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Parallele Geschichten
Es gibt ein Buch, das mich gefangen nimmt, mich in den Bann zieht, das ich nicht beiseite legen konnte, bis ich die ganze Geschichte verschlungen hatte, um atemlos aus einer Fülle grotesker Abenteuer in die Realität zurückzukehren, wo ich mir nach dem ersten Mal sofort vornahm, es wieder zu lesen. Ich werde immer wieder danach greifen und selig mit der Erzählung mitleben, wie es sonst nur Kinder bei ihren ersten Leseerlebnissen tun.
Leider ist es kein gutes Buch: Alle Protagonisten sind Klischeefiguren und die Handlung stellenweise so gewaltsam an den Haaren herbeigezogen, dass einem schlecht werden könnte. Aber man nimmt der Autorin alles ab und freut sich sogar, wenn sie unsagbar oberflächlich ist und es nicht merkt, wenn Offiziere dummen Wäschermädeln Versprechungen machen und der Held mit einer Mischung aus Wagemut, schierer Dummheit und guten Manieren in der Großen Gesellschaft glänzt.
Ich heiße Manfred Schmidt und arbeite als Assistent am Institut für Literaturwissenschaft. Bei meinem Rigorosum habe ich den Profs Interpretationen zu Bibelstellen um die Ohren gehauen, dass ihnen Hören und Sehen vergangen ist. So habe ich nachgewiesen, dass der Topos des Glaubens, wie er uns im Markusevangelium begegnet, ein Konzept des Unbewussten voraussetzt, wie es erst tausendneunhundert Jahre später wieder bei Freud in Erscheinung tritt - in der Guten Alten Zeit, in der dieses seltsame Buch spielt, das ich bei Recherchen in der Universitätsbibliothek gefunden habe. Bitte denken Sie jetzt nicht: ein abgehobener Intellektueller! Ich bin relativ normal und trinke gerne ein Bier in netter Gesellschaft und gehe auf den Fußballplatz. Nur habe ich eben diese Vorliebe für Romane.
In diesem ganz speziellen Roman ist die Hauptfigur, der junge Kavallerieleutnant Johann Beimpold, der auch trinkt und spielt aber sich noch viel lieber in Theatern und Kaffeehäusern herumtreibt und lauter Dinge tut, die nicht nur den Kathis und Mizzis die Schamesröte ins Gesicht treiben. Man kennt das noch aus alten Filmen: Männer mit schnarrenden Stimmen machen den Mädels plumpe Komplimente: "Wie bezaubernd Sie heut wieder aussehen, mein Fräulein!" und so weiter. Leutnant Beimpold kann sich nicht nur viel, sondern offenbar alles herausnehmen, wenn der in seiner geschniegelten Uniform durch den Prater streift und sich den Schnurrbart zwirbelt, weil ihm ein ganz besonders hübsches Mädel ins Auge fällt.
Ich lese gerade zum dritten oder vierten Mal, wie er im Kaffeehaus die junge Burgschauspielerin Lola Ingrisch sieht. Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, geht er unter den Blicken der Schachspieler und Zeitungsleser zu ihr und sagt schmeichlerisch: "Meine Gnädigste, ich kam nicht umhin, Ihren Auftritt in Shakespeares "Sommernachtstraum" zu erleben und versichere Sie, dass Sie einen ungeheuren Eindruck bei mir hinterlassen haben."
Dann schlägt er die Absätze zusammen und küsst ihre Hand: "Sie würden mir die größte Freude machen, wenn Sie mir gestatten würden, an Ihrem Tisch Platz zu nehmen."
Jetzt endlich stellt er sich vor: "Johann Beimpold, Kavallerieleutnant bei den Deutschmeistern, zu Ihren Diensten!"
Anstatt nun vor Scham im Boden zu versinken oder den plumpen Annäherungsversuch abzuweisen, säuselt die so Angesprochene: "Aber gehn's, Herr Leutnant! Ich wüsste nicht, womit ich soviel Verehrung verdient hätte. Setzen Sie sich halt her, wenn es Ihnen Freude macht."
Ich stelle mir die Szene bildlich vor: Die schmucke Offiziersuniform, Schnurrbartspitzen, die beim Handkuss über weißen Fingern in der Kaffeehausluft zittern. Die Szene geht weiter mit einer nahezu endlosen Folge von hanebüchenen Komplimenten. Ich kann nicht mehr! Ich muss laut lachen. Die Leute schauen her. Auch die Blondine, die immer wieder an einem der Nebentische sitzt. Nicht gut! Sie sieht wirklich nett aus, aber mir ist noch nicht eingefallen, wie ich mit ihr ins Gespräch kommen könnte. In meiner Realität ist das doch alles ein wenig anders als in Beimpolds Welt. Sie schaut noch immer her. Ich schaffe es wieder einmal nicht, dem spöttischen Blick aus ihren großen Augen standzuhalten.
Am Abend sitze ich in meinem 15-Quadratmeter-WG-Zimmer gehe auf die Jagd nach Fakten. Kubikmeterweise altes Papier in Regalen beruhigt mich. Meine Mitbewohner lästern sicher wieder über ihren Fertiggerichten, wenn ich mich den ganzen Abend nicht sehen lasse. An diesem Abend lohnt es sich besonders, nach dem Essen nicht mit ihnen Bier zu trinken, sondern mit meinem vorsintflutlichen analogen Modem im Internet zu surfen. An diesem Abend entdecke ich, dass die Autorin des seltsamsten aller Bücher noch immer unter den Lebenden weilt. Sie lebt in dieser Stadt, kaum fünfzehn Minuten zu Fuß von hier entfernt.
Irgendwann in den nächsten Tagen rufe ich bei ihr an. Sie heißt Rudolfine Burger: Eine feine, dominante Stimme am Telefon. Eine Dame. Ich muss alles zweimal oder dreimal sagen, bis sie mich versteht. Scheint ein wenig schwerhörig zu sein, die Gute.
Dann der Besuch: Ich wundere mich über die kleine alte Frau, die so zerbrechlich wirkt und im vierten Stock wohnt, ohne Fahrstuhl. An den Wänden der Küche hängen Fotos: "Mein erster Mann ist im Krieg gefallen. Erst viel später habe ich ihn kennengelernt, meinen Papa. Wir waren vierzig Jahre verheiratet. Viele gute Jahre."
Sie muss Anfang zwanzig gewesen sein, als sie ihr Buch geschrieben hat. Ich sage ihr das und sofort wirkt sie größer. Blaue Augen wie bemaltes Porzellan tasten mich ab.
"Ich war kurz vor dem großen Durchbruch, als sie schlimme Zeit kam: Wirtschaftskrise und Bürgerkrieg. Mein Verleger ist pleite gegangen. Ich habe als Näherin gearbeitet, um die Familie durchzubringen. Mein erster Mann hat ja nie verstanden, dass das Schreiben meine Leidenschaft war."
Meine Erzählungen von meiner Stelle am Institut für Literaturwissenschaft nimmt sie skeptisch und mit kaum unterdrückter Verachtung zur Kenntnis. Ganz ähnlich habe ich reagiert, als ich die ersten Seiten ihres Buches las. Wir sind eben Menschen verschiedener Zeitalter. Sie eine Künstlerin, die vor vielen Jahren fast Erfolg gehabt hätte und ich ... Ich weiß nicht, was ich bin.
Es ist dieses Bild von Leutnant Beimpold, der an Lola Ingrischs Tisch geht, das mich die ganze Zeit beschäftigt. Ich muss immer daran denken. Wie spricht man Frauen an, ohne sich etwas zu vergeben? Wenn sie einen Zurückweisen, ist alles vorbei und es ist so leicht, nein zu sagen. Diesem Beimpold scheint das nie zu passieren. Ich sitze wieder im Café. Auch diesmal ist die Blondine mit den großen Augen an einem der Nebentische. Ich beobachte sie aus den Augenwinkeln wie sie in einem Buch liest, einen Schluck von ihrer Melange nimmt, mit ihrem Handy herumspielt. Zum Teufel, das kann es doch nicht sein!
Dann passiert etwas Unglaubliches: Ich stehe auf, gehe zu ihr und frage: "Ist bei Dir noch frei?" Sie lächelt: "Aber klar!"