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Papa strebt zum Erdengott
Papa,
Post von dir.
Als deine Tochter antworte ich folgendes:
Du ermahnst meine nonkonforme Lebensweise. Aber deine Worte erschrecken mich nicht mehr. Sie sind Fratzen auf Chlorpapier. Die schreien, und heben sich mit magischer Gruselkraft aus der Erkenntnis, dass das, was in Schwimmbädern Augenweiß in Augenrot umfärbt, zur Beschreibung deiner väterlichen Worte bestens geeignet ist.
Chlor unterstreicht deinen Charakter. Das ökotoxische Element in dir. Chlor desinfiziert Flusslandschaften des Anthropozäns bis in die letzte Pfahlwurzel einer Sonnenblume und du, du großer Mann mit großer Nase, schickst noch Postkarten aus Grünidyll und Graskleinod und sagst: „Schau, was ich erreicht habe. Schau. Jetzt schau doch mal! Na-tur!“ Die Kinder mit drei Beinen und die Mütter mit rotem Schaum und die nachtaktiven Spinnentierchen sind deine Werke. Inspiriert von Papa.
In der Europäischen Union ist Chlorpapier verboten. Für dich bestimmt nicht. Für dich ist das Papier das, was du hast. Deine Fingerchen umgehen Verbote unabsichtlich. Schöpfen sie Papier, wird es gechlortes sein. Wärst du eine Fee, du würdest die Wünsche für dich behalten.
Ich kenne deine Kontrollsucht. Sucht, den Orbit aller Haupt- und Nebenplaneten zu kontrollieren. Aus deinen süßen Keplerschen Gleichungen ziehst du eine Befriedigung á la Maslow on the top (könnte ein Cocktail sein, die Orangenscheibe hat sich als Cocktailzutat selbst verwirklicht). Du prognostizierst das Z aus dem A. Du bestimmst, wer gehorcht. Wo du warst, musste Mama sitzen. Und stehen. Und liegen. Und einen Sonnengruß choreographieren.
Zur Sprache deines Briefes: Deine Semantik, ja gut, minimalinvasive Pädagogik per Buchstabensatz. Du hoffst, mich in die richtige Bahn zu lenken (obwohl ich als Reisemittel die Sommerrodelbahn bevorzuge, da lenkt der Berg). Per literarischer Pharmazie. Minimalinvasiv, ohne Schäden nach außen. Eine Wirkung unter meiner blassen Mädchenhaut zu entfalten. Im Gewebe Moleküle zu berühren, Nerven zu täuben und den Willen zur Macht aus evolutionärer Glut zu fachen, aus deiner Chromosomenhälfte, natürlich. Deiner Ansicht nach ist das: Die Mannkraft eines Mannes, der den Speer ins Auge des Mammuts gerammt hätte, wenn der Mann mit Speer seine Mannkraft in einer Landschaft der Mammutakkumulation gespürt hätte. Aber du lebst ja - jetzt. Und nicht – damals.
Erinnerst du dich an meinen Namen aus Suppenbuchstaben auf dem Tellerrand? Im Vorschulalter? Mit Mama und dem Menschen namens Papa und der Terrasse in Hangneigung? Ja? In der Zehn-Zimmer-Wohnung am Weißen Hirsch, Linie Elf, Dresden, Ostelbien?
Ich habe ihn zerdrückt. Mit Silberlöffel. Meinen. Namen. Das, was auf Grabstein per Grabsteinmeißelmaschine für dreißig Friedhofsjahre eingemeißelt sein wird. Das habe ich: Zerdrückt (drücke auch die Spucke durch meine vorderen Zahnzwischenräume). Ich bevorzuge eh eine anonyme Beerdigung. Denn ich möchte einen priesterlichen und einen staatlichen Praktikanten bei der Beerdigung überraschen, mit dem Wunsch, die Anonymität nicht um dreißig deutsche Friedhofsjahre zu verzögern.
Papa,
die Vorstellung der elterlichen Sexualkinästhetik ist eine traurige Vorstellung, oft unscharf und von selbstschützendem Zensurnebel umhüllt, dass die Körperkonturen zweier (bei dir sicher: dutzender) Menschen zwischen Vorder- und Hinterngrund verwabern. Ich kann mir dich nackt detailliert vorstellen. Auch den Intimbereich, den du perfekt wäschst (wie es eine ordentliche Altenpflegekraft in der Altenpflegeschule erlernt, Vorhaut und so) und mit einem testosteron-suggerierenden Aromastoff versiehst. Créme der Männlichkeit. Reizstoff von Alpha Alpha. Du bist der Moschus im Farn. Und zwischen deinen Achseln bebt das Brustbein, behaart, dass jedes fleischreiche Raubtier vor Todesangst einen akuten Herzstillstand erleidet, Nullblut, Hypoxie, rapide Nekrose, Atrophie der Seele.
Papa,
ich wollte immer die kleine böse Schwester Pippi Langstrumpfs sein. Die mit dem Kettensägeschein im Schwedenwald und der Option, Forstfichten in Handelsholz umzuforsten. Ich mag instrumentelle Aggression. Ich mag die Macht der Dosierung. Das Bewusstsein über die limbischen Systeme. Ich mag Kontrolle über Süchte. Die Hinwendung einer Identität zur Sucht. Sich den schwarzen Rock auf Nabelhöhe ziehen und Bewusstsein sagen. Sagen und glauben. Mein Reizstoff ist der Konjunktiv der fernen Vision eines sozialkonformen Junkies. Meine Reaktion nicht nett. Ist. Halt. So.
Papa,
tja, dein Zustand ist palliativ und delikat. Ich drücke es so aus: Wäre ich Wohnbereichsleiterin eines Standard-Altenpflegeheimes einer Standard-Stadt mit standardmäßigem Rücken-, Psycho- und Hautleiden, ich würde dir die hübscheste Altenpflegeazubine der Standardpflegeschule schicken. Mäeutisch geschult. Vermögen von Empathie. Ansprüche des Sozialen. Trieb des Idealismus (und nicht Not eines miesen Oberschulabschlusses). Ohne heile Gott und heile Mensch und "Alles wird gut" sondern Akzeptanz des Realen. Sie wird deine weißen Händchen halten, die mal spannen, mal schlaffen, dir das Morphin unter Fachkraftaufsicht spritzen. Die Atmung flacht zu einem fernen, fernen Flugzeughorizont ab. Du wirst ein feines Wesen unter weißen Laken werden. Ein Gewebe und ein Knochen. Eine biographische Flocke, die gefallen ist. Schnee und Nebel.
Aber ich bin eine Tochter.
Ich werde also zu dir fahren. Ich werde sehen, was eine langsame Pulslinie zu bedeuten hat. Dein Atem wird nach Harnstoff riechen und die Ärzte werden das Händchendrücken an die hübscheste Azubine der Standardstadt delegieren. Die hübscheste Azubine wird den schwarzen Rock auf Kniehöhe ziehen, deine eigene Hand zu deiner eigenen Hand formen. Sie wird in einen Abgrund der Hoffnung blicken, an einem blöden Ort unter medizinisch-technischer Aufsicht einen zentralen Frieden geschlossen zu haben. Amen.