Paris
Es war in Paris. In der Rue de Pomme fristeten fünfundzwanzig Waisen ihr erbärmliches und aussichtsloses Dasein in einer Stadt, die sich zu Weltruhm empor schwang und ihre Bürger tausendfach in einem jagenden Galopp verlor. Wenn sie schmerzhaft im Staub landeten, die hungrigen Münder voller Dreck, dann war das Ross Frankreich meist schon unerreichbar über alle Berge. Die Verlorenen sammelten sich zu Hauf in den verwinkelten Gassen des stetig wachsenden Körpers der Stadt, ganz am Schwanzende, versteht sich. Dort, wo sich diese Gefallenen der Stadt versammelten und sich dicht an dicht in ihren ärmlichen Behausungen drängten, dort frönten sich auch jeder nur denkbaren körperlichen Freude. Aus diesen kurzlebigen, in schmutzigen Ecken verlebten Freuden entstanden unzählige ungeliebte Kinder. Arme Seelen, die als ungewollte Leibesfrucht niemals in ihrem leben Liebe erfahren würden. Die Waisenhäuser füllten sich bis unter die Dächer, da war es nicht schade um die Armen Teufel, die wegen der katastrophalen hygienischen Zustände – Paris stank bestialisch- dem immerwährenden Hunger und Mangel an Liebe schon im Säuglings oder frühsten Kindesalter krepierten. Viel mehr hatten die toten Kinder, deren ausgemergelten und hinter der Entwicklung zurückgebliebenen Körper auf Karren zusammen mit den Greisen und von der Schwindsucht dahingerafften, oder im Wochenbett verstorbenen, Ermordetetn und Selbstmördern zum außerhalb der mauern gelegenen Armenfriedhof gekarrt wurden, das bessere Los gezogen, als die, die ihr kümmerliches Dasein auf dieser Welt, die nichts für sie übrig hatte, fristeten.
Das Waisenhaus der Madame Tempeliére in der Rue de Pomme war mit den fünfundzwanzig Kindern hoffnungslos überbelegt. Die ärmliche Hütte, die regelrecht eingeklemmt zwischen zwei mehrstöckigen Häusern als Unterschlupf für die verstoßenen Kinder diente, war nur eine von vielen.
Das Haus war nur ein Stockwerk hoch, es sah aus, als ducke es sich ängstlich vor der übermacht der unkontrolliert Auswüchse produzierenden Stadt.
Die Kinder, Jungen und Mädchen vom Kleinkind bis zum zwölften Lebensjahr, nannten diese Baracke ihr Heim. Und sie liebten es, wie jeder sein zu Hause liebte. Und sie liebten auch Madame Tempeliére, obwohl sie ihre Mündel mit schmerzhaften Züchtigungen erzog und hin und wieder eines seine kleine Dummheit der harten Strafe wegen nicht überlebte. Sie liebten diese bösartige Frau, weil alle Kinder jemanden zum lieben brauchten.
Die kleinen, dürren Körper drängten sich im Schlafsaal eng aneinander. Dicht an Dicht schliefen sie zu zweit, die kleineren zu dritt in altersschwachen, knarrenden Betten mit modrigen Matzatzen, aus denen das modrige Stroh hervorquoll. Der schwache Schein Madame Tempeliéres Lampe drang durch das Dunkel des Zimmers, und das fahle Licht warf gespenstische Schatten auf das hässliche Gesicht der Waisenmutter. „Und jetzt will ich keinen Mucks mehr von euch hören! Gute Nacht!“ grollte sie mit monotoner Stimme und schloss die Tür. Der Schlüssel knarrte in dem verrosteten Schloss, als Madame den Zwinger für die Nacht verschloss.
Die Kinder zogen ihre Decken enger um die kalten Körper und versuchten in den immer unruhigen und unerholsamen Schlaf zu sinken, der ihnen die schönste Zeit des Tages bescheren würde.
Zwischen dem Scharren, Schnaufen, Rascheln und Husten war ein trauriges Wimmern deutlich zu vernehmen. Sein Ursprung war ein etwa zwölfjähriger Junge, dessen blonder Haarschopf unter der Decke hervor sah, unter die er sich verkrochen hatte, um sich seiner Angst hinzugeben. In einem Bett am Rande des Zimmers, unter dem einzigen kleinen Fenster, durch das das blasse Mondlicht fiel und die schlafenden Kinder umfing, bebte Dennís Körper vor Schluchzern unter seiner Decke, denn es graute ihm vor dem morgigen Tag, da er das Waisenhaus würde verlassen müssen. Unaufhaltsam schritt die Jugend voran, und auch wenn er nicht wusste, wie viele Sommer er zählte, so war es doch mehr als sicher, dass er das zwölfte Lebensjahr erreicht hatte und nun nicht einen Tag länger das Recht hatte, in der Obhut der Madame zu weilen. Nach dem Morgengrauen würde das Leben im Fegefeuer zu einem leben in der Hölle für ihn werden. Er wusste es, er hatte andere gehen sehen und nur wenige Wochen später fand man sie mit aufgeschlitzter Kehle, verhungert oder sonst wie dahingerafft in einer dunklen Gasse oder aufgedunsen in der Seine treiben.
Dennís hatte bisher sicherlich kein schönes Leben gehabt, aber dennoch hatte er es irgendwie lieb gewonnen, vor allem die anderen Waisen in seinem Heim und in gewisser Weise sogar die gleichgültige Madame. Er wollte nicht von ihnen fortgerissen und hinaus in die tobenden Fluten der alles verschlingenden Stadt, in dieses lebenfressende Monstrum, geworfen werden um allein zu verrecken wie die wurmzerfressenen streunenden Hunde. Er fasste sich mit Mühe, kroch unter der Decke hervor und wandte sich seinem Bettnachbarn und engstem Freund zu. Dennís wischte sich die Tränen aus dem geröteten Gesicht. „Demiére“ begann er mit zittriger Flüsterstimme „Ich werde Morgen nicht gehen. Nicht freiwillig und nicht…“ er stockte und neue Tränen drängten sich ihm auf, die er mit Mühe unterdrückte. „Aber wie willst du es anstellen?“ fragte Demiére, der bereits wusste - mindestens aber ahnte-, welchen Entschluss sein verzweifelter Freund gefasst hatte. Dennís schürzte die Lippen und rückte näher an Demiére heran, damit er leiser sprechen und kein anderer etwas mitbekommen konnte. „Das Dach“ sagte er nüchtern „ich klettere durch das Fenster im ersten Stock und dann hinaus aufs Dach und dann…dann wird mich Madame morgen nicht vor die Tür setzen können.“ Demiére dachte kurz über die grausige Absicht seines Freundes nach, die seine ganze Verzweiflung zum Ausdruck brachte. Er wägte das Für und Wider ab, aber so sehr er sich auch bemühte, am Ende seiner Überlegungen stand stets der Tod im besseren Licht da. Im einen Falle etwas später, in naher Zukunft, noch nicht jetzt, aber doch als feststehende Größe. Im andern Falle hier und heute. Heute Nacht. Der erste Stock. Das Fenster. Das Dach. „Ich brauche deine Hilfe, Demiére. Du musst die Tür für mich öffnen, du bist der einzige, der das Schloss knacken kann.“ Dennís sprach seine Bitte langsam aus, so langsam, als ob etwas in ihm sagte, es ist noch nicht an der Zeit, jetzt noch nicht. Aber es war an der Zeit, und die Jungen setzten sich in ihrem Bett auf. Das Mondlicht tauchte die beiden Gestalten in einen silbrigen Glanz. Wie zwei Berge ragten sie aus der Menge der übrigen schlafenden Kinder heraus. „Ich komme mit dir“ sagte Demiére, als Dennís vor ihm stand „nimm mich mit aufs Dach. Ich habe schon lange kein Recht mehr hier zu sein. Dass Madame mich hier duldet und dich zu dieser verzweifelten Tat treibt ist nicht recht. Ich komme mit.“
„Du redest Unsinn Demiére, und das weißt du. Diesen Weg muss ich allein gehen, das ist meine Prüfung“ Demiére fasste seine Schulter.
„Wenn die Tür offen ist, werde auch ich meine Wege allein gehen müssen. Ich fürchte nur, das werde ich eher schlecht als recht fertig bringen, blind wie ich bin.“ Er lächelte schwach und wusste, dass alle weiteren Versuche, Dennís von seinem Vorhaben doch noch abzubringen nicht von Erfolg gekrönt sein würden. Also machten sich die beiden Jungen ans Werk. Denni´s führte den Blinden durch die Enge des Schlafsaales zu der verschlossenen Tür hin, wo dieser sich mit flinken Fingern und sensiblem Gehör mittels einer Haarnadel an das Knacken des alten Schlosses machte. Nach wenigen Augenblicken klackte es im Innern des Schlosses und die Tür öffnete sich mit einem leisen Knarren. Schweigend starrte Dennís auf den Flur hinaus, sein Freund starrte wie immer in die ihn umgebene Schwärze. „Leb wohl“ sagte der Blinde und versuchte seines Freundes Hand zu fassen. Er fand sie und drückte sie zum Abschied fest. „Leb wohl“ erwiderte Dennís und drückte Demiére etwas kühles, metallisches in die Hand. Dann wandte er sich zum Gehen und trat auf den Flur hinaus. Demiére harrte an der offenen Tür und lauschte den sich entfernenden Schritten. Die Treppe hinauf. Eine gefährliche Angelegenheit, weil im oberen Stockwerk Madames Schlafzimmer lag. Dann hörte er, wie ein Fenster aufgeschoben wurde und der Todeshungrige entschlossen vom morschen Sims auf das noch morschere, und unter der ungewohnten Last ächzende Dach empor kletterte. Dann wurde es still, bist auf die vielen unterschiedlichen gleichmäßigen Atemzüge der schlafenden Kinder in seinem Rücken. Die Stille wurde von einem dumpfen Schlag unterbrochen, dann kehrte sie zurück. Demiére umklammerte das Geschenk seines Freundes. „Leb wohl“ flüsterte er und ließ die Tür zurück ins Schloss fallen. Hinter ihm regte sich eines der Kinder in seinem Bett. „Ist er nach Hause gegangen?“ fragte eine noch ungeübte Kinderstimme müde lallend und Demiére bewegte sich in deren Richtung. Eine kleine Hand griff nach seiner und zog ihn hinunter aufs Bett. „Können wir auch nach Hause gehen?“ fragte das Mädchen schlaftrunken und legte ihren Kopf auf Demiéres Schoß. Er streichelte der Kleinen sanft über die weichen Haare und warmen Wangen „Irgendwann können wir alle nach Hause gehen. Irgendwann bekomm jeder von uns die Chance dazu“ zufrieden schmiegte das Mädchen sich an ihn und schlief von einer Sekunde auf die nächste wieder ein. Am nächsten Morgen würde sie sich nicht mehr daran erinnern, wach gewesen zu sein. Demiére saß noch lange an ihrem Bett und streichelte das von der Welt so ungeliebte Kind. Irgendwann übermannte ihn die Müdigkeit und er sank unruhig schlafend neben ihr zu Boden. Sein Bett war irgendwo in der Schwärze, die seine ganze Welt ausmachte, verschwunden. Es blieb leer und wurde kalt, so kalt, wie der leblose Körper, der im Morgengrauen vor dem Waisenhaus in der Rue de Pomme gefunden wurde.