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Opas Mondmädchen
„Wir wollen in einer halben Stunde los“, sagt Mama. „Willst du nicht wenigstens schnell noch ein Bild für Opa malen?“
Selena schüttelt den Kopf. Sie ist wütend. Mama will es einfach nicht verstehen: Opa wird heute sechzig, und er hat gesagt, das ist ein ganz besonderer Geburtstag. Deshalb schenkt Selena ihm entweder etwas ganz Besonderes oder gar nichts.
Etwas ganz Besonderes hat sie nicht gefunden. Also bekommt Opa gar nichts.
Mama gibt den Versuch auf, Selena umzustimmen, und kurze Zeit später stehen sie zusammen mit Papa vor Opas Haus.
Als Opa die Tür öffnet, zählt Papa bis drei, dann rufen sie gleichzeitig: „Die allerherzlichsten Glückwünsche zum Geburtstag!“ Sie haben das extra eingeübt, damit es auch klappt.
Opa freut sich ganz doll. Er umarmt Selena und gibt ihr einen Kuss.
„Eigentlich wollten wir dir ja ein Ständchen bringen“, sagt Papa, „aber Selena hat sich wie immer geweigert. Nicht mal im Kindergarten singt sie mit den anderen. Sie kann solch ein Dickkopf sein!“
„Ein Geschenk für dich hab ich auch nicht“, sagt Selena, macht ein schmollendes Gesicht und geht einfach an ihm vorbei ins Haus.
„Das macht doch nichts“, ruft Opa ihr hinterher und lacht.
„Manchmal ist sie wirklich unmöglich“, murmelt Mama.
„Ach was“, antwortet Opa, „sie ist nur nicht wie alle anderen. Sie ist eben mein kleines Mondmädchen.“
Im Haus wimmelt es schon von Geburtstagsgästen. Onkel Günter ist da, ebenso Tante Beate, und auch eine Menge Leute, deren Namen Selena nicht kennt.
Leider ist auch Selenas Cousin Ernesto da.
„Auch das noch, Ätz-Ernesto“, sagt Selena leise und macht ein Geräusch, als wenn sie sich übergeben muss.
„Das hab ich gehört“, flüstert Opa, der ihr nachgegangen ist. Die beiden grinsen sich an.
„Sieh an, das Mooondmädchen“, ruft Onkel Günter, als sei das ein ganz albernes Wort.
Ernesto kommt auf die beiden zu und fragt: „Warum nennst du sie eigentlich immer so, Opa? Meine Eltern meinen, weil sie ein bisschen bescheuert ist. Stimmt das?“
Statt sich darüber zu ärgern, was Ernesto sagt, lacht Selena laut auf: Tante Beate hat Ernesto gehört, sich vor Schreck verschluckt und einen Mund voll Kaffee quer über den Tisch gespuckt.
Opa tut, als hätte er es nicht gesehen, und beantwortet Ernestos Frage: „Ich nenne Selena so, weil sie während einer Mondfinsternis geboren wurde.“
„Was ist eine Mondfinsternis?“, will Ernesto sofort wissen.
„Bist du sicher“, fragt Selena, „dass du schon in die zweite Klasse gehst?“
„Bei einer Mondfinsternis bedeckt der Schatten der Erde den Mond“, erklärt Opa. „Dann wird der Mond für eine Weile ganz dunkel und fängt an, rötlich zu leuchten. In solchen Nächten sieht er noch schöner aus als sonst.“
„Als ob der Mond schön wäre“, stöhnt Ernesto. „Das hast du dir bestimmt nur ausgedacht. Ich glaube eher, meine Eltern haben doch recht.“ Er dreht sich um und geht weg.
„Mach dir nichts draus“, sagt Opa und streichelt Selena mit der Hand über den Kopf.
„Du hast ihm nur die halbe Wahrheit erzählt“, stellt Selena fest.
„Das reicht doch, oder?“, antwortet Opa mit einem Lächeln. „Der Rest bleibt unser Geheimnis. Sonst hält er mich auch noch für verrückt.“
Selena nickt. Es ist ja auch wirklich ein tolles Geheimnis.
Sie kann nämlich den Mond herbeisingen!
Manchmal, wenn sie bei Opa übernachtet und die beiden abends noch spazieren gehen, singt Selena. Ganz leise, so dass nur sie und Opa es hören können – und natürlich der Mond. Der erscheint dann jedesmal, egal, hinter wie vielen Wolken er sich versteckt hatte, und taucht die beiden in sein sanftes Licht.
Selena weiß, dass Opa den Mond genauso liebt wie sie selbst. Er hat ihr oft erzählt, dass er als Junge Astronaut werden und in einer Rakete zum Mond fliegen wollte. Leider ist daraus nichts geworden. Opa sagt manchmal, das ist das einzige, was er in seinem Leben bedauert. Selena versteht ihn gut; Opa wäre bestimmt ein toller Astronaut geworden.
„Jetzt muss ich mich aber um meine Gäste kümmern“, sagt Opa. „Warum gehst du nicht erst mal Bunter begrüßen?“
Das tut Selena. Bunter ist Opas Wellensittich. Er sitzt in seinem großen Käfig in Opas Arbeitszimmer und hüpft ganz aufgeregt herum, als er Selena sieht.
Kaum hat Selena ihn begrüßt, kommt Ernesto ins Zimmer.
„Hol ihn doch mal raus“, sagt er. Er weiß, dass Selena den Vogel oft auf die Hand nimmt.
„Heute nicht“, entscheidet Selena. „Nicht, wenn so viele Leute im Haus sind.“
Aber Ernesto drängelt so lange, bis seine Cousine nachgibt. Sie öffnet die Käfigtür, und sofort hüpft Bunter heraus und kommt auf ihre Hand.
„Gib ihn mir auch mal“, sagt Ernesto.
Das versucht Selena, aber der Vogel klettert auf ihrem Arm hoch, als wolle er nicht zu Ernesto.
Ernesto fackelt nicht lange und packt Bunter mit beiden Händen.
„Tu ihm nicht weh“, ermahnt Selena ihn. Vielleicht war es falsch, das Tier aus dem Käfig zu lassen.
In diesem Moment geht die Tür des Arbeitszimmers wieder auf. Tante Beate kommt herein.
„Habt ihr Opa gefragt, ob ihr Bunter rauslassen dürft?“, fragt sie.
Ernesto versucht sofort, den Vogel wieder Selena zu geben. Dabei tut er ihm wohl weh; erschreckt fliegt Bunter durchs Zimmer und dann in den Flur hinaus.
Zu dumm, dass die Haustür offensteht, weil Onkel Günter gerade neue Gäste hereinlässt. Schon ist der Vogel draußen im Garten.
„Opa, Opa!“, ruft Ernesto sofort und läuft ins Wohnzimmer. „Selena hat Bunter wegfliegen lassen!“
Selena läuft auch sofort los, aber sie rennt hinter Bunter her. Gerade noch sieht sie, wie er die Straße entlangfliegt. Sie folgt ihm, so gut sie kann, und sieht ihn im Park verschwinden.
„Bunter!“, ruft sie immer wieder. „Komm zurück!“
Sie hat Angst, dass der Vogel für immer wegfliegt. Aber noch mehr Angst hat sie, dass Opa ihr schrecklich böse sein wird. Dabei war es doch eigentlich Ernesto, der Bunter losgelassen hat!
Sie muss den Vogel auf jeden Fall wiederfinden. Doch es beginnt schon, dunkel zu werden. Und dieser Park ist so groß!
Lange läuft sie im Park herum. Sie findet Bunter nicht, und irgendwann merkt sie, dass sie vom Weg abgekommen ist und sich verlaufen hat.
Inzwischen ist es so dunkel, dass Selena kaum noch etwas sieht. Wie soll sie nur den Weg zurück zu Opas Haus finden?
Sie hat Angst.
Um sich abzulenken, fängt sie an, leise zu summen. Dann kommen Worte aus ihrem Mund, und ehe sie es richtig merkt, singt sie „Der Mond ist aufgegangen“.
Noch bevor sie mit der ersten Strophe fertig ist, weicht die Dunkelheit um sie herum dem zarten Licht, das sie so gern hat.
Sie blickt hinauf und ist nicht überrascht, den Mond zu sehen. Aber er sieht anders aus als sonst. Selena hat schon oft bemerkt, dass sich in den Flecken des Mondes ein Gesicht verbirgt, doch heute erkennt sie es viel deutlicher als sonst. Der Mond scheint sie mit großen Augen anzublicken.
Und dann vergisst sie fast zu atmen, als er seinen Mund öffnet und sagt: „Hab keine Angst, Selena. Ich passe doch auf dich auf.“
Selena braucht eine Weile, bis sie wieder sprechen kann. „Woher kennst du meinen Namen?“, fragt sie.
„Wie könnte ich ihn denn nicht kennen?“, fragt der Mond zurück. „Wie könnte ich das Mädchen nicht kennen, dessen Gesang ich so sehr liebe?“
Selena ist ganz durcheinander. „Du liebst meinen Gesang? Kommst du deshalb immer heraus, wenn du mich singen hörst?“
„Genau deshalb“, bestätigt der Mond. „Seit fünf Jahren ist das die einzige Freude, die ich habe. Früher, da kamen mich manchmal ein paar Menschen besuchen. Kamen in ihren Raketen vorbei und spielten mit mir. Dann vergaßen sie mich, und ich blieb ganz allein am Himmel zurück.“
Weil der Mond nicht weiterspricht, fragt Selena: „Was passierte dann?“
„Ich wurde immer einsamer und versteckte mich hinter Regenwolken, weil ich weinen mußte. Schließlich verkroch ich mich im Schatten der Erde und wollte nie wieder herauskommen. Mein Gesicht war schon ganz rot vom vielen Weinen. Da hörte ich plötzlich ein Kind schreien, das gerade auf die Welt gekommen war. Das warst du, Selena! Und weißt du, was? Deine Stimme war das Schönste, was ich je gehört hatte – schon damals, als du nur ein schreiendes Baby warst. Ich konnte mich einfach nicht länger verstecken, ich musste herauskommen, dich ansehen und dir zuhören. Meine Tränen waren wie weggeblasen – wie hätte ich noch traurig sein können, wenn ich so etwas Wunderschönes hören durfte?“
Er macht wieder eine kleine Pause, dann sagt er: „Ich bin wirklich froh, dass es dich gibt.“
Selena nickt und sagt: „Ich bin auch froh, dass es dich gibt. Aber jetzt muß ich zurück zu meinem Opa und meinen Eltern. Die machen sich sicher schon Sorgen. Mein Opa liebt dich übrigens auch sehr. Der wäre immer gerne zu dir hinaufgeflogen.“
Sie winkt dem Mond zu, dreht sich um und geht ein paar Schritte auf dem Weg, den sie jetzt im Mondlicht wieder sieht.
Ihr kommt eine Idee. Abrupt bleibt sie stehen, blickt noch einmal nach oben und sagt: „Würdest du mir einen Gefallen tun? Einen ganz, ganz großen?“
Sie erzählt dem Mond, was sie sich wünscht. Er lächelt und verspricht, es für sie zu tun.
Lachend läuft Selena zurück zu Opas Haus. Opa hört sie schon von weitem und kommt ihr mit einer Taschenlampe entgegen. Er erzählt ihr gleich, dass Bunter schon wieder in seinem Käfig ist. „Das war nicht das erste Mal, dass der Vogel weggeflogen ist“, sagt er. „Er kommt immer schnell zurück nach Hause. Er weiß ja, dass er es bei mir am besten hat.“
Opa freut sich, dass auch Selena wieder da ist, und will mit ihr ins Haus gehen.
„Warte noch“, bittet sie. „Ich möchte dir etwas geben.“ Aber sie steht bloß da und betrachtet den Himmel. Anstelle des Mondes sieht sie nur Wolken.
Schließlich erkundigt sich Opa: „Bekomme ich jetzt etwas, oder stehen wir nur hier, um auf den Mond zu warten?“
„Beides“, antwortet Selena.
Die Wolken reißen auf, und der Mond erscheint wieder. Er sieht nun aus wie immer; Selena muß ganz genau hinsehen, um das Gesicht zu erkennen.
Auf einmal fällt etwas vom Himmel herab, direkt vor ihre Füße. Selena bückt sich und hebt es auf. Es ist ein Stein, der im Schein von Opas Taschenlampe silbrig glänzt.
„Das ist für dich“, sagt Selena. „Es ist ein Stück vom Mond.“
Sie gibt Opa den Stein. Opas Blick geht immer wieder zwischen dem Stein in seiner Hand und dem Mond am Himmel hin und her.
Zum Schluß sagt er: „Das ist das allerschönste Geschenk, das ich heute bekommen habe - wirklich etwas ganz Besonderes.“