Olga
Es war einer dieser Tage, an denen ein großer schwarzer Vogel auf der Stadt brütete. Um sechs Uhr morgens begann ein brennender Ball seinen Lauf über die Fensterfront, bis um zehn rührte sich vor drückender Schwüle nichts mehr, und selbst die Fliegen auf dem Fensterbrett verstummten. Die Hitze saugte das Wasser aus den Klebestreifen, mit denen wir unsere Bilder an den Betonwänden befestigten, und ließ sie zu Boden fallen wie reife Früchte.
"Klak."- Als hätte jemand starke Einsprüche gegen meinen Einrichtungssinn. -"Olga?"- Ich suche die drei ovalen Spiegel des weißen Toilettentischchens aus Vorkriegszeiten nach einer eleganten Dame in dunklem Kleid ab: Olga Okulska starb vor drei Jahren in genau diesem Zimmer und hinterließ eine Wand voller Bilder ihrer verschwundenen Welt. Ein wenig verblasst und mit verschwommenen Gesichtszügen: ihr Mann, der das KZ überlebt und doch vor ihr die Welt verlassen hatte. Sie: erstaunt- besorgten Blickes und noch im Alter mit dickem schwarzen Haar - eine adlige Russin von der Krim, so muss es gewesen sein. Aus irgendeinem Grunde hatte sie aus ihrer Heimat am schwarzen Meer flüchten und im kriegszerstörten Breslau, das gerade Wrocław wurde, ein neues Leben anfangen müssen. Ihr Mann, aus den Lagern entkommen, war hier gelandet wie sie: zwei, die sich in der Not halfen.
Ein ganzes bewegtes Leben viel uns beim Einzug in die Hände: "Oдессa", in verblassten Goldlettern unter blauer Küste in einer Glasblase schwimmend, förderten wir aus den Tiefen einer Kommode ans Licht. Bücher in vier verschiedenen Sprachen schickten wir in einer hölzernen Seemannskiste nach Deutschland, wo sie seitdem auf einem staubigen Dachboden die Zeit überdauern. Landschaftsbilder in Öl wurden, je nach Einschätzung ihres Marktwerts, an entfernte Verwandte gegeben, die sich kaum an Olga erinnern, denn Kinder hatte sie nicht. Wo einst ihr Kristallglas glänzte, türmen sich heute wild über- und nebeneinander vergilbte Hefte, beschriebenes und bedrucktes Papier, Taschen- und Wörterbücher: der ganze bescheidene Reichtum zweier Doktoranden, die überall und nirgends aus Hartschalenkoffern und Reiserucksäcken leben.
"Olga!"- Während du des Nachts die Fenster zum zertrümmerten jüdischen Friedhof geschlossen hieltest -"Die Juden kommen", hattest du in deinen letzten Fieberträumen gewispert- spaziert nun eine Deutsche wie selbstverständlich und mit vier Schlüsseln ausgestattet durch die Doppeltüren, die ein schlechter Planer von innen mit Spion ausgestattet hat. Seitdem wir die Toten in schwarz-weiß von der Wand genommen und unsere eigenen Bilder angebracht haben, geisterst du durch die Wohnung und lässt Gegenstände verschwinden und Bilder von den Wänden fallen: Fahrradpumpen, Regenschirme, Gürtel und unzählige Socken haben wir auf diese Weise verloren. Sie verschwanden wie vom Erdboden verschluckt in deinen Rockfalten. Ab und zu kommen Briefe mit deinem Namen an, oder ein Call Center fragt am Telefon nach dir.
Vorsorglich rücke ich das Bett von der Wand, an der über dem Kopfende noch drei großformatige irische Boote hängen. Verzeih, dass ich dein zierliches weißlackiertes Tischchen als Schreibunterlage benutze und anstelle des sechsarmigen Deckenleuchters Fliegen um eine nackte Glühbirne kreisen. Aber schließlich verdankst du mir Unsterblichkeit, indem ich deine Geschichte konserviere wie "Oдесса" in der Glasblase. Wer wird in hundert Jahren unsere Lebensgeschichte wie ein Wunder aus einer anderen Zeit betrachten, unsere digitalen Fotos vor der Auflösung bewahren und unsere Schätze in einem Hartschalenkoffer einlagern? Wird es überhaupt noch staubige deutsche Dachböden geben dafür?
Inzwischen war die Sonne über ihren Mittagsberg gewandert. Ich schaltete den Ventilator ein, verscheuchte den dicken schwarzen Vogel, der es sich auf meinem Dach bequem gemacht hatte, und setzte mich zur Arbeit an einen weißen Spiegeltisch.