Ozean der Gedanken
Ermittler Carlo Santiago war bereit die entscheidende Frage zu stellen, deren Antwort er schon zu wissen glaubte. Mit Genugtuung stellte er fest, dass die Frau neben ihm ihren Blick von dem großen Fenster, das sich zu ihrer rechten über die gesamte Länge des Raumes erstreckte, abgewandt hatte und diesen jetzt auf den Verdächtigen, Isaak Schmidt, konzentrierte, der ihnen gegenüber saß. Der Ermittler deutete den Blick des Verdächtigen am anderen Ende des langen Tisches, auf dem verschiedenste Papiere verstreut lagen, selbstsicher als ein Zeichen von Verzweiflung. Isaak Schmidt hatte verloren. Beide kannten sie die Frage schon bevor sie gestellt wurde, und beide kannten sie auch die Antwort. Das dachte Santiago zumindest.
„Ich habe keine Ahnung wovon sie da reden. Ich habe die Erde nie verlassen! Und ich weiß auch nichts von irgendjemand ders gemacht hat!“ Das war nicht die Antwort, die der Ermittler erwartet hatte. Sicher, dieser Mann mit den viel zu langen strähnigen Haaren hatte nichts zu verlieren, aber so eine plumpe Lüge? Das überraschte Santiago schon ein wenig – nicht so sehr, wie das, was er als nächstes hörte.
„Er sagt die Wahrheit!“ bestätigte die Telepathin Isaaks Aussage knapp, ehe sie sich wieder dem Fenster zuwandte.
Die Frau gehörte nicht etwa einer dieser gentechnisch adaptierten Dienerrassen an, die die Menschen für verschiedenste Zwecke von ihrem eigenen Genom abzuleiten pflegten, eine Technik die sie von den Aschen übernommen hatten. Sie war eine echte Außerirdische. Zwar war ihrem Volk genau wie den Bewohnern anderer Welten unter der Schutzherrschaft der Aschen, zu denen auch die Erde gehörte, grundsätzlich verboten ihre Welt zu verlassen, allerdings genossen sie in dieser Beziehung doch eine gewisse Sonderstellung. Da die Aschen ihren potentiellen Nutzen erkannten, setzten sie seit Eingliederung deren Volkes einzelne Telepathen überall im Reich ein. Warum sie gerade in diesem Fall davon absahen, die telepathische Begabung in das Genom einer eigenen Dienerrasse zu integrieren wie es ihrem gewohnten Vorgehen entsprochen hätte ist rätselhaft. Es scheint fast, als ob ihnen dieser Gedanke von irgendwo eingegeben worden wäre.
Für die Telepathen bestand der Vorteil solcher Anstellungen, der diese trotz der oft niederen Natur der eigentlichen Arbeit äußerst begehrt machte, in der Möglichkeit ihrer Heimatwelt zu entkommen. Ihnen bot sich die einmalige Chance, mit fremden Kulturen in Kontakt zu treten, den Weltraum zu bereisen und die atemberaubende fremdartige Schönheit zu erfahren die das Aschen-Reich, wohl nicht zuletzt auch wegen seiner Einkapselungs-Politik, vielerorts aufzuweisen hatten. Deswegen war sie hier! Deswegen hatte sie all das auf sich genommen!
Der Raum in dem sie sich im Moment befand war hoch genug gelegen, dass sie die Krümmung der Erde erahnen konnte, die im fahlen Abendlicht silbrig glänzte. Die Stadt, die sich unter ihnen kilometerweit in alle Richtungen erstreckte, erschien wie von filigranen Linien durchzogen. Die großen Straßen und Gebäude waren von hier oben deutlich zu erkennen, verzweigten und kreuzten sich, wurden kleiner, feiner. Kaum noch wahrnehmbare Muster. Aus dieser Struktur ragten eine Vielzahl von Türmen wie Dornen hervor, ihre dunkle Haut übersät mit Lichtern. Sie waren hoch, überragten sogar ihre ehrfurchtsvolle Beobachterin und leiteten deren Blick in den wolkenbedeckten Himmel...
Als ob man auf einen Seeigel schaut, der einem auf der Nase steckt. Bei diesem Gedanken hätte sie beinahe gelacht. Zu gerne hätte sie ihn mit Isaak, von dem besagter Gedanke stammte, näher erörtert, nicht mit Worten natürlich, doch diese Möglichkeit bot sich ihr nicht mehr. Die Kontrollklemme in ihrem Kopf, der Preis den sie zahlen musste um hier her zu kommen, verhinderte es. Genauer gesagt verlor sie diese Fähigkeit, Gedanken zu projizieren, bei der chirurgischen Entfernung eines Großteils des telepathischen Zentrums ihres Gehirns, die eigentliche Klammer diente nur dazu weitere Gewebeschäden an dem so verstümmelten Organ zu verhindern – Eine Standardprozedur, die die Aschen bei allen Telepathen in ihren Diensten anwendeten, denn so sehr sie diese auch schätzten, sahen sie doch in jedem Telepathen auch einen potentiellen Verräter, völlig unerkannt, unkontrollierbar, nur in Gedanken agierend. Und, bei diesem Gedanken konnte sie sich ein breites Grinsen nicht verkneifen, sie hatten recht damit. Nicht recht hatten die Aschen allerdings wenn sie glaubten, diese Kastration wäre eine ausreichende Versicherung gegen solch destruktives Verhalten.
Blinzle, wenn du mich verstehen kannst! Das war eigentlich schon alles, was ein Verdächtiger denken musste. Dann musste er nur noch noch unverschämt genug sein, sie zu bitten ihm helfen, zu fragen ob sie für ihn lügen würde. Ein unauffälliges Lächeln ihrerseits, wenn sie spürte, dass die Aufmerksamkeit des Ermittlers gerade auf etwas anderem ruhte, und sie waren im Geschäft. Diesem hier hatte es nicht geschadet ... Dieser eine Satz von ihr würde Isaak Schmidt wohl die Freiheit schenken. Aber er täuschte sich, wenn er glaubte, dass sie es aus Sympathie für ihm im speziellen oder die Menschheit im allgemeinen getan hätte. Das war ihr Vergeltungsschlag gegen das System. Nicht dass sie ernsthaft glaubte, dem System damit wirklich schaden zu können oder dass dieses auch nur Notiz davon nehmen würde, aber... es reichte aus, ihr ein Gefühl von Freiheit zu vermitteln, ein Gefühl nicht machtlos zu sein, nicht klein, nicht unbedeutend.
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Welt hinter dem Fenster zu, ließ ihren Blick von der Stadt hinüber zu dem freien Land schweifen und weiter auf das Meer, das sich an der Küste brach. Endloser blauer Ozean... Sobald das hier vorbei war, würde sie schwimmen gehen.