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Parkbegegnungen
Sie sitzt schon lange auf der verwitterten Holzbank und ist bereits beim Feuilleton angelangt, als er den Waldpark erreicht. Der fröhlich kläffende Ali ist wie stets sein Begleiter. Intuitiv blickt sie von ihrer Lektüre auf und entdeckt ihn einige Sekunden, bevor er sie wahrnimmt. Sie nutzt diesen Vorsprung, um in einer einzigen Bewegung die Zeitung rasch zusammenzufalten, prüfend über die strenge Hochsteckfrisur zu fahren und ihren braunen Faltenrock glatt zu ziehen. Erwartungsvoll steht sie auf, als er um die letzte Ecke an der weiß blühenden Zierkirsche biegt und hebt zaghaft die Hand. Ali erreicht sie als erster. Der Collie springt begeistert an ihr hoch und sorgt beinahe dafür, dass ihre vor Aufregung schwankenden Beine einklappen und sie zurück auf die Bank sinkt. Sie lacht leise auf und krault das samtweiche Fell des Hundes. Ihren Blick hat sie scheu auf Alis Herrchen gerichtet, der sich ihr schnellen Schrittes nähert. Die Sonne lässt sein Haar silbern aussehen und nicht länger grau, sein Gesicht ist von der Bewegung erhitzt. Ein Kastanienblatt hat sich in seinem weinroten Pullover verfangen, dessen Ärmel er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hat. Sein Lächeln ist so groß, als wolle es sein gegerbtes Gesicht sprengen, ein breites Kleine-Jungen-Grinsen trotz seiner fünfundsechzig Jahre. Seine rechte Hand streckt sich ihr schon von weitem zur Begrüßung entgegen.
„Ich grüße Sie, Frau Hellmann.“
„Guten Tag. Lange nicht mehr gesehen“, entgegnet sie unsicher, erwidert seinen Händedruck und setzt sich. Sie rückt an das rechte Ende der Bank, um Platz für ihn zu schaffen und ihm außerdem die Bestimmung des Abstands zwischen ihnen zu überlassen. Die Strickjacke, die bisher neben ihr lag, nimmt sie auf ihren Schoss, so dass das Zittern ihrer Hände unter ihr verborgen bleibt. Ali und der Cockerspaniel Sherlock, der bisher erschöpft unter der Bank gedöst hat, begrüßen sich ohne die Zurückhaltung der beiden Menschen ausgelassen und tollen zusammen über die bunte Frühlingswiese.
Herr Marquardt seufzt erleichtert, stellt seinen verschlissenen Stoffbeutel nachlässig in das feuchte Moos und lehnt sich entspannt zurück.
„Ach“, beginnt er tief einatmend, und es scheint, als wolle er ein Gespräch anfangen. Nach einer kurzen Pause folgt aber nur ein „Schön, hier zu sein“. Sie nickt unmerklich und hofft, er meint nicht nur diesen Frühlingstag, die sorgfältig angelegten pinkfarbenen Tulpen links von ihnen, deren Zeit endlich gekommen ist. Er verschränkt die Hände hinter seinem Kopf und lässt seinen Blick schweifen, über den Park, die Wiesen, den Rhein. Der Anblick lässt ihn zufrieden summen. Nach einigen Minuten der Eintracht, in denen seine Ruhe langsam zu ihrer Entspannung beiträgt, holt er den alten Kamm aus seiner Hemdtasche und ordnet gewissenhaft die wenigen Haare auf seinem Kopf.
„Wir sind gerannt“, fügt er als Erklärung hinzu und grinst schelmisch. Sie lächelt amüsiert über seine Eitelkeit. Die ausladenden Kastanien spenden ihnen Schatten, das Licht wirft wechselnde Bilder auf die Bank.
Sie nimmt ihn wahr, die zwanzig Zentimeter Abstand zwischen ihnen, das von seiner Frau frisch gebügelte Hemd, die vom Schlamm bespritzten Halbschuhe. Auf der Wiese vor ihnen sammeln sich Tauben, die von Passanten mit Brotkrumen gefüttert werden. Ihre Augen fallen auf seine sorgfältig manikürten Fingernägel, deren Schmutzränder von der Gartenarbeit am Vormittag erzählen, besser als Worte es jemals könnten. Sie prägt sich jedes Detail ein, da sie weiß, dass es für lange Zeit reichen muss. Er schaut sie an, in seinen vor Lebendigkeit sprühenden Augen sieht sie die Antwort auf alle ihre nicht gestellten Fragen. Die, wie es ihm geht; die, was er so tut; die, ob er an sie gedacht hat. Vor allen Dingen, ob er an sie gedacht hat. Einen kleinen Moment, bevor Länge und Intensität des Blickes die beiden in Erklärungsnot gebracht hätten, richtet sie den ihren wieder nach vorne auf die Ball spielenden Kinder sowie Sherlock und Ali, die übermütig den Tauben hinterher jagen. Es ist alles beim Alten, spüren sie, ihre Gedanken, welche die des anderen immer noch fühlen, ohne dass es erforderlich wäre, sie in Laute zu pressen. Während der ersten Treffen, vor Jahren schon, da konnten sie es kaum erwarten, all die Worte loszuwerden, die lange in ihnen geschlafen hatten. Jetzt nicht mehr.
Er packt sein Brötchen aus, schält ihr ungebeten mit seinem Taschenmesser einen Apfel, schenkt ihr aus seiner Thermoskanne Jasmintee ein.
„Bald ist es Sommer.“
„Hm-hm.“
Wie erlösend, mal wieder seine Stimme zu hören. Immer dann, wenn sein Bild bereits blasser geworden ist und sie sich daran gewöhnt hat, ihre Tage ohne ihn zu bewerkstelligen, treffen sie wieder aufeinander. Sie beißt in den süßen Apfel aus seinem Garten und reicht ihm den Sportteil ihrer Zeitung herüber. Er holt seine Brille aus der Hemdtasche, poliert sie gründlich mit seinem Taschentuch, setzt sie auf die Nase und beginnt zu lesen. Leises Grunzen kommt über seine Lippen, kurze Kommentare zur gesellschaftlichen Situation, nachdem er sich von ihr auch den Politikteil hat geben lassen. Jedes Mal hat sie das Gefühl, dass er ihre Gedanken stibitzt, bevor er den Mund aufmacht. Ab und an kreuzt ein Jogger den sorgfältig geharkten Schotterweg.
Schließlich erheben sich beide. Frau Marquardt wartet mit dem Nachmittagskaffee, Jonas und Inga darauf, dass ihre Oma mit ihnen auf den Spielplatz geht. Herr Marquardt pfeift nach Ali, der angestürmt kommt, Sherlock direkt hinter ihm. Sie gehen noch ein paar Meter schweigend am Rhein entlang. Mit jedem Schritt schöpfen sie Kraft für den Alltag, für die nächsten Tage, Wochen, Monate, bis sie sich erneut im Waldpark finden werden. So manches Lächeln, das sich in den nächsten Tagen auf ihr Gesicht stehlen wird, wird seinen Ursprung in dieser einen Stunde haben. Und allein das Wissen, dass es einen Menschen gibt, der die Welt aus denselben Augen sieht, wird das Leben in ihr einfacher machen.
„Bis zum nächsten Mal“, sagt Herr Marquardt lächelnd, als sie die Lichtung erreichen, an der sich ihre Wege wie gewohnt trennen.
„Ja, bis zum nächsten Mal“, antwortet sie voller Zuversicht, dass es diese Wiederholung geben wird, und dann mutiger: „Ich freu mich.“ Sie reicht ihm zum Abschied die Hand, dreht sich um und geht. Nur Ali und Sherlock protestieren laut bellend und können es nicht fassen.