzen.

Und die Schlinge, die ich im Halbdunkeln gerade noch erkennen konnte, war wie eine Manifestation der düsteren Drohung. Anfangs hatte ich sie als einen makabren Scherz hängen lassen. Mittlerweile jedoch, in jenen fürchterlichen Nachtstunden, zweifelte ich allen Ernstes, ob es mir überhaupt möglich wäre, sie zu entfernen.
Das mit dem makabren Scherz kam schon lange vorher. Okay, es ist lange her, der vergeßliche Leser mag es vergessen haben. Den Satz danach würde ich umstellen, damit er nicht putzig wird, mit dem ernsthaften Zweifeln und so. Zweifel können einen auch beschleichen, ankommen oder überkommen. „Es kamen mich Zweifel an“ fand ich immer besonders hübsch, aber das ist natürlich Geschmackssache.

Ein ungeschautes Ungetüm
Yeah! Geilo! So eins will ich auch haben. :D
Mit einem Schlag wurden meine dunklen Vorahnungen war, als ich mich aus dem Schlaf gerissen und bei beiden Armen gepackt fand.
Schon wieder so ein Schlag! Und es scheint mir wieder nicht richtig zu passen. Vielleicht eher:
Endlich/Schließlich/eines Nachts wurden meine … wahr: Ich wurde aus dem … und bei den Armen …
Ohne ein Wort des Grußes stellte er mich, als wöge ich nicht mehr als eine Feder, auf die Füße.
… stellte er mich auf die Füße, als wöge ich …
Er trug ein blau und rot gestreiftes Oberhemd von, wie mir scheinen wollte, erlesener Güte. Darüber einen Mantel in blutroter Farbe, auf dem Haupt eine Mütze von ebensolcher Art, von der sich, in deutlichem Kontrast, zwei grüne Federn abhoben. Am auffälligsten aber war die schwere, goldgefügte Kette, die vor seiner Brust hing und die mit Edelsteinen besetzt war, von denen ein jeder ein Vermögen wert sein musste. Alles in allem erinnerte er mich an die idealisierte Darstellung eines Barock-Fürsten oder dergleichen.
Den Barockfürsten streichen, der verbaut die Phantasie und setzt ihr eine gepuderte Perücke auf.
Farbe ist keine Art, und die Mütze soll ja nicht als von Güte, sondern als ebenfalls blutrot beschrieben werden, nehm ich an.

Vorschlag:

Er trug ein blau und rot gestreiftes Oberhemd von erlesener Güte, darüber einen Mantel von blutroter Farbe und auf dem Haupt eine ebensolche Mütze, von der sich, in deutlichem Kontrast, zwei grüne Federn abhoben. Am auffälligsten aber war die schwere, goldgefügte Kette, die vor seiner Brust hing und mit Edelsteinen besetzt war, von denen jeder ein Vermögen wert sein musste.


Mein Erstaunen ging noch über das hinaus, was die Situation an sich wohl gerechtfertigt hätte.
Ein überflüssiger Satz.
gegen die Wirklichkeit des Augenblicks an sich
Wenn schon sowas Abstraktes wie die Wirklichkeit des Augenblicks, dann nicht auch noch die des Augenblicks an sich, das artet ja sonst in Heideggereien aus!
hin- oder von ihm fortneigt.
Nach der fünften Zelle folgte jeweils ein Flur, der in andere Bereiche des offenbar gigantischen Baus führen musste.
Laß mal die Ausmaße des Baus weg, die kommen noch deutlich genug raus. Bedrohungen sind am beängstigendsten, wenn man sie aus den Augenwinkeln sieht, ahnt, aber noch nicht erfassen kann. Vorschlag:

Nach jeder fünften Zelle zweigte ein (weiterer) Flur ab.

dass ich weder weiter vorne, noch irgendwo hinter mir ein Ende erkennen konnte und in mir wurde der eigentlich absurde Gedanke zur Gewissheit, dass dieser Kerkertrakt tatsächlich von unendlicher Länge sei.
Auch hier: Weg mit der Erklärungen. Man merkt schon, wie riesig das Ding ist.
Endlich verließen wir den furchtbaren Korridor über einen der abzweigenden Flure. Anschließend ging es eine steinerne Treppe hinauf.
Was folgte war eine Odyssee durch eine Unzahl weiterer Flure und Gänge, treppauf und treppab. Das Gebäude, in dem wir uns befanden, musste von schier unfassbaren Ausmaßen sein und war in seiner labyrinthisches Anlage absolut undurchschaubar.
Es nimmt und nimmt halt kein Ende. :D
Hier kann man kaum von einer Odyssee sprechen, denn obwohl der Held nicht weiß, wo es hingeht, gehen sie zielgerichtet und ohne sich zu verirren, denn der Wächter kennt ja den Weg. Da könnte viel gestrafft werden, etwa so:

Endlich verließen wir den furchtbaren Korridor. Es ging eine steinerne Treppe hinauf, (dann) durch eine Unzahl weiterer Flure und Gänge, treppauf und treppab.

Die Wände waren vielfach getäfelt und behangen
Vielfach hört sich nach wild übereinandergenagelten Platten und mehrschichtig beklebter Plakatwand an. Alternativen: reich getäfelt (falls Du das meinst) oder Viele Wände waren getäfelt oder Vielerorts :) waren die Wände getäfelt etc. Das vielfach einfach zu streichen wäre natürlich auch eine Lösung.
eine unüberschaubar sich erstreckende Gartenlandschaft
unüberschaubar hatten wir schon. Wie wäre es mit einer weithin sich erstreckenden Gartenlandschaft? Auch bis zum Horizont könntest Du hier 1a unterbringen, denn der ist stets unüberschaubar.
da mein Bewacher mich unbarmherzig weiterzog.
Auf die Fragen, die ich von Zeit zu Zeit stellte, antwortete er entweder gar nicht oder nur in aller Kürze.
Raus damit. Es schadet der Stimmung, wenn man zu diesem fortgeschrittenen Zeitpunkt sich plötzlich vorstellen soll, daß der Held während der ganzen letzten Minuten immer mal wieder Fragen gestellt hat, die sogar teilweise beantwortet wurden, und alles, alles hat man als Leser verpaßt! Dann soll die Lauferei lieber schweigend vonstatten gegangen sein. Finde ich.
Während ich noch über den vollen Sinn dieser rätselhaften Formel nachgrübelte
traten wir, wohl zum tausendsten Mal, durch eine Tür – hinter der sich ein Saal auftat von solch irrwitzigen Ausmaßen, dass es mir den Atem nahm. Weit streckte er sich in alle Richtungen hin und von der Decke hingen Kristallleuchter, die so groß wie ganze Häuser waren.
Hingestreckt ist der Recke nach dem Keulenschlag des Riesen (oder umgekehrt). Und erstreckt hat sich schon der Garten. Ein Raum könnte sich öffnen! Dann müßte nur das Auftun am Anfang weg, es ist eh seltsam, daß sich nicht die Tür, sondern der Saal auftut, auftun ist so klein … Und dann: Kristallleuchter! Mal abgesehen davon, daß da bestimmt noch ein l fehlt: Meinst Du Lüster? Kristallüster? Da gibt es einen fetten Unterschied, nämlich!
Ich fand den Vergleich doof, darum verlor die Szene für mich an Gewalt und wurde grotesk, aber das ist auch wieder Geschmackssache. Dieser prosaische Vergleich (groß wie ganze Häuser, wohlgemerkt, nicht nur wie halbe!) … sie hätten auch einfach gewaltig oder schwer und glitzernd sein können, dann hätte ich gedacht: Boah, Riesendinger bis zum Boden, und die Decke ist ja schon so weit weg!

Ein Vorschlag:

... gingen wir, wohl zum tausendsten Mal, durch eine Türe – und betraten einen Saal von irrwitzigen Ausmaßen. So weit öffnete er sich in alle Richtungen, dass es mir den Atem nahm /dass mein Blick sich darin verlor /dass ich die Wände nicht zu erkennen vermochte. Von der Decke hingen gewaltige Kristallüster (schwer und glitzernd :D) herab.

Eine solche Masse von Menschen erfüllte den Raum, als habe man hier meine halbe Heimatstadt zur Volkszählung versammelt.
Den Vergleich brauchts nicht, der ist zu witzig. Zur Volkszählung! Und wieder die halbe Stadt, nicht die ganze, wohlgemerkt, dabei ist der Saal doch so groß, daß er nicht einmal sicher sein kann, ob nicht womöglich gar drei Viertel der Landesbevölkerung dort versammelt sind!
Eine Masse von Menschen füllte den Raum (oder war hier versammelt) reicht völlig.
Diese Menschen aber waren nicht gekleidet wie solche aus der Stadt, der ich entstamme oder irgendeiner anderen Stadt, die heute auf der Erde zu finden ist. Stattdessen waren sie in farbig leuchtende Gewänder gehüllt, in die erlesensten Stoffe, die sich ein Mensch nur denken kann und von überall her funkelte der goldene Zierrat.
Das ist arg verzäunigt, wenn man bedenkt, daß es um die Klamotten geht. Das würde auch kürzer gehen:

Gekleidet waren sie in farbig leuchtende Gewänder aus den erlesensten Stoffen, die man sich nur denken kann, und von überallher funkelte der goldene Zierrat.

Vor mir aber öffnete sich die Menge zu einem nach hinten gestreckten Halbrund und gewährte den Blick auf ein am anderen Ende des Raumes befindliches erhabenes Podest, auf dem sich etwas wie ein Altar oder ein Thron befand – noch vermochte ich es, aufgrund der Entfernung, nicht zu erkennen.

Plötzlich das Ende des Raumes zu sehen paßt nicht zu der vorher dem Leser dringendst ans Herz gelegten irrwitzig-unüberschaubaren Größe dieses Saales. Auch ist jedes Podest erhaben, sonst wäre es … ja, was wäre es denn dann?, darum würde ich hier auch feste streichen:

Vor mir aber öffnete sich die Menge zu einem nach hinten gestreckten Halbrund (vielleicht besser: in weitem Halbkreis/ zu einem weiten Halbkreis) und gewährte den Blick auf ein Podest, auf dem sich etwas wie ein Altar oder ein Thron befand.

Daß er noch nicht erkennt, was es genau ist, wird aus dem etwas wie das-oder-das klar genug.

Die plötzlich mir entgegenstürmenden Eindrücke
Die Menschenmasse zu beiden Seiten raunte und rauschte wie ein Leibermeer, als wir vorübergingen.
Warum nicht Zu beiden Seiten rauschte und raunte das Leibermeer, als wir vorübergingen.?
Wie wir uns weiter näherten und ich immer mehr Einzelheiten erkannte, begann die Erkenntnis der irrmachenden Wahrheit in mir heraufzudämmern.
Das ist zuviel, ey. Zuviel von allem und ganz unnötig. Würd ich ersatzlos streichen.
Zunächst nahm der König meine Aufmerksamkeit in Beschlag: Er war ein gewaltiger Herr.
Warum nicht: Der König war ein gewaltiger Herr? Es ist unwahrscheinlich, daß der Held zuerst nur den König und dann die Königin ansieht. Er kann sie halt nicht gleichzeitig beschreiben, das versteht jeder.
ein Bart von ebensolcher Art umfasste die untere Gesichtshälfte.
Ein Bart umrahmt eher als daß er umfaßt.
einer goldenen Harfe, die in Form eines Jünglingskopfes endete.
Das ist ungeschickt formuliert. Wo ist denn das Ende einer Harfe, so rund, wie die überall ist? Vorschläge:
… Harfe, deren Säule ein Jünglingskopf krönte/zierte.
… Harfe, deren Säule in Form eines Jünglingskopfes auslief.
…Harfe, deren Säule einen Jünglingskopf / den Kopf eines Jünglings trug.

Schwarze Asche glitt durch die Luft und rieselte auf die schockierte Gesellschaft hernieder.
Asche rieselt nicht. Dazu ist sie nicht körnig genug, und viel zu leicht ist sie auch. Ruß kann rieseln. Asche ist flockig, sie schwebt umher, wird umhergeweht, wirbelt umher, sinkt nieder, legt sich auf Sachen und Leute. Nieder finde ich auch besser als hernieder, an der Stelle.
Drängelnd und stoßend
mich nach links umzuwenden und einfach draufloszurennen.
mal links, mal rechts herum.
So wählte ich, wenn ich mich nun einmal wieder vor die entmutigende Wahl gestellt war,
entweder wenn ich mich vor die Wahl gestellt sah oder wenn ich vor die Wahl gestellt war oder wenn ich vor er Wahl stand.
Je weiter ich mich vorwärts schleppte, desto stärker wurde der Eindruck der Verlassenheit des Ortes.
weg
Wände, von denen die Farbe abblätterte, wurden abgelöst von solchen, die wohl nie verputzt worden waren.
wurden abgelöst von gänzlich unverputzten o.ä. wäre eleganter, da Du kurz darauf nochmal worden waren nimmst:
Endlich gelangte ich in Gänge – vielmehr Tunnel – die augenscheinlich durch das graue Gestein getrieben worden waren.
Das Unterstrichene kann weg.
Der Weg ging leicht schräg hinab.
Klar schräg. Gerade hinab geht ja nicht. Streichen. Und der Weg führt, der Geher geht.
Als der Lärm schließlich Ohren betäubend wurde
Das geht nicht, das gibt es nicht, das ist verboten! Der Lärm wurde ohrenbetäubend.
Als würden sich jenseits der Gesteinsmassen vor, über und neben mir ungezählte Menschen unter namenloser Folter winden.
Wenn es schon keinen schönen Konjunktiv für winden gibt, dann streich wenigstens das vor, über und neben mir, das ist wie beim Versteckspielen, einszweidreivier Eckstein!
In meiner wilden Flucht stürzte ich halb einige Treppen hinab
Da ist wieder so ein Halbding. Entweder stürzte er, oder er rannte und/oder stürzte, oder er stolperte. Halb stürzen geht nicht, es sei denn, man kommt nicht auf dem Boden an.
wusste ich, dass ich mich am Bahnhofsplatz das Komma würd ich mir nochmal überlegen unweit meiner Wohnung befand.

Ein tolles, selbstinterpretierendes Schauermärchen, ein Hirnflug, ein Nachtmahr. Kompliment!

Liebe Grüße!
Makita.

 

Hallo Makita,

Da hast du dir ja eine Menge Arbeit mit meiner Geschichte gemacht! Danke dafür. Den Eindruck, dass die Geschichte an manchen Stellen abspecken könnte, teile ich. Nur war mir selbst nicht ganz klar wo - da hast du mir echt geholfen. Vieles werde ich bei der - hoffentlich recht bald erfolgenden - Überarbeitung übernehmen.
Danke noch mal! Und schön, dass du gefallen dran gefunden hast.


Gruß,
Abdul

 

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