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Paolo Pini
Paolo Pini
Mit der Mauer des ehemaligen psychiatrischen Krankenhauses war es schon seltsam. Von Außen war sie abweisend und stark, als müsste sie etwas Entsetzliches in seinem Innern halten, um die Außenwelt zu beschützen. Von Innen betrachtet gab die Mauer diesem Ort einen Rahmen und hielt seine Energie zusammen.
Als ich mich auf dem zentralen Platz das erste Mal bewusst umschaute, fiel mein Blick auf einen ungewöhnlichen Baum, der in der Mitte auf einem kleinen Grün stand.
Er hielt seine Äste an einem leicht gekrümmten Stamm. Die großen dunkelgrünen Blätter glänzten auf der Unterseite goldgelb, als wären sie mit einer reflektierenden Glasur überzogen. Er trug eigenartige Früchte, deren stachelige Oberfläche entfernt an zu groß geratene und deformierte Kastanien erinnerte.
Ich betrachtete die einzelnen Früchte. Jede sah anders aus. Was war das nur für ein seltsamer... “Eindrucksvolles Gewächs, nicht ?“, sagte jemand auf deutsch. Ich erschrak ein wenig und drehte mich ruckartig um. „Äh, - ja...“ „Ich bin Dr. Boderus, der Leiter des Olinda-Projektes.“
Er hielt die Distanz, beugte sich zu mir herüber und streckte mir seine Hand entgegen. „Das ist ein Durianbaum“, beantwortete er meine noch nicht gestellte Frage. „Eine erstaunliche Frucht. In Südostasien wird sie als die Königin der Früchte verehrt. Es ist ein kleines Wunder, dass sie hier wächst.“
Anstatt sich zu verabschieden nickte er mir zu und ging in Richtung Bar an der alten Kirche entlang. Er war jünger als ich mir einen Psychiater vorstellte. Er trug eine braune etwas zu groß geratene Lederjacke, wie sie in den achtziger Jahren modern war. Der Rest seines Erscheinungsbildes wirkte jedoch gepflegt und mit einer eleganten Uhr
und einem teuren Hemd um einen gewissen Stil bemüht. Nach einigen Metern drehte er sich nun ruckartig zu mir und sagte in einem ermahnendem Tonfall: „Tut mir bitte einen Gefallen, auch wenn es verlockend sein mag, tretet nicht auf die Früchte, wenn sie in den nächsten Tagen herunterfallen.“ Er grinste und sagte: „Sie werden es uns sonst mit einem säuerlichen, ranzigen Gestank vergelten, der sich über den ganzen Platz von der Herberge bis zur Bar und den Arbeitsräumen ausbreiten wird.“
Die 18 Teilnehmer des Workshops, Studenten aus vier verschiedenen Disziplinen und vier Ländern und die Professoren, wurden gebeten sich in der Küche der ehemaligen Psychiatrie zu treffen. Es war die Art von Gebäude die man nur bei Krankenhäusern findet, klotzig, von Bäumen umgeben und nicht preisgebend was sich im inneren verbergen mag. Schon nach wenigen Schritten durch die massiven Türen offenbarte sich ein Gebäude, dass geprägt war von Anzeichen des schnellen Verfalls.
Es waren die sterblichen Überreste einer Großküche.
Im Eingangsbereich, wie im ganzen Gebäude, lagen Schmutz und abgeblätterter Putz. Die Räume wiesen nur noch wenige Relikte auf, die auf ihre ehemalige Funktion hinwiesen. Seltsame große Metallwannen, verrostete Apparaturen, ein riesiges Mixgerät, vielleicht eine Industriewaage. In einem kurzen Gang im hinteren Teil des Gebäudes lag ein kaputter Rollstuhl. Es handelte sich um ein Modell mit Loch in der Mitte der Sitzfläche. Die Räder waren zum Teil verbogen und der mattgraue Bezug wies einige Brandlöcher auf. Auf der Seite liegend machte er einen hilfsbedürftigen Eindruck. Ich unterdrückte den Impuls ihn wieder auf die Räder zu stellen. Ich schob ihn lediglich ein bisschen zur Seite, um in den dahinter liegenden Raum zu gelangen. Das Zimmer war voller Unrat. Kisten mit alten Büchern, ein kaputtes von Rost überzogenes Bettgestell und andere alte Dinge waren links und rechts des Raumes aufgetürmt, teilweise bis unter die Decke. Der freigelassene Weg war gerade mal einen Fuß breit und führte zu einer großen roten Stahltür. Durch die viereckigen Glasfester war nicht zu erkennen was dahinter lag. Mit einem Krächzen öffnete ich die Tür. Die Dicke der Tür hatte etwas Beängstigendes. Wie bei der Mauer der Psychiatrie war ich mir auch hier nicht sicher, ob sie etwas oder jemanden am Rauskommen oder am Reinkommen hindern sollte. Trotz des spärlichen Lichts aus dem Eingangsbereich konnte ich noch immer nicht erkennen um was für einen Raum es sich hier handelte. Dann hatte ich eine Idee: Die Kamera. Ich hielt sie ziellos in den Raum und drückte ab. Als ich das Foto betrachtete musste ich angesichts meiner leichten Anspannung ein wenig schmunzeln: Ein Kühlraum.
Bei näherem Betrachten des Fotos deutete sich an den Kachel in der Ecke eine Art Geschmiere an. Ich wagte mich einen Schritt weiter in die Dunkelheit. Automatisch ging ich noch einmal zurück, sicherte die Tür mit einer voll gepackten Pappkiste, ging wieder hinein und steuerte in die Richtung, in der ich das Geschmiere vermutete. Ich machte ein erneutes Foto und hatte beim ersten Versuch das komplette Werk auf dem Bild.
Es zeigte zwei Gestalten, die aus einer diffusen Masse empor stiegen. Die Figuren, eine männliche, eine weibliche, waren sehr detailliert in feinen roten Strichen gezeichnet. Ihre Gesichter schienen von etwas Unsagbarem gezeichnet. Innerhalb der Masse waren durch geschwungene, organisch verlaufende Linien Bewegungen angedeutet, die keiner Gesetzmäßigkeit zu folgen schienen. Mit angsterfülltem Gesichtsausdruck hatte die männliche Kreatur, der weiblichen, den Kopf in unnatürlichem Winkel zugewandt. Die weibliche Kreatur schien der Masse, die sie herunter zog, fast entkommen zu sein.
Dem Wahnsinn entkommen? Oder der Realität?
Meine Gedanken wurden unterbrochen durch die Rufe von Igor. Ich würde meine Erkundungen wohl nach dem Vortrag fortsetzen müssen.
"Ben, komm wir müssen uns diesen Psycho anhören", rief er mit einem relativ starken kroatischen Akzent, der aber die Deutlichkeit seiner Aussprache noch verstärkte. Gepaart mit dem selbstbewussten Auftreten kam es einem zunehmend wie ein brillanter, bewusst gewählter sprachlicher Stil vor.
Als Igor und ich am Hauptteil des Gebäudes ankamen, stand Peter bereits in der Tür und hatte sein Terence Hill-Grinsen aufgesetzt. Bei dieser Art zu lächeln zeigten die Augen mehr Einsatz als der Mund. "Es bleibt noch ein wenig Zeit, der Doktor verspätet sich", verkündete er, während er einen kleinen Joint zwischen den Fingern kreisen lies. Wir standen am Fuße eines mächtig aussehenden Baumes, der zu nah an dem Gebäude zu stehen schien und warteten. Igor rauchte ohne seinen Blick von etwas in der Ferne abzuwenden. Berauscht von den Blättern über uns lehnte ich mich an den kräftigen Stamm. Als ich seinem Blick durch die unregelmäßig verlaufende Allee folgte, fiel mir meine erste bewusste, aber auch prägendste Begegnung mit Igor ein. Sie ereignete sich am dritten Tag des Wokshops.
Wir hatten uns das erste Mal zusammengesetzt, um zu diskutieren, wie man mit diesem stigmatisierten Ort umgehen sollte. Wie könnte man ihn ändern, damit die Menschen in der Umgebung ihn annehmen würden und welche Rolle würden dabei die ehemaligen Patienten spielen, die von Olinda betreut in Paolo Pini lebten und arbeiteten? Wir saßen im Arbeitsraum über Lennys Bar und dem von Olinda gegründeten Restaurant und fingen an, einer nach dem anderen zu erzählen, welche Ideen und Empfindungen wir mit Paolo Pini verbanden. Einige Ideen beinhalteten die Veränderung der Mauer, die als physische Grenze aus städtebaulicher Sicht eine Barriere darstellte und aus psychologischer Sicht die mentalen Grenzen materialisierte. Aus soziologischer Sicht wäre es zunächst notwendig herauszufinden, welche potentiellen Nutzer dieser Fläche es gab und welche Bedürfnisse sie hatten. „Man sollte die Mauer zwar nicht zerstören, aber ihre Regelmäßigkeit unterbrechen, z.B. durch eine Art Fenster", erklärte Peter. Es kam ein Fülle von Ideen zusammen, von denen einige viel versprechend klangen. Dennoch beschlich mich das Gefühl, dass wir den zweiten vor dem ersten Schritt machten und versuchten nach erlernten Rezepten vorzugehen, ohne die Zutaten zu kennen.
Igor war einer der letzten der sprach. Er stand auf und holte Luft als müsse er sich auf etwas Wichtiges vorbereiten. Nicht nur seine enorme Körpergröße und seine tiefe Stimme verliehen ihm eine Präsenz, die offenbarte, dass er es gewohnt war die volle Aufmerksamkeit zu bekommen wenn er sprach. Trotz seiner Anspannung fing er langsam, fast gelassen an zu reden.
„Habt ihr diese Bäume gesehen? Einige von euch wissen es sicher, ich liebe Bäume.“ Sein Dozent und Maja, eine seiner besten Freundinnen, schmunzelten vertraut und erwartungsvoll und einige von uns taten es ihnen gleich. „Es sind gesunde und kraftvolle Bäume die diesen Ort zu etwas Einmaligem machen." Er konnte es sich erlauben lange Pausen zu machen, wir ahnten, dass er etwas Wahrem auf der Spur war. „Ich bin heute den ganzen Tag alleine durch diesen Ort des Friedens gelaufen und habe etwas gesehen, dass es verdient respektiert zu werden. Ihr wollt die Menschen überzeugen diesen Ort zu betreten, ihn zu nutzen", sagte er mit einem fragenden Unterton. „Ich bin schon jetzt dankbar dafür, diesen wundervollen Ort kennen gelernt zu haben und ich bin zutiefst davon überzeugt, dass er beschützt werden sollte.
Die Mauer ist wichtig", folgerte er weiter. "Sie bewahrt nicht nur die Identität, sondern die Schönheit dieser Oase. Menschen die diese Schönheit nicht verstehen, werden sie auch mit unserer Hilfe nicht verstehen. Sie mögen vielleicht kommen und den Ort für Freizeitaktivitäten nutzen, wenn wir ein entsprechendes Angebot schaffen, aber sie würden diesem Ort vielleicht ebenfalls den Geist nehmen."
Seine Position mochte hart und unversöhnlich sein, aber ihn dafür zu kritisieren bedürfte es einer Menge Ignoranz. Eine gewisse Scham überkam mich, ob meiner vorherigen Idee, ein Sportareal für die Jugendlichen der Nachbarschaft zu errichten. Ich fühlte mich ein wenig, als hätte ich bereits vorgeschlagen hier ein Disneyland zu eröffnen. Menschen können so überzeugend sein, wenn sie selbst eine tiefe Überzeugung besitzen, dachte ich, während wir unsere Notizen einpackten und nach unten zum Essen gingen.
Nach dem Essen draußen auf dem Platz saßen Peter, Maja und ich ein wenig abseits von den Anderen unter einem wellenförmigen Steindach vor der alten Kirche, deren Glocken wohl lange nicht mehr geschlagen hatten. Es war kaum Wind wahrzunehmen, trotzdem hörte man irgendwo über uns das Rauschen von Blättern. Igor spielte auf der Gitarren und sang:
And you want to travel with her,
And you want to travel blind,
And you know that she will trust you,
For you've touched her perfect body with your mind...
Mein Blick schweifte über den Platz. Die Bar war schon lange geschlossen. Lenny saß mit zwei anderen Leuten von Olinda am anderen Ende des Dachs und schaute zu uns herüber. Ich sah ihn das erste Mal lächeln und fühlte mich als hätten der Ort und die Zeit sich zusammengetan uns zu überzeugen, dass Paolo Pini etwas Besonderes war, dass für ausgewählte Menschen Seelenfrieden bedeuten konnte.
Wir nahmen im zentralen Raum der ehemaligen Küche auf in einem Halbkreis angeordneten Stühlen Platz, die auf drei verschiedenen Ebenen standen. Die Akustik war fantastisch. Wie wir später erfuhren, war das Gebäude ursprünglich einmal ein Theater.
Thomas Boderus fing an mit einem Vortrag über Zeit und Raum. Die Geschwindigkeit seines Redens verschmolz auf ungewöhnliche Weise mit meiner Zeitwahrnehmung in diesem eindrucksvollen Raum.
„Im Raum können wir uns verlieren und es kann schwierig sein die Orientierung zu behalten. Zur gleichen Zeit kann uns ein Raum beschützen und halten. Durch den Rahmen der Zeit, durch Zeitsequenzen, kann dem Chaos eine Form verliehen werden."
Er folgerte weiter, dass man in der Psychiatrie den Patienten von Sequenz zu Sequenz in immer sicherere Bahnen lenkt. Es mangele aber oft an der Relation zum Raum, welcher in sozialen Wissenschaften auf den Bergriff Umgebung reduziert werde. Damit seien Raum und Zeit separate Dinge und ihre gegenseitige Abhängigkeit ignoriert.
Die Großküche sollte mit Hilfe der Patienten wieder ihrer ursprünglichen Nutzung zugeführt werden. Auch wenn es viel mehr Zeit kosten würde, hatte sich Thomas Boderus vorgenommen, den therapeutischen Wert der schrittweisen Veränderung des Raumes zu nutzen. Sein Ansatz war es nicht, den Menschen separat von dem Raum zu ändern oder umgekehrt. Vielmehr sollte der Veränderungsprozess aktiv von Patienten vorangetrieben werden, auch wenn die Zeit dabei in anderen Bahnen verlaufen würde.
War es nicht in der Stadtplanung ähnlich? Wir veränderten den Raum um Probleme in der Stadt zu lösen und Mechanismen der Heilung auszulösen. Wenn man nun Thomas Boderus Ansatz auf Stadtplanung übertragen würde, müsste man eingestehen, dass der gesamte Bereich, den die Stadtplanung Bürgerbeteiligung nennt, unzulänglich ist und den eigentlichen Zweck verfehlt.
In meiner Erinnerung kann ich die Abende nicht exakt von einander trennen und in eine chronologische Reihenfolge bringen, aber es war an einem der letzten, an dem wir in einer ähnlichen Konstellation wieder vor der alten Kirche saßen und den Rest des Rotweins tranken, der eine Spende der italienischen Professorin gewesen war.
Roberto, einer der ehemaligen Patienten, hatte sich zu meiner Überraschung zu uns gesetzt. Er war mir schon mehrmals auf den Gängen unserer Unterkunft oder beim Essen begegnet und ich hatte das Gefühl, er würde uns kaum wahrnehmen, uns eher als Eindringlinge empfinden. Er trug meistens einen braunen Bademantel und kaputte Frottehausschuhe, mit denen er faselnd an einem vorbeischlurfte.
Jetzt schien er an unseren Gesprächen teilhaben zu wollen.
Er hatte ein altes Kordsakko an und eine leicht getönte Brille auf, als er sich zu uns setzte. Nun waren wir in seiner Gegenwart angekommen, dachte ich.
Er beugte sich zu mir rüber und sprach in kehligen Lauten, die ich nur entfernt als italienisch deuten konnte. Er merkte dies und warf unzusammenhängend einzelne englische Begriffe dazwischen. Er erinnerte mich an diesem Abend entfernt an einen dieser amerikanischen Bluesmänner. Ich gab es irgendwann auf ihn zu verstehen und wollte mich wieder meinem Rotwein und der österreichischen Studentin neben mir widmen, als der italienische Dozent sich neben ihn setzte. Roberto merkte sofort, dass er es mit einem besseren Gesprächspartner zu tun hatte. Ich lauschte ihren Stimmen und war überrascht, als sie plötzlich beide in ein schallendes Gelächter ausbrachen.
Für einen kurzen Moment fühlte ich mich wieder wie am ersten Tag in Paolo Pini. Mein Blick schwenkte fragend zwischen den Beiden hin und her. Mit einem wissenden Lächeln erklärte Professor Massimo: „Roberto hat mir gerade erzählt, wie gut sein Leben eigentlich angefangen hatte und wie gut die Voraussetzungen für die Zukunft waren und schloss mit etwas ähnlichem wie: und nun schau wo ich gelandet bin.“
Ich suchte nach Worten in meiner eigenen Sprache, die diese Entwicklung in ein erfrischendes Lachen münden lassen könnten.
Selten habe ich die Gegenwart so dominant empfunden, wie im Innern dieser Mauer. Statt meine Aufgabe zu erfüllen, etwas von mir hier zu lassen, würde es mir nur möglich sein, einen Teil von Paolo Pini mitzunehmen. Es war irgendwie nicht möglich mir Gedanken über die Zukunft zu machen, aber das war nicht mehr wichtig.