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One-way Ticket
Das heißt, wir werden uns nicht sehen? tippte Claire in ihr Handy. Sekunden später der vertraute Piepton, der den Eingang einer Kurzmitteilung verkündete. Nein, ich dachte, Du wolltest es so.
„Aha“, dachte Claire, „er dachte ich wollte es so. Wie kommt er auf den Gedanken, ich wolle ihn nicht sehen? Ausgerechnet an Sylvester?“ Wie Marek zu dem Schluss gekommen war, sie fände es besonders amüsant, das neue Jahr ganz alleine in der noch unvertrauten Stadt zu beginnen, konnte Claire sich nicht erklären. Ganz offensichtlich glaubte er das. Oder verarschte sie von vorne bis hinten. Oder war ein feiger, feiger Kerl.
Claire legte das Handy zur Seite. Die Gedanken schwanger mit Wut und verlangsamt durch Einsamkeit, konnte sie nur zwei Ideen klar aus dem schleichenden Jagen im Inneren heraussieben. „Verdammtes, feiges Arschloch!“, dachte Claire, und „Ich mach mich doch nicht lächerlich und sage ihm, was für ein verdammtes, feiges Arschloch er ist!“.
Wenn es in Kopf und Bauch wieder einmal nur noch schwirrte, half Claire sich, indem sie sich auf Basaleres besann. „Einatmen eins, ausatmen eins, einatmen zwei, ausatmen zwei“, sprach sie innerlich zu sich. „Verdammtes Arschloch, einatmen drei, verdammt, verdammt, ausatmen drei, warum tut er das? Warum? Verdammt, wo war ich? Einatmen drei? Egal, einatmen drei, ausatmen drei, verpiss’ Dich aus meinem Kopf! Ich zähle jetzt meinen Atem, alle anderen Gedanken ziehen vorüber wie Wolken am Himmel. Einatmen vier, ausatmen vier.“ Mareks Bild erwies sich als eine sehr hartnäckige, sehr tief hängende Wolke.
Claire hatte ein breites Repertoire an Selbsthilfestrategien gegen schwirrende Gedanken und Gefühle. Sie ging in die kleine grün gestrichene Küche, um einen Kuchen zu backen. Die Küche wurde zum Atelier, die Rührschüssel zur Leinwand. Was dem einen der Speckstein und das Schnitzmesser, das waren Claire Mehl, Zucker, Butter, Eier, Nüsse, Schokolade, und viele andere Zutaten, die sich zu einer süßlichen festen Teigmasse verarbeiten lassen. Immer wieder neu, immer wieder anders, zu Beginn selten wissend, was dabei entstehen würde. Claire mischte, rührte, zerhackte, mahlte, quirlte, knetete. Rührte, zerhackte, mahlte, quirlte und knetete dabei zugleich das Kopf-Karussell in den Leerlauf. Dabei entstand ein Eierlikör-Haselnuss-Mandelkuchen. Claires Marek-kommt-an-Sylvester-nicht-nach-Köln-scheiss-drauf-Eierlikör-Haselnuss-Mandelkuchen. Krönend abgeschlossen mit einer dicken Schicht feinstem Puderzucker, der sich mit dem noch warmen Kuchen zu einer köstlichen Hülle verband. Zu einer scheiss-drauf-dass-Marek-denkt-dass-ich-Sachen-denke-die-ich-nie-gedacht-habe-Hülle.
Während der Kuchen auf dem Rost über der Spüle abkühlte, tat seine kathartische Wirkung es ihm gleich. Butterzuckrige Hülle um festen Teig wurde wie von Zauberhand zur Erinnerung an gemeinsame Nächte mit Marek. Butterzuckrige Umarmung um ihren viel zu oft schlaflos ruhelosen Körper.
Claire seufzte und kehrte zu ihrem Mobiltelefon ins Wohnzimmer zurück. 1 neue Kurzmitteilung verhieß das Display. Absender: Marek mob. Bist Du mir böse? Habe ich was falsch gemacht? schrieb er. In abrupt wieder aufflammender Eierlikör-Haselnuss-Mandel-scheiss-drauf-Stimmung antwortete Claire. Aber nein Marek, ich wünsche Dir eine wunderschöne Sylvesterfeier in Hamburg, komm gut ins neue Jahr, C. Eine Antwort blieb aus.
In ein paar Stunden würden in der ganzen Stadt die Sylvesterparties losgehen, die großen und die kleinen, die intimen und die öffentlichen. Claire startete den Laptop, der unendliche Augenblicke zu brauchen schien, um nicht nur hochgefahren, sondern auch vollständig reaktionsbereit zu sein. Claire wurde in den sich einsam dehnenden Minuten immer klarer, dass es für sie keine versöhnlich trauten Stunden mit Marek zum Zurücklassen der schwierigen ersten Atemzüge ihrer Liebe geben würde. Ihrer Liebe. War es Liebe? War es Liebe, wenn Marek dachte, Claire denke Dinge, die Claire nie gedacht hatte? Wenn Claire viel zu oft nicht einmal ahnen konnte, was Marek dachte? Sich nur innerlich schwingend in den Rührteig flüchten konnte?
Der Internetbrowser öffnete sich, Claire rief eine Veranstaltungsseite auf. Sie überflog kurz die Liste, und entschied sich zur eigenen Verblüffung schnell für eine Party im Artheater. Angekündigte elektronische Musik feinster DJs reichte für die Entscheidungsfindung aus. "Alleine ins neue Jahr tanzen, perfekt", dachte Claire. Perfekt nach einem Jahr voll Chaos, Liebe, Schmerz, Loslassen, Öffnen, Fehlerentlarvungen und Selbstfindung.
Claire duschte, zog Jeans, T-Shirt und Turnschuhe an, ganz schlicht, Hauptsache bequem. Noch war es erst 21:00 Uhr. Sie wollte um 22:00 Uhr los, zu Fuß nach Ehrenfeld brauchte sie etwa eine Stunde. Der Spaziergang alleine durch den Sylvesterabend gehörte mit zum Programm, das sie sich in gefühlt unzähligen Stunden des Alleinseins für den Abend aufgestellt hatte. Sie schaltete den Fernseher an. Jahresrückblick mit Stefan Raab und lauter anderen lustigen Menschen. Großartig. Claire öffnete eine Flasche Sekt aus dem Kühlschrank, goss ein Saftglas randvoll damit. "Prost Stefan." Nach einem weiteren Sektglas derselben Größe machte sie sich auf den Weg. Unterwegs ließ Claire ihr Jahr Revue passieren, Jahresrückblick mit Claire, live aus Köln.
Vor zehn Monaten hatte sie den Job in Köln bekommen. Im Grunde hatte sie sich nicht für diesen Weg entschieden, sondern eher gegen einen anderen. Gegen das Warten auf die Erfüllung eines Traums vom großen Glück, der schon zu viel Schmerz bereitet hatte. Sie war damals von einem Mann weggegangen. Einem Mann, mit dem sie ihr restliches Leben verbringen wollte.
Es hatte viele Monate gedauert, bis es Claire überhaupt einmal möglich war, an etwas anderes zu denken als an ihn. Als sie Marek traf, war sie vor allem eines – dankbar. Dankbar, dass es entgegen ihrer Erwartungen passiert war.
Sie hatte ihn über eine Freundin kennengelernt. An Karneval waren sie zusammen unterwegs gewesen. Sie hatte sich von Anfang an recht gut mit Marek unterhalten können. Und plötzlich, in irgendeiner Kneipe irgendwo im Belgischen Viertel, hatte sie sich selbst dabei ertappt, dass sie für einige Sekunden die Leute um sie herum, die Musik, alles vergessen hatte. Einfach nur Mareks Gesicht betrachtet hatte, der in seinem Dr. Emmett L. Brown Kostüm am anderen Ende des Tresens lehnend Bier bestellte. Er hatte ihr gefallen. Ein Mann gefiel ihr. Ein Mann gefiel ihr auf diese verloren geglaubte am-Liebsten-würde-ich-knutschen-Art. Claire war paralysiert gewesen. Sich von außen selbst betrachtend, hatte sie ihren emotionalen Zustand wie ein interessierter Forscher untersucht, der ein seltenes Insekt zu fassen bekommen hat.
Nachdem der Status quo einigermaßen eindeutig identifiziert war, ist mit einem Mal die Musik wieder in voller Lautstärke an Claires Ohr gedrungen, die Menschen waren wieder da gewesen, drängten an ihr vorbei zum Tresen, Marek inzwischen mit einem neuen Bier für sie und sich selbst an ihrer Seite aufgetaucht.
Marek hatte eine Freundin. Mareks Freundin war eine alte Schulfreundin von Claire, die in Köln studierte. Claires Freundin Rina. Mareks Freundin Rina. Willkommen zurück auf dem Planeten Erde. „Reality bites“, war es Claire durch den Kopf geschossen.
Monatelang hatte Marek sich immer wieder in Claires Gedanken geschlichen, sich dreist an den stetig aufmerksam um die Wahrung realistisch-moralischer Prinzipien bemühten Bodyguards vor den Toren ihrer Phantasie vorbei mogelnd.
Sie war ihm aus dem Weg gegangen. Hatte seine Nähe gesucht. Je nach freier Energie zum Hochhalten der Realität verkündenden Warnschilder.
Eines Abends im Frühsommer hatte man sich im Biergarten getroffen, um Claires Aufstieg von der Praktikantin zur festangestellten Mitarbeiterin zu feiern. Claire saß bereits mit ein paar Kollegen und Bekannten beim ersten Bier, da war Marek dazugestoßen. Es war schön gewesen, ihn wiederzusehen. Sie hatten sich gut unterhalten an diesem Abend, Claire hatte seine Anwesenheit in vollen Zügen genossen wie die ersten Sonnenstrahlen im Frühling. Etwas später hatte Rina angerufen, sie sei aufgehalten worden und komme nicht mehr. An diesem Abend hatten Claire und Marek Handynummern ausgetauscht. Man könne ja vielleicht mal was gemeinsam unternehmen.
Ein monatelanger Austausch von Kurzmitteilungen, Chats und E-mails hatte hierin seinen Anfang gefunden. Seltsam Dir zu schreiben, aber es war schön Dich heute zu sehen.
Claire und Marek verliebten sich in einander. Es dauerte Monate bis sie das Gefühl zum ersten Mal beim Namen nannten. Claire hatte so manchen Kuchen gebacken in diesen Monaten. Zum ersten Mal misslangen die Backwerke. Zu matschig, zu wenig süß, zu trocken, zu klebrig, aus der Form gegangen oder sitzengeblieben. Die Zutaten wollten sich einfach nicht wie gewohnt harmonisch in einander fügen und ein köstliches Kunstwerk ergeben. Ebenso wollten Sehnsucht, Anziehung, Schuld, Gewissensbisse, schmerzende Wunden der Vergangenheit und Angst einfach kein wohlig wärmendes die Welt vergessen lassendes Verliebtsein ergeben.
Marek verließ Rina. Genau sechs Wochen war das am Sylvesterabend her. Seitdem hatte Claire Marek etwa einmal in der Woche gesehen, immer für einige sehr intensive Abendstunden und eine Nacht. Mit ehrlichem Blick aufs eigene Dasein stellte Claire fest, seine Affaire zu sein. Sie trafen sich bei ihr, er wich ihren Fragen mehr oder weniger aus, hielt sie mit herrlich romantischen Ideen und Mitgefühl erregenden Offenbarungen seiner verlorenen Seele mehr oder weniger hin. Claire ahnte seit zwei Wochen, dass etwas überhaupt nicht stimmte, dass Marek nicht wirklich vorhatte, ihnen den Weg in eine gemeinsame Zukunft zu schaffen. Mit jedem Tag wurde diese Überzeugung geschürt, und mit jedem Tag wurde Claire darunter kleiner. Das Kleinwerden kannte sie, und es machte ihr Angst. Heute, an Sylvester, an dem Tag von dem Marek dachte, sie wolle ihn alleine verbringen, an diesem Tag beschloss Claire ein für alle Mal, sich dem Kleinwerden nicht mehr kampflos auszuliefern.
Derlei Gedanken begleiteten sie auf dem Weg nach Ehrenfeld.
Kurz vor dem Eingang zum Club hielt Claire inne. Kurzer inneren Monolog gegen denkfühlendes Schwirren. „Du bist 27 einhalb Jahre alt. Du möchtest an diesem Sylvester, an dem keine Freunde in der Nähe sind, nicht alleine zu hause sitzen. Deshalb gehst Du jetzt alleine auf diese Party. Um etwas zu tun, was Du gerne tust – egal an welchem Tag des Jahres – tanzen. Das ist ok!“ Sie wunderte sich beinahe selbst, wie schnell sie völlig überzeugt war. Und betrat den Club. Mit Bezahlen des Eintritts drückte der kahlgeschorene Mittdreißiger am Empfang Claire den Stempel auf die Handinnenfläche. Geschafft, Hürde genommen. Junge Frau, alleine in den Club gegangen. "Einatmen eins, ausatmen eins."
Mit dem Stempel kam die Lust – Lust auf ausgehen mit sich selbst. „So liebe Claire, herzlich willkommen auf Deiner Party. Was möchtest Du trinken?“, säuselte Claire zu sich selbst. Mit dem an der Bar georderten Gin Tonic ging sie auf die Tanzfläche im oberen Teil des Artheaters. Sie legte die dicke Winterjacke ab, und lehnte sich an die Wand. Die Tanzfläche war beinahe leer. Claire lauschte nur der Musik. Es gab nur sie und die Musik. Sie hatte es immer geliebt zu tanzen, vor allem auf „gute“ Musik. Musik ist gut, wenn man seinen Körper nicht bewegt, sondern die Musik ihn bewegt. Claire begann zu tanzen, und hatte ihre Begleitung für den Abend gefunden. Sie tanzte mehrere Stunden lang, tanzte ins neue Jahr.
Auf dem Nachhauseweg durch den kalten Regen fühlte sie ein ihr völlig neues Gefühl in sich aufsteigen, dass sie auf eine Weise erfüllte und wärmte, wie es bis dahin kein anderes Gefühl getan hatte. Sie war in den vergangenen Stunden nicht einsam gewesen, nicht verletzt, nicht frustriert, hatte niemanden vermisst sie war bei sich selbst angekommen – und spürte, dass diese Reise kein Rückfahrticket vorsah.