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Ohne Feigenblatt
Jan Seiboldt wurde nach Rückkehr aus seinen Ferien in der Sitzung herzlich begrüsst. Seine Sozial-Liberalen Parteikollegen schätzten ihn als Vorsitzenden und die joviale Art mit der er Probleme jeweils anging.
Peter Markward, der in seiner Abwesenheit die Geschäfte führte, ergriff das Wort. «Jan, Du hast wahrscheinlich noch nicht davon gehört, dass Schafroth polizeilich einvernommen und von seinem Bischof inzwischen zu einer Klausur einberufen wurde. Leider hat die peinliche Welle nun auch unsere Stadt erreicht. Schafroth kam mir ja immer etwas bigott vor. Ich denke, Dich wird es freuen.»
Jan schaute Peter fragend an. «Was meinst Du damit, es freue mich?» Er ahnte, auf was dieser anspielte, kannte er doch seine manchmal verletzende Ironie.
«Nun, Du bist doch Atheist. Und wenn einem scheinheiligen Kleriker die Maske dem wahren Gesicht entrissen wird, ist doch Situationskomik gewährleistet.»
Auf Jans Stirn hatte sich eine steile Falte gebildet. «Von den Vorwürfen gegenüber Schafroth habe ich Kenntnis erhalten. Die Angelegenheit liegt über zwanzig Jahre zurück und betrifft seine Zeit im Internat. Nach mir vorliegenden Informationen war er daselbst noch Schüler, der zu einem der Lehrer in sehr vertraulichem Verhältnis stand. Dieser soll sich im Umgang mit seinen Schülern nicht immer korrekt verhalten haben. Wieweit etwas daran ist und ob es sich nicht nur um einen späten Racheakt gegen seine gezeigte Strenge handelt, müssen die Untersuchungsbehörden klären. Gegenüber Schafroth liegen meines Wissens keine gesicherten Erkenntnisse vor, dass er sich damals an den behaupteten Vorkommnissen aktiv beteiligte.»
Erika Steiner, die selbst den Lehrerberuf ausübt, warf ein: «Es ist aber schon bedenklich, was in den letzten zwei Jahren publik wurde. Es ist höchste Zeit, dass dies ein für alle Mal unterbunden wird. Es darf nicht sein, dass sich Verantwortliche hinter Kirchenportalen verstecken und auf Verjährung warten.»
Die Sitzungsteilnehmer sprachen alle durcheinander, Erika weitgehend zustimmend, bis Jan sich durchsetzen konnte.
«Ich bin ebenso schockiert wie Ihr über das, was an die Öffentlichkeit kam. Doch bin ich der Meinung, man müsse einen klaren Kopf bewahren und diese Vorkommen differenziert betrachten. Wir wurden mit Medienberichten überflutet, von Kurzmeldungen bis zu aufbauschenden Detailschilderungen in Boulevardmedien, deren Quellen vielleicht auch nicht immer astrein waren. Aber selbst wenn wir Abstriche vornehmen, scheint die Gewalt, welche ausgeübt wurde, zweifellos enorm. Dies ist eine Tatsache, vor der wir nicht wegsehen dürfen. In den konkreten Fällen ist jedoch die Justiz gefordert und eine Vorverurteilung im Einzelfall steht uns nicht zu.»
«Aber es wurden ja selbst in Rom Eingeständnisse gemacht wenn auch höchst halbherzig,» warf André Hartmann ein.
Sonja Ebert, die auch in der Kirchenpflege tätig ist, stimmte ihm zu, ergänzte aber zugleich: «Es hatten sich auch verschiedene namhafte Exponenten der Kirche zu Wort gemeldet, welche klar und unmissverständlich für die Opfer Stellung bezogen und ein hartes Vorgehen verlangten.»
«Wir wissen ja, wie die Institution Kirche mit aufmüpfigen Querulanten in ihren Reihen umgeht und zum Schweigen bringt,» gab Lukas Bisig kritisch zu bedenken.
«Bei uns, wie auch in andern Ländern, hat die Kirche sich zur Zusammenarbeit mit den Behörden entschieden,» brachte sich Arthur Haarmann beschwichtigend ein.
Jan hatte wieder das Wort übernommen. «Mir ist das zu einseitig und zu engstirnig, wie das Thema hier diskutiert wird. Fakt ist, dass die Kirche in den Fokus kam, da Vertreter aus ihren Reihen sich teils massive Übergriffe zuschulden kommen liessen. Dies fällt insbesondere dadurch auf, da sie mit ihrem Dogma in Anspruch nehmen hohe ethische Werte vorzuleben. Weiterer Fakt ist aber, dass eine vermutlich viel höhere Anzahl an Personen, welche keine Funktionen in den Kirchen ausübten, gleichartige Übergriffe begingen, wie Euch durch immer wiederkehrende Meldungen aus den Medien bekannt sein dürfte. Insofern denke ich, dass es die intime Nähe zum andern Menschen ist, die manchen Personen ein enormes Spannungsfeld erzeugt, das sie die Kontrolle über sich verlieren lässt. Zu deren Labilität kommt wahrscheinlich begünstigend hinzu, dass in vergangenen Zeiten sich die Gesellschaftsnormen zur Sexualität als auch zur Gewalt teils desorientierend veränderten.»
«Es entschuldigt derartige Übergriffe aber nicht,» entgegnete Hans Metzler unwirsch.
«Nein,» fuhr Jan fort, «entschuldigen kann es so etwas nie, denn es ist brutale Gewalt gegen die körperliche und seelische Integrität eines andern Menschen.»
Jan legte bedachtsam eine Pause ein. «Als politische Partei haben wir den Auftrag der Gesellschaft, Missstände zu benennen, aber vor allem Lösungen anzustreben. Eine Patentlösung zu diesem Thema sehe ich keine, und wir stehen alle in der Mitverantwortung, da wir die heutige Gesellschaftsnorm mitprägten.»
Diese Worte führten zu einem Sturm der Entrüstung, die ein Stimmengewirr erzeugten. Als sich die Lage wieder etwas beruhigte, ergriff Erika das Wort. «Ich bin schon auch der Meinung, dass die gesellschaftliche Entwicklung so manches begünstigte, das aus dem Ruder gelaufen ist. Die Schwierigkeit ist, dass vermehrt Extreme aufgekommen sind, die nur schwer kontrollierbar sind. Ich sehe es bei den Jugendlichen, nicht wenige verstehen Drogen, Sex und Gewalt als Teil einer Spassgesellschaft. Es ist nicht einfach ihnen nachhaltige Werte zu vermitteln, die sie akzeptieren, denn so manches nicht Gelingendes entlehnen sie ja bei den Erwachsenen.»
«Also meine Kinder sind auch in diesem Alter, doch Gott sei Dank, sind sie wohlerzogen und dennoch eigenständig,» brachte Arthur ein. Lukas und Hans stimmten ihm auf ihre Kinder verweisend zu.
«Es ist mir unverständlich, wie man ein Kind zum Objekt seiner Begierde machen kann, selbst wenn es allenfalls nur begrapscht wird,» fügte Lukas an, das „nur“ ausdrücklich betonend.
Ein Moment herrschte Stille, bis Jan sich wieder zu Wort meldete. «Wir können und müssen nicht die Rolle der Psychiater übernehmen, denen sich die pathologischen Tiefen solcher Menschen erschliessen. Doch überlegen wir mal, wie wir selbst auf manche Reize reagieren. Wir näherten uns selbst auch schon Grenzen, die wir wohlweislich nicht überschritten. Es gibt im Leben eines jeden Menschen Situationen, in denen ihm Versuchungen auftraten, und sei es nur in der gemässigten Form eines Gedankens, eines Blicks oder einer Berührung. Welcher Mann schaut weg, wenn ein junges Mädchen in gewagter Kleidung seinen Weg kreuzt. Welche Frau übersieht den knackigen Po eines Jungen, der in engen Jeans vor ihr hergeht. Oder erinnern wir uns, als wir selbst noch Kinder waren. Unsere Eltern liessen uns in den ersten Jahren pudelnackt herumtollen, wenn wir am Badestrand waren, obwohl andere Erwachsene zugegen waren. Mancher von uns gestand diese Unbefangenheit auch seinen Kindern zu. Es ist undenkbar, dass da nicht eindeutige Blicke auftraten, über die man nicht sprach, die aber jedermann bewusst waren. Seit es Menschen gab, waren solche Versuchungen wahrscheinlich immer gegenwärtig, die Literatur liefert hierfür viele Belege. Ich will damit nicht Unrecht beschönigen, aber wir müssen uns an der Realität orientieren, wenn wir nach praktikablen Lösungsansätzen suchen.»
«Die literarischen Auswüchse entsprangen aber den wirren Vorstellungen von Schriftstellern,» warf Erika ein. «Auch wenn wir selbst nicht perfekt sind, besteht doch ein gewaltiger Unterschied zur Haltlosigkeit, um die es hier geht. Alle von uns haben ordentliche Wertvorstellungen, sind teilweise in der Kirche aktiv, und bemühen uns unseren Kindern ein Vorbild zu sein. Dies ist doch die Realität.»
«Du gibst das Stichwort, Erika,» bemerkte Jan. «Als Partei müssen wir uns vor allem fragen, welche Werte sind für uns wegweisend. Der Ansatz, der mir vorschwebt, ist hierbei vor allem jener, der gegen Formen von Gewalt angeht. Wenn ein Erwachsener sich ein Kind gefügig macht, ist dies brutale Gewalt. Wenn zwei Jugendliche sich freiwillig aus sexueller Neugierde aufeinander einlassen, von denen die eine Person die Schutzaltersgrenze noch nicht überschritten hat, besteht ein strafbares Vergehen. Dabei ist dies allenfalls unbedacht, nicht aber Gewalt. Wir klären unsere Kinder zwar über Sex, Verhütung und Aids auf, aber gleichzeitig verstecken wir uns hinter einem Feigenblatt vorgeblich moralischer Entrüstung, wenn sie ihre eigenen Erfahrungen machen wollen. Das Spektrum zu diesem Thema ist äusserst fragil und sehr breit, aber durch und durch mit unserer Gesellschaftsmoral verstrickt.
«Wenn nicht klare und strenge Massstäbe gesetzt werden, animiert dies die Täter ja direkt,» erregte sich André. «Ich denke man sollte mal systematisch durchgehen, wo der rechtliche Spielraum zu locker ist.»
«Es macht keinen Sinn, wenn wir uns auf Ansätze festlegen, die sich mit Details befassen. Es bestehen ausreichend Gesetze. Und wenn Anpassungen notwendig sind, müssen sie kongruent zur Gesellschaftsnorm erfolgen. Was mir hier vorschwebt, ist, wie können wir eine umwälzende gesellschaftliche Neuorientierung initiieren, ohne dass wir die Vorzüge der in den letzten Jahrzehnten errungenen Freiheiten aufgeben. Es müssen also praktikable Überlegungen sein, die unserem sozialliberalen Denken entspringen und weit über unsere Parteigrenze hinaus Möglichkeiten der Orientierung zu weisen vermögen. Für Recht und Ordnung machen sich die Populisten stark, doch einzig zu eigener Machtgewinnung, ohne dass sie wirklich Lösungen vorweisen. Dies ist unsere Chance, Werte zu setzen, die ein gedeihliches Zusammenleben sichern und zugleich die liberale Idee stärken.»
Peter meldete sich zynisch zu Wort. «Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass wir die Gesellschaft mit Worten zu verändern vermögen? In der Öffentlichkeit würden wir als Utopisten belächelt.»
«Ich widerspreche Dir nicht, aber jemand muss einen Anfang wagen,» antwortete Jan. «Also denkt darüber nach, ob Euch prägnante Leitsätze einfallen. Es müssen richtungsweisende Sätze sein, ohne Feigenblatt, aber fair, konstruktiv und zukunftsorientiert. Vorerst genügt es, diese mit einem skizzenhaften Argumentarium zu untermauern. Im Nachhinein werden wir die Inhalte dann sorgfältig füllen. Nächste Woche erwarte ich erste Vorschläge, die wir dann besprechen.»
Die Sitzungsteilnehmer äusserten sich gemischt, doch mehrheitlich zustimmend, auch wenn der Konsens brüchig schien.
Jan ergriff nochmals das Wort. «Noch etwas Persönliches, das ich klarstellen möchte. Peter, Du erwähntest zu Beginn unserer Diskussion, ich sei Atheist. Es ist richtig, dass ich fern einer religiösen Orientierung bin. Ich meide aber für mich diesen einem altgriechische Adjektiv entlehnten Begriff, da er mir der theologischen Terminologie zu nahe steht, die es mit der Leugnung Gottes interpretiert. Ich kann nicht etwas leugnen, dass es meines Erachtens nicht gibt. Also ist mir der Begriff auf meine Person bezogen nichtig.»
Ein Lächeln trat vorübergehend in sein Gesicht. «Ein Vorteil, den ich in letzter Zeit aus meiner Ungläubigkeit ziehen konnte, ist, dass ich bei den jüngsten Diskussionen um die Institution Kirche unbelastet meine Meinung bilden konnte, nicht aber beim zugrunde liegenden Thema an sich.»