(ohne Titel)
Es war eine beschissene Herbstnacht. Die Scheibenwischer meines Kombis bekämpften mit Müh und Not den prasselnden Regen auf meiner Windschutzscheibe, während der Donner bedrohlich die Bassboxen meines Radios ohne Probleme übertönen konnte. Die Blitze, die unmittelbar vorher aufleuchteten, ließen die Nacht für Bruchteile einer Sekunde taghell erscheinen. Es war einfach eine beschissene Nacht. Hinzu kommt, dass meine Laune eh nicht zum Besten war. Jennifer hatte mich verlassen...während unseres ein-jährigen Jubiläums...im Restaurant. Trotz allem blieb ich die Ruhe selbst. Durch diese Suppe zu fahren war die allerletzte Qual. Zudem hatte ich mich auch noch verirrt. Weit und breit kein Zeichen von Zivilisation. Meine Augen kämpften allmählich gegen die aufkommende Müdigkeit und damit ich nicht noch bei einem selbstverschuldeten Unfall ums Leben kam, hielt ich am Waldrand. Da saß ich nun im Wagen, bei strömenden Regen, im Dunkeln. Im Radio lief gerade "Blue Velvet" und ich erwischte mich, wie meine Lippen den Text formten bis ich dann meine Gefühle nicht mehr im Zaum halten konnte und lauthals mitsang. In meine Gesangseinlage vertieft vergaß ich für einen kurzen Moment in meinem Leben jeglichen Kummer. Dann passierte alles in verdammt kürzester Zeit. Ein lauter Knall, plötzliche Helle und eine Gestalt direkt vor meinem Auto...danach Dunkelheit und Stille. Ich erschrak aus meiner Trance und war sofort wieder bei vollkommenen Bewusstsein. Wer oder was war das? Ich besiegte meine Furcht und schaltete die Scheinwerfer ein. Doch da war nichts. Habe ich mir das nur eingebildet? Meine Hand drehte am Lautstärkeregler des Radios, ehe mir bewusst wurde, dass es keinen Empfang gab. Der Blitz musste direkt neben mir eingeschlagen sein und somit den Empfang stören. Plötzlich, wie aus dem Nichts, hörte ich einen grellen Schrei. Ein menschlicher doch grausamer Schrei zugleich. Also war da doch jemand. In Gedanken daran, dass jemandem etwas passiert sein könnte, packte ich meine Taschenlampe aus dem Handschuhfach, zog meinen Mantel an und stieg hinaus in den Sinflutartigen Regen. Ich leuchtete sofort um mich herum. Nichts zu sehen. Ein Gefühl sagte mir, dass der Schrei seinen Ursprung aus dem Wald hatte. Mit einer Eisenstange aus dem Kofferraum bewaffnet begab ich mich vorsichtig in den Wald. Es war nicht so, als wäre ich der furchtlose Ritter. Oh nein. Ich hatte große Angst, doch meine Neugier half mir, die Angst unter Kontrolle zu halten. Und als ob Fortuna meine Entscheidung gutheißen würde hörte der Regen auf und musste einem dichten Nebel weichen. Wenigstens wurde ich nicht mehr nass. Nachdem ich einige Schritte in den finsteren Wald zurückgelegt habe hörte ich erneut einen Schrei, diesmal lauter und noch grauenvoller. Ich legte einen Zahn zu und kämpfte mich durch das Dickicht von Ästen und Sträuchern. Der Nebel erschwerte jedoch mein Weiterkommen. Ich weiß nicht, wie lange ich schon unterwegs war. In meinem Drang hinter das Geheimnis des Schreis und der Gestalt zu kommen, vergaß ich alles, was mich hätte zurückhalten können. Ich hatte mich verirrt. Ich wusste weder, wo die Straße noch mein Auto waren. Da hörte ich erneut den Schrei. Nein....es war kein Schrei mehr. Es war ein sanfter Gesang, so klar und rein, wie man sich eine Engelsstimme hätte nicht besser vorstellen können. Und es kam näher. In diesem Moment gab meine Taschenlampe den Geist auf. Aber seltsamerweise war es nicht finster. Aus einer Richtung näherte sich ein bleiches Licht. Ein leichter Schauer lief mir den Rücken hinunter. Und dann sahen meine Augen etwas, was ich in meinem ganzen Leben wahrscheinlich nicht vergessen werde. Im blassen Licht, welches nun direkt vor mir war, konnte ich allmählich eine weibliche Silouhette erkennen. Ihre Konturen wurden Sekunde um Sekunde schärfer bis eine leicht bekleidete Frau vor mir stand. Ihre mandelförmigen Augen leuchteten graugrün, ihre Haut schimmerte blaßblau und ihre silbernfarbenen Haare wehten sanft um ihre Wangen. Sie sang nun nicht mehr, doch beobachtete ich eine leichte Trauer in ihrem Blick. Ich war verwirrt. Ich ließ die Eisenstange fallen, als wäre sie plötzlich unerträglich heiß geworden. Was passierte gerade? Träumte ich? War ich tot? Aber wie...? Ich hatte keine weitere Gelegenheit, die Absurdität der Situation zu begreifen, denn sie nahm still meine Hand und ich konnte mich nicht mehr wehren, da sie mich in ihren Bann zog, wie einst vielleicht Circe den großen Odysseus. Ich wollte mich auch nicht wehren, denn die zauberhafte elfenartige Frau hatte eine fesselnde Ausstrahlung. Dann wurde ich Zeuge eines wunderschönen Schauspiels. Ihre Lippen formten noch ein sanftes Lächeln, dann begann sich der Nebel um uns zu drehen. Er wurde schneller und schneller und während er sich drehte, erkannte ich, wie der Wald sich zu verändern begann. Die Finsternis, die alles umgab, wich der strahlenden Sonne und der Wald erwachte zu neuem Leben, wie ich ihn noch nicht zuvor gesehen habe. Die warmen Strahlen der Sonne ließen die Blätter der Bäume rötlich leuchten und die Wiesen saftig grün erscheinen. Die Farben verschwammen wie auf einem Ölgemälde zu neuen Tönen. Die Blätter wurden Gelb, der Boden braun und der Himmel rosafarben, dann sprießten die saftigsten Früchte auf den großen knorrigen Ästen und Waldtiere näherten sich aus dem Dickicht. Es war einfach nur sagenhaft. Der Nebel verschwand und meine Begleiterin und ich standen in diesem paradiesartigen Garten. Ich musste tot sein, doch ein kneifender Schmerz in meinem Arm überzeugte mich vom Gegenteil. Keck grinste die Frau mich an und winkte mir zu, dass ich ihr doch folgen sollte. Nach einigen hundert Metern nahm ich ein grollendes Geräusch wahr und hinter einem kleinen Hügel sah ich einen größeren Wasserfall, der in einem kristallklarem See mündete. Tränen des Glücks drängten sich in meine Augen bei so viel Schönheit. Ich wollte nicht mehr zurück. Ich wollte auf immer und ewig im Garten Eden verbleiben. Meine Begleiterin stand an einem Felsen am See und blickte mir noch sanft in die Augen...ein Blick für die Ewigkeit. Dann schloss sie ihre Augen und stimmte ein Lied an. Es war das schönste Lied, was ich in meinem Leben jemals gehört und hören werde. Und nicht nur ich wurde in den Bann gezogen. Rehe, Dachse und sonstiges Waldgetier versammelte sich im Halbkreis um die bezaubernde Waldelfe herum, um ihren magischen Gesang zu horchen. Nachdem die letzte Note des Liedes verstummte, öffnete sie noch einmal die Augen und ließ sich ohne Vorwarnung rücklings in den See fallen. Ich schrak auf und versuchte sie noch zu fassen aber ich griff ins Leere. Ihr Körper jedoch fiel nicht wie erwartet ins Wasser, sondern vereinigte sich mit der kristallklaren Flüssigkeit und wurde Teil des Ganzen. Ich kann mir das nicht erklären. Habe ich mir das nur eingebildet? Als wenn der Bann plötzlich gebrochen war, zogen sich die Waldtiere auch schon zurück bis ich als einziger zurückblieb. Ich war allein.
Wie aus dem Nichts tauchte dann wieder Nebel auf und die Sonne verschwand und ließ der Nacht wieder Platz. Die Kälte zog erneut herein und der paradiesische Garten war nicht mehr. Die Dunkelheit hatte mich wieder. In der Ferne erkannte ich eine Lichtung. Da ich selbst orientierungslos war, begab ich mich in jene Richtung. Kaum hatte ich ein paar Schritte gemacht stolperte ich über einen Ast. Erst im genauen Hinsehen sah ich, dass es kein Ast war und das was ich sah, ließ in mir die Seele erstarren. Es war der Arm eines Menschen. Mein Herz schlug schneller und ich folgte dem Arm und fand die den Köper einer Frau. Es war die Frau, deren Stimme ich vor einigen Minuten noch zugehört hatte. Doch nun verriet ihr leerer Blick, dass kein Ton mehr aus ihrer Kehle entspringen würde. Diese Frau war ertrunken. Doch eines war merkwürdig. In den Augen konnte man zwar noch den Todeskampf erkennen doch ihre Lippen waren derart geformt, als würde sie...nun...lächeln. Nun verlor ich endgültig die Fassung. Ich habe diese Frau noch nie gesehen, kenne weder ihren Namen noch weiß ich wie sie hierherkommt. Doch ich wusste, dass ich sie schon immer kannte. Nur hat das Schicksal nicht zugelassen, dass wir uns fanden. Ich kniete mich neben sie, nahm ihre Hand und in jenem Augenblick fing es an zu regnen. Und irgendwo zwischen den süßen Regentropfen fand sich eine salzige Träne, die zu Boden fiel und Teil des Ganzen wurde. Es war eine beschissene Herbstnacht.