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Oscar
Herbert klingelte an der Tür der Wohnung seines Freundes Oscar. Herbert war gekommen, um Oscar zu besuchen, weil er seinen Freund seit Jahren nicht gesehen hatte. Doch die Tür blieb verschlossen. Deswegen pochte er an der Tür, bis seine Hand schmerzte. Herbert war frustriert. Sein Freund tat, als höre er ihn nicht.
Heute ist ein seltsamer Tag, dachte er. Schon im engen Treppenhaus war ihm eine alte Dame mit einem kleinen Hund, einer Fußhupe, begegnet. Die Fußhupe hatte zu bellen angefangen und bedrohlich die Zähne gebleckt.
„Ruhe, Fluffy!“, hatte die alte Frau gedonnert. „Wissen sie, ich muss trotz meines alten Rückens noch mit meinem Hund spazieren gehen und rede mit ihm, sonst habe ich niemand…“, hatte sie dem Fremden versucht, mitzuteilen.
Als ihre Augen Herberts Augen trafen, verstummte sie schlagartig und eilte die Treppe hinunter, als sei ihr der Teufel auf den Fersen. Ihre Fußhupe, die sich zuerst gegen die Flucht gewehrt hatte und darauf bestanden hatte, ihr Revier zu verteidigen, wurde durch die Wucht der Frau mitgezogen und hatte keine Chance, noch weiter auf den Fremden zu bellen. Die seltsame Reaktion der alten Dame überraschte Herbert. Dafür, dass sie Rückenschmerzen zu haben schien, stieg sie die Treppe recht flott hinab. Die Tür zu Oscars Wohnung blieb nach wie vor verschlossen. Welche Unhöflichkeit, dachte Herbert. Seinen Freund so lange warten zu lassen.
Erneut klingelte er. Endlich öffnete ihm ein verschlafener Oscar die Tür.
„Wer bist du und was suchst du hier?“, fragte er wütend.
„Oscar! Wie schön, dich wiederzusehen! Erkennst du mich etwa nicht mehr?“
Herbert erhaschte einen Blick auf die Schulter seines Freundes. Tatsächlich war er es. Er hatte die selbe Tätowierung wie auch Herbert. Sie hatten sie zusammen stechen lassen. Oscar machte Anstalten, die Tür wieder zu schließen. Seine Absichten wurden allerdings durch Herbert verhindert, der seinen Fuß bereits in den Türspalt gezwungen hatte.
„Verschwinde, du Gestörter!“
„Nicht so unhöflich, Oscar! Erkennst du wirklich deinen Kumpel aus Kindertagen nicht mehr?“
Mit einer Kraft, die ihn selbst überraschte, stieß Herbert die Tür auf und drängte Oscar ins Innere der Wohnung. Herbert war zwar kleiner als Oscar und hatte deutlich weniger Muskeln, trotzdem schaffte er es, den Riesen in seiner eigenen Wohnung zurück zu drängen.
„Wer bist du und was willst du von mir?“, fragte Oscar verwirrt.
Herbert konnte sich nicht daran erinnern, woher ein Fleischermesser in seiner Hand auftauchte, aber es spielte in diesem Moment keine Rolle. Das wichtige war, dass es seine Funktion als Drohinstrument erfüllte. Glänzend erfüllte.
„Ich bin dein Freund! Herbert. Erkennst du mich nicht mehr? Siehst du nicht die Tätowierung? Wir haben sie gemeinsam stechen lassen!“
Herbert entblößte seine rechte Schulter und zeigte auf die schwarze Rose. Dann wandte er sich wieder seinem Freund zu.
„Na, wo ist das Geld, das ich dir geliehen habe?“
„Welches Geld? Ich habe nie von irgendjemand Geld geliehen!“
Oscar war mit dem Rücken zur Wand in die Knie gegangen, sodass Herbert mit erhobenem Messer bedrohlich über ihm stand. Herbert gefiel das. Er spürte seine Macht so deutlich wie noch nie.
„Oh - du hast wohl wirklich ein schlechtes Gedächtnis, Oscar! Wo ist das Geld, das du vor einem halben Jahr von mir geliehen hast und mir nie zurückgegeben hast?!“
„Ich heiße nicht Oscar!“
„Du hast mir versprochen, es mir in zwei Wochen zurück zu geben! Du hast geschworen! Auf den Namen der Rose! Und was sehe ich jetzt? Du tust so, als hätte es das Geld nie gegeben!“
Oscar traten die Tränen in die Augen.
„Wo ist das Geld?“, fragte Herbert mit Nachdruck.
„Nimm alles, was du haben willst aber lass mich bitte am Leben!“, wimmerte Oscar verzweifelt.
„Oscar…“, drohte Herbert.
„Ich bin nicht Oscar…“
Dieser Satz war zwar kaum hörbar, aber umso mehr Wirkung hatte er auf Herbert. Nachdem Oscar es gewagt hatte, ihn anzulügen und das Leihen des Geldes zu leugnen, log er ihn kaltblütig ein weiteres Mal an, indem er behauptete, dass er nicht Oscar hieße.
Wer war er dann? Es konnte doch nicht sein, dass Herbert sich irrte? Nein. Diese Möglichkeit war ausgeschlossen. Um nichts in der Welt würde er seinen Freund mit einer anderen Person verwechseln.
Am meisten enttäuscht war er natürlich von der Tatsache, dass Oscar ihn noch immer nicht zu erkennen schien. Dabei waren sie miteinander aufgewachsen.
„Ich bin nicht Oscar“, wiederholte Oscar wie ein Mantra. Als ob ihn das vor der ihn erwartenden Rache schützen würde. Dieser Blödmann.
Herbert wurde rasend vor Wut. So rasend, dass er die Kontrolle über sich selbst verlor.
In blinder Wut stach er mit dem Messer zu, dass das Blut zu allen Seiten spritzte. Dabei heftete er seinen Blick auf die Tätowierung, die schwarze Rose auf der Schulter seines Freundes. Er hörte mit dem Stechen erst auf, als ihn ein Pochen an der Wohnungstür auffahren ließ. Es war, als erwachte er aus einem Traum. Was hatte er gerade getan? Sein Blick landete auf der Wand, die kurz zuvor weiß gewesen war. Jetzt sah sie aus, als hätte jemand mit Tomatensoße herumgespritzt.
Seltsam, dachte Herbert. Ist es Tomatensoße, die wie Blut aussieht oder ist es Blut, das aussieht wie Tomatensoße?
Herbert wusste es nicht. Aber der Gedanke ließ ihn grinsen.
Oder Erdbeeren, dachte er. Tomaten und Erdbeeren sind lecker. Also kann auch Blut lecker sein?
Er schüttelte sich. Es fühlte sich an, als ob ein fremder Geist kurzzeitig überhand über sein Bewusstsein gewann und mit seinen Gedanken anstellte, was er wollte. Dann wanderte sein Blick auf den Boden. Der Körper - der einst einer gewesen war - lag in mehrere Stücke zerschnitten, teils auch zerrissen, am Boden. Es waren nur noch Stücke von Fleisch, die nur sehr weit entfernt an Teile eines menschlichen Körpers erinnerten.
Warum lag Oscar am Boden? Warum befand sich Oscar in so einem seltsamen Zustand?
Ein anderes Rätsel bestand darin, warum Herbert Blut an den Händen hatte und warum er das Blut an der Wand mit Tomaten und Erdbeeren verglich.
Das einzige, was Herbert wusste, war, dass er sich aufgemacht hatte, um seinen Freund zu besuchen. Sein Freund war Oscar. Er hatte Oscar noch vor einem halben Jahr Geld geliehen, das er versprochen hatte, ihm nach zwei Wochen zurückzugeben. Herbert hatte sich bereit erklärt, ihm das Geld zu geben. Dann hatte er gewartet. Er hatte gewartet und gewartet. Das Geld hatte er nicht zurückbekommen. Dabei hatte Herbert vorgehabt, sich eine neue Armbanduhr zu kaufen. Aber Oscar war nie gekommen. Er war verschwunden. Also hatte Herbert sich aufgemacht, um Oscar zu suchen. Nach langer Suche hatte er ihn auf der Straße gefunden und war ihm gefolgt. Er hatte herausgefunden, wo Oscar wohnte und beschloss, seinen Freund zu besuchen. Das war ungefähr vor einer Stunde gewesen. Wieder kehrte der Teufel in seine Gedanken zurück und verzerrte sein Gesicht zu einer Grimasse mit einem grässlichen Grinsen. Er erhaschte einen Blick auf sich selbst im Spiegel, der im Gerangel zerbrochen war, und erkannte sich selbst nicht mehr. Sein Mund war zu einem grässlichen Grinsen verzogen und die Augen waren zwei schwarze Löcher, die seine Seele auszusaugen drohten. Seine Erscheinung erschreckte Herbert selbst. Er wandte den Blick ab. Dann wurde ihm die ganze Tragweite seiner Handlung bewusst. Ratlos ließ er das Messer fallen, das sich um ein Haar in seinen Fuß gebohrt hätte.
Oscar, Oscar, Oscar…Was habe ich nur getan? Hatte er tatsächlich einen Freund umgebracht? Einen Freund, den er das ganze Leben lang kannte? Wegen Geld?
Herberts Gedanken waren lauter als die Stimmen der sich in die Wohnung drängenden Menschenmasse. Er hörte nur Fetzen eines Gesprächs zwischen zwei Männern:
„Ist das der gesuchte Mörder Oscar?“
„Ja. Das ist er.“
„Nach welchem Schema sucht er sich seine Opfer aus?“
„Alle seine Opfer haben ein und dieselbe Tätowierung auf der Schulter. Die Schwarze Rose. Er sucht sie in der Menschenmenge und wenn er sie sieht, verfolgt er sie…“
„Eine Tätowierung? Aber warum?“
„Oscar hat vor Jahren eine Million Euro gewonnen, sie dann aber durch Trunkenheit mit einem Freund, der auch dieses Tattoo hatte, schnell wieder verloren. Seitdem gibt er allen mit einer solchen Tätowierung die Schuld. Und dort draußen gibt es tausende mit ähnlichen Tattoos.“
Wo ist das Geld wohl jetzt?, fragte sich Herbert, der in Wirklichkeit Oscar hieß. Er hatte den Namen auf der Straße aufgeschnappt und war augenblicklich davon überzeugt, Herbert zu heißen. Einen Augenblick später verlor er das Bewusstsein.