Paria
>> Du lächelst ja? <<, sagte Jason, der sich nahe an seine sterbende Tochter gelehnt hatte.
>> Warum lächelst du denn? <<, fügte er noch hinzu.
Er war in diesem Augenblick nicht fähig, das freundliche Gesicht seiner Tochter zu begreifen. Seit Liesbeth aus dem Digiheaven ausgeloggt wurde, damit ihre Krankheit offline behandelt werden konnte, hatte Jason den Moment ihres Ablebens als ständigen Begleiter mit sich geführt. In den Wochen ihres langsamen Schwindens, hatte er unzählige Iterationen dieses Moments durchgespielt. Das lächelnde Gesicht kam in keiner Version vor, die er sich hatte vorstellen können.
>> Ich bin glücklich. <<, antwortete sie mit einer leisen zerbrochenen Stimme. Jason konnte darauf nicht reagieren.
>> Ich bin glücklich wegen Jacob. <<
>> Wer ist das denn? <<, fragte Jason.
>> Ein Junge zwei Zimmer weiter. Er hatte eine Operation vor sich und große Angst davor. Also bin ich zu ihm als ich noch laufen konnte und habe ihn getröstet. Danach hat er gelächelt. <<
>> Und darum bist du jetzt glücklich? <<
Liesbeth konnte darauf nicht mehr antworten. Die Wölbung ihrer Brust senkte sich zusammen mit dem Abflachen ihrer Herzlinie auf dem Display neben ihr. Die Medibots stellten ihre Bemühungen sie zu retten nach wenigen Minuten ein. Sie war fort.
Von seinem Wohnmodul aus hatte Jason Perditus einen offenen Blick auf den grünen Algenozean, der die Hälfte des Erdballs bedeckte. Zwischen ihm und dem grünen, Kohlenstoffdioxid schluckenden Nirgendwo ragten noch viele Wabentower empor. In ihnen lagen die Menschen, der Erde in ihren Kapseln, lebten in ihren Avataren im Digiheaven. Jason war schon mehrere Monate lang nicht mehr online. Er saß auf seinem Bett und blickte zwischen den Towern hindurch auf den Ozean. Dieser letzte Moment mit seiner Tochter hatte eine Allianz mit der Trauer des Vaters geschlossen. Beide zusammen machten ihn träge, fast energielos. Seine Trauer war immens. Immerzu musste er an ihr Lächeln denken. Er verstand es nicht.
Der Signalton seiner Modultür riss ihn aus seinen Gedanken. Jemand hatte geklingelt. >> Öffnen. <<, sagte er. Die Tür schwang auf und drei Männer traten hinein. Der Besuch war angekündigt, darum machte sich Jason nicht die Mühe zu erfragen, wer da gerade eintrat. Zwei der Männer blieben an der Tür, der Dritte setzte sich ungefragt zu Jason an den Esstisch. Er blickte Jason seitlich an. Sein lila Cowboyhut aus Myzelien wirkte zu groß für seinen Kopf.
>> M. Perditus, mein Name ist Custaf. Ich komme von der D.I.S.C. <<
>> Das weiß ich. Ich habe das Memo Ihrer Kollegen gelesen. <<
>> Das war kein Memo M. Perditus, das war eine Aufforderung, eine Mahnung. <<
>> Muss mir entgangen sein. <<, entgegnete Jason monoton.
>> M. Perditus, niemand von uns ist gerne hier. Wir alle wären viel lieber wieder online um uns um angenehmere Dinge zu kümmern. Sie haben auf unsere Mahnung nicht reagiert und das ist ein Problem. Haben Sie das verstanden? <<
>> Sagen Sie mir jetzt das das C im Namen ihrer Einheit für Consequences steht? <<
>> Das C steht für Corp und das wissen Sie auch. <<, entfuhr es einem der Männer an der Tür.
>> Vielleicht geht ihr beide Mal kurz raus. <<, sagte Custaf zu diesem Mann, woraufhin er und sein Partner das Modul verließen.
>> Sehen Sie, was Sie hier verursachen? <<
>> Steht das I in Ihrem Abteilungsnamen vielleicht für Instabil? <<, sagte Jason.
>> Hören Sie, muss ich Ihnen wirklich sagen, dass wir nicht zulassen können das einzelne Menschen einfach so offline rumlaufen können. <<
>> Ich werde mich nicht an irgendwelchen Kabinen oder Menschen vergehen. <<
>> Das Risiko geht die Gesellschaft aber nicht ein. Die Energie dieses Planeten wird für Digiheaven gebraucht und kann nicht weltweit für Wachdronen eingesetzt werden. Das wissen Sie auch. Wie auch immer. Wir werden Sie für gemeinnützige Arbeiten einsetzen. Dabei werden wir Ihre Ports tracken um zu wissen wo sie sich aufhalten. <<
>> Das können Sie nicht einfach so machen? <<
>> Nein, das wäre illegal. Aber als gemeinnützige Pflegekraft haben Sie Schutzbefohlene. Somit greift eine Sicherheitsdirektive. <<
Custaf stand auf und ging zur Tür.
>> Sie erhalten ein Memo darüber, wo sie sich morgen melden sollen. Fahren Sie dorthin, sonst muss ich leider wieder herkommen. Diese Verpflichtungen sowie das Tracking erlöschen, sobald sie wieder dauerhaft online sind. <<
Bevor er das Wohnmodul verließ, wollte Jason noch etwas von ihm wissen.
>> Gehört es eigentlich zur Uniform eines hochrangigen Agenten des Digi Inhabitant Safety Corps so komische Hüte zu tragen? <<
>> Mein Avatar hat auch so einen. Was soll ich sagen? Wir tragen alle was mit uns herum M. Perditus. Aber das wissen so komische Typen wie Sie ja schließlich auch. <<
In dieser Nacht träumte Jason sehr schlecht. Er sah das Krankenzimmer von Liesbeth vor sich. Ein großer Androidenarm ragte aus der Wand und kontrollierte ständig die Schläuche am Bauch seiner Tochter. Diese Androidenarme gab es in jedem Krankenzimmer, die Schläuche an Liesbeth gab es nicht. Dieses Bild gehörte zu einem von Jasons Gedanken, den er hatte, als er zum ersten Mal den Hospitalkomplex betreten hatte. Die Medibots hatten Liesbeth zuvor offline genommen und sie eingewiesen. Jason trennte seine Verbindung zum Digiheaven zwei Stunden später. Das Bild, was er jetzt in diesem Traum sah, hatte er sich damals ausgemalt.
>> Warum weinst du denn? <<, fragte Jason als der Androidenarm den Blick auf Liesbeths Geschichte frei gab. Das Gesicht seiner Tochter war verheult und aufgequollen.
>> Hast du Schmerzen? Was ist denn los? <<
Er wollte zu ihr rennen aber irgendwie konnte er nicht. Die Traumlogik verbat es ihm. Stattdessen meldete sich ein Medibot neben ihm zu Wort.
>> Wissen Sie das denn nicht? Ihre Tochter weint vor Enttäuschung, weil ihr eigener Vater nicht gespürt hat, dass es ihr nicht gut geht. <<
Jason öffnete die Augen. Es war noch dunkel und die Traumbilder brannten noch in seinen Augen. Er hatte oft solche Träume. Als er sich mit dem Unterarm über das Gesicht wischte, weil ihn etwas juckte, bemerkte er, dass er im Schlaf geweint hatte.
Ein paar Stunden später saß Jason in seinem automatischen Speeder auf dem Weg zu seiner neuen Beschäftigung. Auf den Magnet-Ways gab es wenig bis kaum Verkehr, nur einige Transportbots und ein paar Drohnen bewegten sich durch die Wabenstadt. Der ebene grüne Ozean und die silber-weißen Wabentower muteten an, als wären sie einem Videospiel entsprungen, dessen Grafikeinstellungen auf die niedrigste Stufe geregelt worden waren. Der Transponder an der Armatur gab ein Signal, es war ein Videocall. Auf der Windschutzscheibe erstrahlte das Videodisplay. Das Gesicht von Jasons Freund Edward erschien – unverwechselbar mit den weißen Zähnen und den unnatürlich blonden Haaren.
>> Hallo Jay, wie geht’s dir denn? <<, sagte Edward
>> Mit dir hätte ich nicht mehr gerechnet. <<, antwortete Jason.
>> Ich hab deine ID schon ein paar Tage, aber bei mir ist gerade Hochbetreib. <<
Edward war einer der 1.5% der Weltbevölkerung, die noch regelmäßig offline arbeiteten. Zwar konnten Aufräum- und Wartungsarbeiten auch von AI-Systemen koordiniert werden, aber Politik und Gesellschaft hielten es für besser, wenn Menschen die Aufsicht behielten. Im Hintergrund sah Jason, wie Bäume auf mehreren Förderbändern transportiert wurden.
>> Es ist okay. <<, sagte Jason, >> Ich bin momentan sowieso nicht die beste Gesellschaft. <<
>> Wer wäre das wohl. Ich werde die Tage mal bei dir rumkommen. Aber erstmal muss hier alles fertig sein. Du weißt schon, Deadlines und so. <<
>> Was treibt ihr da gerade? <<
>> Anordnung von ganz oben. Die restlichen Waldbestände müssen weg. Der Platz wird für Generatoren gebraucht. Bei Energieknappheit ist Bürokratie plötzlich effizient. <<
>> Alle Bäume? Das ist traurig. <<
>> Es ist nun mal so. Wo keine Interessensverbände, da keine Tränen. <<
Edwards Gesicht verfinsterte sich ein wenig.
>> Ich freue mich darauf, dich mal in Real zu sehen. Das Ganze ist einfach furchtbar. <<
>> Danke dir. <<
>> Wenn du etwas brauchst, dann melde dich einfach okay? <<
Jo war gerade dabei die Wäsche in Polymer- und in Myzelienfaser zu sortieren, als Patrik den Raum betrat.
>> Warum müssen wir das per Hand machen? <<
Sie ignorierte ihn. Patrik hatte in einer Woche eine so enorme Anzahl an Beschwerden hervorgebracht, das die Bewohner des Off-Heims zeitweise dachten er wäre ein Heimbewohner und kein Pfleger.
>> Es gibt doch Drohnen oder Bots dafür. Warum machen wir dieses Zeug per Hand? <<
>> Weil es eine strenge Energiereglementierung gibt. Drohnen kosten zu viel Energie und die wird für Digiheaven gebraucht. <<
>> Da ist sie auch besser aufgehoben. <<
Jo stellte ihre Arbeit ein und blickte Patrik in die Augen.
>> Sag mal, bekommst du eigentlich mit, was du so erzählst? <<
Patrik schwieg kurz. Jo konnte sehen, dass er ein paar Emotionen herunterschlucken musste. Ohne ein weiteres Wort zu sagen ging er in den Pausenraum. Hoffentlich wird der neue Mitarbeiter freundlicher, dachte sich Jo.
Gegen Mittag fuhr ein Speeder auf einen Parkslot ein. Jo machte sich auf, den Neuling zu begrüßen. Innerlich machte sie sich auf jedwede Form von Widerstand gefasst. Normalerweise würden die Mitarbeiter von D.I.S.C. angewiesen, hier auszuhelfen. Kaum eine Person, die aus welchen Gründen auch immer offline war, kam freiwillig ins Off-Heim. Umso überraschter war Jo, als vor ihr ein sehr ruhiger Mann ausstieg. Seine Augen waren die wohl traurigsten, die Jo seit langem gesehen hatte.
>> Ich bin Jason. Ich soll mich hier melden. <<
>> Guten Tag. Ich bin Josefine aber Jo genügt. Ich würde keine Umwege eingehen und Sie gleich durch das Heim führen. Ist ihnen das recht? <<
Der Fremde nickte.
Jason wurde von Jo durch die gesamte Einrichtung geführt. Das Gebäude war einstöckig und bestand nur aus einem Gemeinschaftsmodul, vier Einzelmodulen, einer Küche und einer Art Büro, von dem aus Jo alles organisierte. Jason staunte nicht schlecht, als er Jos Schreibtisch sah. Die Geräte, die sie nutzte, waren alle notdürftig geflickt, da sie ihre Obsoleszenzzeit schon lange überschritten hatten. Einige Aufzeichnungen fertigte Jo sogar auf einem antiken Whiteboard an.
>> Ich weiß, wie das aussieht. <<, sagte sie, >> Aber wir müssen nehmen, was wir kriegen. Es gibt kaum noch Non-Digital-Items. <<
>> Ich weiß. Wo habt ihr das ganze Zeug her? <<
>> Als ich noch dauerhaft online war, hatte ich ein paar Kontakte zu Leuten, die sich mit Planetcleaning auskannten. Ich habe ein wenig gebettelt, dass wir ein Paar Sachen haben können. Diese Quellen sind aber auch versiegt. <<
Jason konnte über die Haut spüren, wie bedrückt Jo wurde, als sie diesen letzten Satz aussprach. Seine neue Chefin setzte sich auf einen Stuhl und blickte ihn von unten herauf an.
>> In dieser Einrichtung befinden sich sechs permanente Offliner. Menschen, die aufgrund von körperlichen Beeinträchtigungen oder Unverträglichkeiten keine Ports installieren lassen können. Abgesehen von mir ist niemand freiwillig hier.
>> Ich bin freiwillig hier <<, erwiderte Jason.
Als nächstes lernte Jason etwas über die Einwohner kennen. Die meisten blieben in ihren Räumen und verhielten sich dem Neuling gegenüber eher scheu. Nur ein Mädchen namens Judith war sehr an dem neuen Mitarbeiter mit dem traurigen Gesicht interessiert.
>> Kommst du von weit her? Warst du schon öfter offline? Wie ist es heute im Digiheaven? Wie sieht dein Avatar aus? Warum siehst du so traurig aus? <<
Während sie diese Fragen aus ihrem Mund wirbelte hielt sie einen kleinen Teddy an ihren Bauch gepresst.
>> Judith ist unsere jüngste Bewohnerin und auch die nervigste. <<, sagte Jo mit einem Lächeln im Gesicht.
>> Ich kann nicht mehr online gehen. 'N Stromschlag hat meinen Port gebraten <<, sie deutete mit dem Finger auf einen runde Narbe auf ihrem Hals.
>> Hat mir auch 'n ordentlichen Teil von meinem IQ weg gebrutzelt <<, fügte sie hinzu. Solche Unfälle führten normalerweise zum Tod oder aber die Opfer lebten danach nicht mehr lange. Judith war wohl eine 0.00001 Prozentige Ausnahme, dachte Jason.
>> Es tut mir sehr leid das dir das passiert ist. <<, sagte Jason.
>> Was soll ich dagegen schon machen? Hattest du auch so einen Unfall? Siehst du deswegen so traurig aus? <<
>> Judith. Das ist nicht höflich. <<, sagte Jo.
>> Das ist schon in Ordnung. <<, setzte Jason an, doch er konnte seinen Satz nicht beenden.
>> Komm, ich stell dir Daisy vor? <<, entfuhr es Judith. Sie packte Jason an der Hand und zerrte ihn in das Apartment ganz hinten im Flur.
Jason hatte noch nie so einen alten Menschen gesehen wie Daisy. Im Digiheaven gab es keine alternden Avatare und wenn, dann waren sie auf eine bestimmte Weise designt, so dass ihnen eine gewisse Makellosigkeit zu eigen war. Daisy konnte diese digitale Würde nicht vorweisen. Sie war klein und rundlich. Ihre Haut voller Falten. Die weißen Haare hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden und ihre Augen zeigten eine Müdigkeit, die Jason so noch nie bei jemandem wahrgenommen hatte. Sie saß einfach an einem Tisch und malte etwas mit ihrem Finger auf einem altmodischen Tablet herum.
>> Wie alt ist sie? <<, fragte Jason ungläubig.
>> Scans haben ergeben, dass sie ungefähr 80 sein muss. <<, sagte Jo, die inzwischen mit in der Tür stand.
>> Sie ist neben Jo meine beste Freundin. << sagte Judith und rannte zu Daisy an den Tisch. Sie umarmte die alte Frau herzlich, doch diese schien davon kaum Notiz zu nehmen.
>> Sie hatte nie Ports. <<, sagte Jo. >> Keiner weiß so recht, woher sie stammt. Sie hat auch noch nie gesprochen. Sie malt einfach nur den ganzen Tag lang <<
>> Sie sieht fast so traurig aus wie du! <<, rief Judith und setzte sich an den Tisch.
>> Warum werden ihr keine Ports installiert? <<, fragte Jason.
>> Die Medibots befürchten, dass sie zu alt ist, um einen Port zu bekommen. Ihr Gehirn könnte sich nicht an die Datenmengen anpassen. Außerdem bräuchten wir rechtlich ihre Zustimmung und die gibt sie ja nicht. <<
>> Eine sinnlose Regel. <<, sagte ein junger Mann, der gerade aus einem anderen Zimmer auf den Flur getreten war. >> Warum sollte überhaupt jemand das Recht haben offline sein zu dürfen? <<
>> Das ist Patrik. <<, sagte Jo. >> Ein Unfreiwilliger <<.
>> Oh ja, da hat sie wohl recht. Was hat man dir angelastet? <<. Die Frage ging an Jason.
>> Was meinst du? <<, erwiderte er.
>> Na was hast du angestellt? Welche Strafe musst du hier absitzen? <<
>> Patrik wurde beschuldigt mehrfach Identitätsdiebstahl begangen zu haben. Er hat fremde Avatare benutzt. Einer davon war der eines Admins und der wollte wohl eine besondere Strafe für ihn. <<
>> Ja, was ein schlimmes Verbrechen. <<, entgegnete Patrik.
>> Das ist widerlich. <<, sagte Jason
>> Das ist eine Grauzone. Wenn es die Mehrheit macht, sollte es kein Verbrechen mehr sein. Also, was hast du angestellt. Jo hat es doch sowieso in ihren Akten. <<
>> Ich bin freiwillig hier. <<, sagte Jason
>> Dann bist du der Dümmste von uns allen <<, sagte Patrik und ging.
In den darauffolgenden Tagen verbrachte Jason viel Zeit mit Judith und Daisy. Er lernte, wie Betten bezogen werden und wie der Wäscheautomat bedient werden musste. Weiterhin waren die Dienstpläne fast alle analog, sodass Jason sich an das Benutzen von Stiften gewöhnen musste. Es machte ihm nicht wirklich Spaß, aber dennoch war alles, was er tat, eine Art von Premiere. Eine Woche der ersten Male.
Die einzige Sache, die er nicht verstand, war der Umgang mit Daisy. Egal, was er auch versuchte, sie verharrte in ihrer Position und schwieg. Sie reagierte auf nichts. Das einzige, worin sie ihre Aufmerksamkeit investierte, war das Malen
>>Was malst du denn da die ganze Zeit? <<, fragte Jason erfolglos. Auf ihren Bildern erkannte er nur Striche, keine Formen, nicht einmal ein Pareidolieffekt stellte sich ein. Es waren einfach nur Striche. Jeden Tag musste er mit Daisy und Judith spazieren gehen. Da Daisy nicht mehr so gut laufen konnte, hakten sich beide bei ihr ein. Jason legte seinen Arm schützend um sie, als eine Windböe vom Algenozean auf die Küste prallte.
>> Ich werde aus ihr nicht schlau. << sagte Jason als er am vierten Tag mit Jo im Büro saß.
>> Wir alle nicht erwiderte sie. <<
>> Ich würde so gerne wissen, was in ihrem Kopf vorgeht. <<
>> Weißt du was? Ich würde gerne wissen, was in deinem Kopf vorgeht. <<, sagte Jo und beugte sich ein wenig vor.
>> Die meisten, also die wenigen, die sich hierher verirren sind nicht freiwillig hier. Sie beschweren sich und verletzen die anderen mit ihrer Wut, aber du nicht. Sie weigern sich oft Aufgaben zu übernehmen, aber du nicht. Sie haben nur den Wunsch wieder online zu gehen und dort weiter zu leben. Aber du nicht. <<
>> Ich habe diesen Himmel aus Nullen und Einsen so satt. <<, sagte Jason, >> Alles dort ist nur noch Ablenkung. Du hast Schmerzen im Knie? Kein Problem, wir pumpen die Schmerzmittel über die deine Kapsel in den Körper und du kannst weiter an E-Sport teilnehmen. Du bist traurig? Kein Problem, hier hast du einen Werbespott 'ne neue Fusion 'nen neuen Content über alten Content und eine neue Avatarfunktion. Es ist so viel geworden, dass ich nicht bemerkt habe, dass etwas nicht stimmt. <<
>> Darf ich fragen, was nicht gestimmt hat? <<, fragte Jo, doch Jason redete einfach weiter.
>> Als ich es dann wusste. Habe ich mich sehr oft dabei erwischt, wie ich mich ablenken lassen wollte. Wie ich nicht zurück schauen wollte. Dafür habe ich mich so geschämt. <<
Jo sollte nichts weiter aus ihm heraus bekommen.
Gegen Abend war Jason dabei, Daisy ins Bett zu bringen. Er half ihr beim Hinlegen und deckte sie anschließend sorgfältig zu. Danach schloss er die transparente Schlafkapsel. Judith sah ihm dabei zu. Er schauderte immer noch etwas, wenn er ihre Haut berührte. Er betrachtete sie noch einen Augenblick. Das Sonnenlicht fiel durch die Bioplastikeinlässe. Es war ein grelles Licht. Daisys Züge und Konturen verschmolzen mit der Schlafkapsel zu einer orangenen Skulptur. Als ob sie nie gelebt hätte.
>> Du siehst oft genau so traurig aus wie sie. <<, sagte Judith.
>> Du erwähnst das ganz schön oft. <<
>> Du gibst mir ja nie eine Antwort. <<
>> Du kannst eben keine Geduld aufbringen. <<
>> Du. Du. Du. Du. <<, quiekte Judith und lachte herzlich. Danach verließen sie Daisys Zimmer und gingen in das Aufenthaltsmodul.
>> Erzähl schon, wie sieht dein Avatar aus. <<, beharrte Judith.
>> Er war größer als ich. Hatte lange Elfenohren und kurze blaue Haare. <<
>> Das sieht gar nicht aus wie du. <<
>> Im Digiheaven sieht nichts aus wie es wirklich ist. <<
>> Ich würde es gerne mal sehen. <<
>> Aus der Ferne sieht alles besser aus, glaub mir. Es ist eine Welt voller Lügen. Hinter jedem Pic, hinter jedem Emoji, hinter jedem Pixel steckt eine Absicht. <<
>> Das verstehe ich nicht. <<, sagte Judith.
>> Natürlich verstehst du das nicht! <<, sagte Patrik. Seine Stimme klang deutlich zu laut für diese Tageszeit.
>> Wer noch nie da war, kann es ja auch nicht verstehen. <<
>> Sei nicht gemein. <<, sagte Judith.
>> Ich und gemein? Dein neuer Freund hier erzählt doch die gemeinen Sachen. Eine Welt voller Lügen, so ein Quatsch. Der Digiheaven ist die normale Welt und es ist komisch, dass Offliner überhaupt erlaubt sind. <<
>> Ein paar von uns können aber nicht… <<, begann Judith.
>> Ist doch egal. <<, fuhr ihr Patrik über den Mund, >> Ich hätte es trotzdem versucht. Ich hätte euch einen Port verpasst, ob ihr nun wollt oder nicht. Ob ihr dabei nun drauf geht oder nicht. Die Chance auf Glück darf man sich nicht ausreden lassen. Dieses Loch hier dürfte es gar nicht geben. <<
>> Vielleicht ist dein Glück nicht ihr Glück? <<, erwiderte Jason.
>> Woher willst du das denn wissen? Sie war schon so lange nicht mehr on, das sie schon total komisch geworden ist, genau wie Josephine. Digifremdheit nenne ich das. <<
Judith verließ den Raum, ihren Teddy stark gegen die Brust gepresst.
>> Du hättest deinen Port in den Gaumen gesetzt bekommen sollen. <<, sagte Jason.
>> Was? Wieso? <<
>> Mit so einem dicken Verbindungskabel im Rachen, hältst du vielleicht endlich mal dein Maul. <<
In dieser Nacht hatte Jason wieder schlechte Träume. Er wachte mehrfach in seiner Schlafkapsel durch einen Albtraum auf, schlief wieder ein und begann einen anderen Albtraum. Er sah Szenen aus der jüngeren Vergangenheit. Liesbeths Avatar, der sich immer langsamer durch das 3D-Areal des Digiheavens bewegte. Kurze Sprachaussetzer seiner Tochter. Er besuchte auch den Augenblick nochmal, an dem Liesbeth zum ersten Mal anmerkte, dass ihr unwohl sei. Sie klagte über Schwindel und Taubheit. Jason tat das damals ab. Er war zu sehr mit diversen Contents beschäftigt gewesen. Was es genau war, wusste er nicht mal mehr.
>> Deine Stimpacks übernehmen das schon. <<, hatte er damals gesagt.
Er öffnete das letzte Mal in dieser Nacht seine Augen. Nach diesem Traum schlief er nicht mehr ein. Mit kaltem Schweiß bedeckt stand er in seinem dunklen Wohnzimmer und blickte auf den Algenozean. Durch das Mondlicht schimmerte alles hellblau.
>> Du warst glücklich an deinem letzten Tag. Das hast du gesagt. <<, murmelte er leise in das Panorama hinaus.
Als Jo am Morgen erwachte, sollten sich die Ereignisse überschlagen. Als erstes erblickte sie mehrere Kontaktierungsversuche, eine Nachricht von Jason auf ihrem Com-Log-Armband. Während sie die Nachricht aufrief, bemerkte sie unruhige Aktivitäten im Flur. Die Bewohner waren wohl schon auf den Beinen und eilten hektisch durch den Flur.
>> Hallo Jo! Ich habe eine Idee. Leider konnte ich dich nicht erreichen, aber Judith ging ran. Ich habe einen Gefallen eingefordert und ich denke, das wird klappen. Judith hat mir ein wenig geholfen. Sie hat deinen Printer benutzt. Ich hab sie angeleitet, sei ihr also nicht böse, ja. Du wirst sehen, das muss einfach klappen. Bis gleich. <<
Jo wusste nicht, was sie mit dieser Nachricht anfangen sollte. Jasons Stimme klang aufgeregt, als ob ein großes Event anstehen würde. Jo zog sich ihren Overall an und ging in den Gang hinaus. Nun hörte sie plötzlich ein lautes Geräusch von draußen. Es war ein Motorengeräusch. Sie blickte nach oben und durch das Bioplastikdeckenlicht sah sie eine große Arbeiterdrohne wegfliegen.
>> Was geht denn hier vor? <<, sagte sie mehr zu sich selbst.
>> Guten Morgen Jo. <<, sagte Judith.
Sie stand am Ende des Ganges an der Tür zum Büromodul. Jo ging schnellen Schrittes in das Büro und sah eine Reihe von Analogkopien von Daisys Zeichnungen auf dem Boden.
>> Jason sagte ich soll ein paar von denen Ausdrucken. Er wollte sie sich ansehen. <<
>> Er war heute schon hier? <<
>> Ja er ist draußen. Ich soll Daisy wecken und zu den Parkslots bringen. <<
>> Warum denn das? <<
Jo blickte aus dem Fenster und sah einen Mann mit grellblonden Haaren in einen Speeder steigen. Er startete und verschwand. Judith war inzwischen aus dem Büromodul gelaufen. Einige der Mitbewohner hatten sich am Ausgang zu den Parkslots versammelt. Ein leises Raunen war zu hören. Jo setzte sich in Bewegung, um zu sehen, was da los war. Als sie am Ausgang ankam, erblickte sie Jason, der mit dem Rücken zu ihr stand.
>> Was hast du denn nur gemacht? <<, fragte sie ihn. Ohne ein Wort zu sagen drehte er sich zu Jo um und ging dann einen Schritt beiseite. Was Jo dann sah, ließ sie kurz erstarren.
Eine der Polymerbodenplatten war entfernt worden. Jason hatte veranlasst, dass in dem Boden darunter ein Baum gepflanzt wurde. Er war ungefähr drei Meter groß und hatte eine grüne und satte Krone. Die vielen Zweige fächerten das morgendliche Sonnenlicht. Ein Gitternetz aus hellen Farbtönen. Jo hatte schon mal Bilder von Bäumen gesehen, sogar digitale Nachbildungen, aber noch nie einen echten. Ein wehmütiges kleines Geräusch kam von der Tür her. Jason und Jo drehten sich um. Daisy stand zusammen mit Judith im Türrahmen.
Daisys Mund stand offen und ihre Augen hatte sie weit aufgerissen. Sie blickte direkt in die Baumkrone und fixierte die vielen mit Blättern bewachsenen Äste.
Mit langsamen Schritten trat sie hinaus auf den Hof und streckte eine ihrer Arme dem Baum entgegen. Langsam, unter großer Anstrengung, ging sie weiter auf den Baum zu. Alle anderen beobachteten sie schweigend. Weder Jo noch Judith hatten sie jemals so gesehen. Daisy setzte ihren Sehnsuchtsgang fort und blieb kurz vor dem Baum noch einmal stehen. Sie drehte sich zu den anderen um, als ob sie um eine Erlaubnis bitten würde. Ihre Augen glitzerten. Danach wandte sie sich wieder dem Baum zu und umarmte dessen Stamm. So verweilte sie einen Augenblick. Dann brach sie in Tränen aus. Es waren keine Trauer und auch keine Angst in ihrem Gesicht zu finden. Es war wie ein lange eingesperrter Schmerz, der durch ihre Tränen abfloss und verschwand.
Jo blickte sich um. Sie sah, wie Judith leise mitweinen musste. Sie hatte ihren Teddy fest vor das Gesicht gepresst. Ihr Schluchzen war dennoch zu hören. Dann sah sie zu Jason auf. Er wiederum blickte zurück zu Jo. Er lächelte ein stilles, tiefes, zufriedenes Lächeln. Er war glücklich.
Alle diese Leute standen im Halbkreis um diese alte Frau, von der niemand etwas wusste und die den letzten Baum der Erde umarmte.