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Osternest
Die Wirklichkeit ließ sich weder wegblinzeln, noch durch Stoßgebete schönfärben, wie Martin dadurch feststellte, dass der riesige Hase unentwegt „Zum Osterfest ein Osternest!“ durch seine verfaulten Zahnruinen brabbelte.
„Hau ab!“, schrie Martin. Seine Hände zitterten und ein blau gefärbtes Ei aus dem Osternest für Sarah fiel ins taufeuchte Gras. „Lass mich doch endlich in Ruhe, bitte.“
Die über zwei Meter hohe Travestie eines Feldhasen funkelte ihn mit ihren bösen Augen an. „Du weißt, was ich will. Und du weißt, dass ich stets bekomme, was ich will.“
Der junge Mann schluckte hart und blickte über die Schulter zurück zum Haus, wo Andrea gerade das Frühstück zubereitete, während Sarah noch schlief und sich seit Tagen auf das lustige Suchen des Osternests freute.
Scharfe Krallen rissen seine linke Wange auf. Martin stöhnte. „Nein, bitte-“
Wütend schlug das Ungetüm das liebevoll gestaltete Osternest aus seinen Händen. Eier, Krepppapier und Süßigkeiten purzelten hinab. Eines der Schokohäschen zertrat der Hase unter seinen riesigen Läufen.
„Deine jämmerlichen Bitten interessieren mich nicht!“, herrschte ihn das Monstrum an und drohte mit seinen Krallen. „Du wirst tun, was ich verlange, denn ich bin dein Gebieter!“
Tränen füllten die Augen des Menschen, obgleich er wusste, dass es zwecklos war, auf Mitleid zu hoffen: Der Riesenhase war eine Ausgeburt der Bosheit und verachtete ihn.
„Du existierst doch gar nicht“, sagte Martin mit wimmernder Stimme. „Ich bin krank und du bist ein Symptom meiner Krankheit.“
„Na schön, du nutzloses, dummes Balg! Wenn das so ist, werde ich mir mein Osternest selber gestalten müssen.“
„Nein!“, brüllte Martin und lief Richtung Haus. Sie mussten weg. Andrea und Sarah mussten vor dem Monster fliehen, bevor es zu spät war. Er würde sie an einen sicheren Ort bringen, wo sie …
Der Schlag traf ihn genauso hart wie unvorbereitet. Er sank zu Boden.
Und erwachte auf feuchter Erde liegend. Benommen hob er den Kopf und blickte um sich. In schier obszöner Sorgsamkeit waren die menschlichen Überreste um ihn herum drapiert worden. In blutigen Kleiderfetzen lagen allerlei Eingeweide, zwei Köpfe starrten ihn aus leeren Augenhöhlen an, da die Augäpfel in Haarbüschel gewickelt worden waren. Was in den ovalen Alufolien sich befand, ließ sich nur in übelsten Alpträumen erahnen.
Der Hase hatte sich sein Osternest selber gestaltet.
Hinter einer Hecke zuckten seine beiden riesigen Löffel.
Martin übergab sich auf Andreas Torso und stand mit zittrigen Knien auf.
Er wusste, dass ihm niemand glauben würde und lief und lief, bis seine Beine heiß wie Zunder brannten.
Der Hase hatte sich sein Osternest selber gestaltet, nachdem ihm Martin seinen abscheulichen Wunsch nicht erfüllt hatte.
Wie jeden Ostersonntag.