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Pauls Fragen
Marie biegt in ihrem Fiat Panda um die letzte Kurve, und mit dem durch die Wolken brechenden Sonnenlicht reißt der innere Vorhang des Vergessens.
Schwarz. Wann immer ich versuchte, meine Kindheit zu erinnern, versank ich in undurchdringlicher Dunkelheit. Es war mir lange nicht aufgefallen, ich gehörte nie zu den Menschen, die in der Vergangeheit leben, doch dann kam Paul, und mit ihm kamen die Fragen. Er stöberte arglos in den wenigen Erinnerungskisten, die ich besaß, zog Spielzeug und Bücher hervor und hielt sie mir entgegen. Und je knapper meine Antworten ausfielen, desto tiefer bohrte er nach. Er wurde mir lästig und ich versuchte, ihn loszuwerden, doch er blieb hartnäckig, beharrte darauf, dass ich wissen müsse, wer ich sei und glaubte fest, seine Fragen könnten mir helfen. Jeden anderen hätte ich hinausgeworfen, aber nicht Paul.
Paul war neun Jahre alt, als wir uns kennenlernten, der Sohn einer Nachbarin in dem Mietshaus, in das ich gerade gezogen war. Nicht die schönste Gegend, aber das war mir egal. Ich hatte kaum Geld und brauchte ein Dach über dem Kopf, da kam mir diese Wohnung gerade recht.
Als ich einzog – nur ein geliehener Kombi voller Sachen, keine Möbel, kein überflüssiger Schnickschnack – stand Paul abwartend im Treppenhaus und sprach kein Wort, aber seine fragenden Blicke folgten mir überall hin. Am Ende waren noch zwei alte, ramponierte Kisten übrig, und Paul trug wortlos und ungefragt eine von ihnen zu mir hoch wie einen kostbaren Schatz.
„Danke. Magst du eine Limo?“
„Ist sie kalt?“
Ich schüttelte bedauernd den Kopf, der Kühlschrank funktionierte noch nicht, aber er zuckte bloß die Achseln und nahm sie trotzdem. Als er zwei lange, durstige Kinderschlucke getrunken hatte, deutete er auf die Kiste, die er getragen hatte.
„Was ist da drin?“ Sein wachsamer Blick ruhte auf mir.
Ich machte eine abwertende Geste. „Nichts Besonderes, nur alter Kram.“
„M-hm.“ Er glaubte mir nicht und ließ es mich spüren. Dieses Kind war mir von Sekunde zu Sekunde unheimlicher.
„Hör zu, ich muss jetzt hier auspacken. Danke für deine Hilfe, und besuch mich mal wieder.“ Es war ein Rauswurf, und er stand achselzuckend auf.
„Okay.“
Er ging zur Tür. Dann, sich noch einmal umdrehend, als fiele ihm plötzlich noch etwas Wichtiges ein: „Bei den paar Sachen, die du hast, ist es schon komisch, dass du zwei Kisten mit unwichtigem Kram mit dir herumträgst.“
Ein paar Tage später stand er im Hof, als ich nach Hause kam. Er löste sich von der Mauer und folgte mir wie selbstverständlich. Ich fragte mich kurz, wie lange er gewartet haben mochte, dann war es mir egal. Er war nicht mein Kind. Oben angekommen nickte ich auffordernd mit dem Kopf, und er kam mit herein, setzte sich auf eine der Bananenkisten, die als Stühle herumstanden und sah sich um. Ich hatte mich in den Kartons eingerichtet, sie standen offen als Regale herum oder verschlossen als Sitzgelegenheiten. Mein Bett war noch immer eine Isomatte mit Schlafsack. Er sah sich suchend um, entdeckte dann meine Erinnerungskisten in der hintersten Ecke des Raumes.
„Darf ich?“, fragte er und ging hinüber. Ich nickte, obwohl ich den Kopf schütteln wollte. Ich kannte ihn nicht, er war ein mir fremdes Kind, das in meine Vergangenheit eindringen wollte. Er öffnete den Deckel, zog ein Buch heraus. Pu der Bär, völlig zerfleddert. Vorsichtig strich er mit einem Finger über den Einband, legte die zerrissenen Kanten des Schutzumschlages aneinander und sah das Buch erfürchtig an. Fragend hielt er es dann in die Höhe. Ich starrte es an wie etwas Fremdes. Dunkel. Keine Erinnerungen, die geweckt wurden. Mir wurde kalt, aber ich wollte Paul nicht zeigen, was in mir vorging. Ich zuckte die Achseln und tat gleichgültig. Er griff wieder in die Kiste, eine abgeliebte Puppe. Unerbittlich hielt er sie mir entgegen. Ich schüttelte den Kopf, drehte mich zum Fenster.
Draußen spielte die Sonne mit den Mauervorsprüngen der Fassade, die Blätter der verkrüppelten Birke wiegten sich leise im Wind. Eine Idylle, wie sie im Buche steht, trügerisch friedlich. Ich schluckte hart. Pauls Hand schob sich in meine, mit großen braunen Augen sah er mich an. Wo waren meine Erinnerungen, wo meine Kindheit geblieben? Und wann waren sie unbemerkt von mir im Dunkel abgetaucht?
„Was ist das alles?“
„Ich weiß es nicht.“
„Du hast zwei Kisten mit Dingen, die du nicht kennst?“
„Nein. Ich habe zwei Kisten mit Dingen, an die ich mich nicht erinnern kann.“
In Pauls Gesicht arbeitete es. Dann leuchteten seine Augen auf, und er zog mich mit sich. Vor der offenen Kiste blieben wir stehen.
„Ich hab eine Idee. Ich denke mir einfach Geschichten dazu aus, und du sagst mir, ob du dich erinnerst. Vielleicht kommen wir so dahinter, was das alles ist.“
Ein Teil von mir wollte weglaufen, ein anderer stupste ganz vorsichtig meine Erinnerung an, und ein dritter sagte mir sehr deutlich, dass ich mitspielen sollte, wenn ich endlich wisen wollte, wer ich war. Hin und hergerissen ging ich zwischen Kisten, Fenster und Küchentür auf und ab, beobachtet von Paul.
„Okay, aber erst mache ich uns einen Tee.“
Beide mit einem Teebecher ausgerüstet saßen wir uns auf dem Fußboden gegenüber, zwischen uns meine vergessenen Erinnerungen und ein Teller Kekse. Paul nahm meine Puppe und betrachtete sie von allen Seiten wie ein seltenes Insekt, das ihm zufällig über seine Hand kroch.
„Wie heißt du?“, sprach er sie an.
„Mirabell“, antwortete er sofort für sie mit piepsender Stimme. Ich war nur noch Zuschauerin in einem Schauspiel, das mein Leben werden sollte und doch nicht sein konnte.
„Du bist die Puppe Mirabell, die aus einem Samenkorn wuchs?“
„Ja. Marie hat mich jeden Tag gegossen, hat das Unkraut gezupft und die Erde gelockert, so dass ich wachsen und gedeihen konnte.“
Astrid Lindgren. Ich kannte die Geschichte, es war eine meiner liebsten gewesen, ich hatte sie wieder und wieder hören wollen – aber wer hatte sie mir vorgelesen? Der Vorhang, der sich kurz um wenige Millimeter gehoben hatte, fiel wieder und senkte die bleierne Dunkelheit über meine Erinnerungen. Ich sah auf und Tränen rannen über mein Gesicht.
„Du erinnerst dich.“ Paul fragte nicht, er stellte fest. Ich schüttelte den Kopf, nickte, schüttelte ihn dann wieder, gab dann achselzuckend auf.
„Das Märchen. Ich kenne es, und einen Moment schien die Erinnerung zurückzukommen. Aber dann war wieder alles schwarz. Es tut mir leid, deine Idee war gut, aber ich erinnere mich einfach nicht.“
Paul lächelte, es schien ihm nicht im Mindesten etwas auszumachen, dass sein Plan nicht aufgegangen war. Er trank seinen Tee aus und stand dann auf. Seine Mutter wartete mit dem Abendessen. Für einen Moment hatte ich vergessen, dass er noch ein Kind war.
„Spiel das Erinnerungsspiel allein für dich, wenn du dich erinnern willst. Du kannst es, du musst nur wollen.“ Er lächelte ein uraltes Lächeln und ging.
Ich verbrachte meine Tage mit Arbeit, Essen und Verdrängen. Ich ignorierte Mirabell und Pu und alle anderen Schätze in der Kiste, rührte sie nicht an und trampelte Pfade um sie herum.
Paul hatte Ferien, die er bei seiner Oma verbrachte, und meine Wohnung wirkte seltsam leer ohne ihn.
Eine Woche, bevor er wiederkam, nahm ich meinen Mut zusammen, öffnete beide Kartons und legte einen Gegenstand nach dem anderen um mich herum auf den Boden.
Es waren vor allem Bücher, aber auch ein Springseil, dessen Fasern grau und starr vor Schmutz waren, eine Blockflöte, auf der zu spielen ich mich nicht traute, ein paar Glasmurmeln und ein Poesiealbum. Ich brauchte lange, um den Mut zu finden, es zu öffnen. Auf der ersten Seite stand krakelig mein Name mit einer mir fremdem Adresse, und darunter der übliche Spruch, der zur pfleglichen Benutzung des Büchleins aufruft.
Freundinnen, deren Namen mir nichts sagten, hatten Sinnsprüche hinterlassen, teils rührselig, teils zum Schmunzeln. Und dann ein Eintrag von Omama.
Der Vorhang riss auf, ihr Gesicht stand im Rampenlicht, klar und lebendig. Ich hörte sie sagen: „Weine nicht, Marie, wir sehen uns wieder“, und ich spürte eine unendliche Trauer und Verzweiflung. Dann fiel der Vorhang wieder, und alles weitere blieb im Dunkel.
Lange saß ich auf meinem Boden, das Poesiealbum in der einen, Mirabell, die einst anders geheißen hatte, in der anderen Hand. Erst, als es draußen längst dunkel war, rührte ich mich wieder. Und während ich mein Leben seltsam fremd betrachtete, reifte in mir ein Entschluss.
Marie biegt in ihrem Fiat Panda um die Kurve, und mit dem durch die Wolken brechenden Sonnenlicht reißt der innere Vorhang des Vergessens.
Das Backsteinhaus ist verlassen, hier und da sind die Fenster gesprungen, der Efeu hat sich auch den letzten Rest der Mauern erobert. Marie bremst hart, stellt den Wagen am Straßenrand ab. Die letzten hundertfünfzig Meter muss sie zu Fuß zurücklegen, sich ihrer Vergangenheit behutsam nähern. Bei jedem Schritt, den die erwachsene Frau macht, tritt das Kind in ihr weiter ins Licht. Die Abfahrt vor so vielen Jahren:
Marie sitzt auf der Rückbank des vollgestopften Kombis, sieht zurück und schreit nach Omama, die Augen vor Tränen blind. Niemand hat mit ihr gesprochen, und doch weiß sie, dass sie nicht wiederkommen wird, dass sie Omama unwiderbringlich verloren hat, und mit ihr das Paradies ihrer Kindheit.
Papa faucht Mama an, dass sie das Kind zum Schweigen bringen soll, doch diese ist genauso hilflos wie er. Marie lässt sich nicht beruhigen, nicht durch eine nagelneue Märchenkassette, nicht durch Schokolade, nicht mal durch ein neues Buch. Neben ihr stehen zwei Kisten mit ihren Spielsachen. Alles, was sie in den letzten Jahren besaß, ist dort verstaut. Aber all ihre Liebe ist bei Omama, dem einzigen Menschen, der immer für sie da war.
Der Türrahmen ist verzogen, aber die Tür nicht abgeschlossen, ganz so wie früher. Marie stemmt sich dagegen, erinnert sich, dass Omama immer leicht die Klinke anhob, und es funktioniert auch heute noch, die Tür schwingt auf.
Sie ist im Haus. Gerüche stürzen auf sie ein, bringen die lange vergessenen Bilder mit sich, welche in rasender Abfolge ihre Erinnerungen zurückbringen. Ihr wird schwindelig, sie muss sich am Treppengeländer festhalten, setzt sich auf die Stufen, atmet tief durch.
Die Räume sind leer, doch Maries neu erwachte Erinnerung addiert mühelos die Möbel ihrer Kindheit. Der alte schwere Esstisch, den Omama immer verfluchte und von dem sie sich doch nie trennen konnte, das verstimmte Klavier, dem sie trotzig Beethovens Ode an die Freude entlockte und auf dem Marie alles über Musik lernte, was sie auch heute noch weiß, und schließlich ihr Zimmer. Bett, Schrank, Schreibtisch. Nicht viel, nicht edel, aber ihr geliebtes Reich. In der Wand sind noch die Dübellöcher ihres Bücherregals zu erkennen, und für einen Moment hört Marie die Helden ihrer Kindheit wie ein fernes Echo vorüberziehen: Die Kindliche Kaiserin ruft sie zu sich, Käpt'n Ahab setzt sie auf Moby Dick an, Christopher Robin führt sie durch den Hundert-Morgen-Wald.
Marie denkt an Paul und dankt ihm leise für seine Hilfe. Als sie ihre Runde durch das Haus im Wohnzimmer beendet, blitzt kurz etwas im Staub des Fußbodens auf, getroffen von einem verirrten Sonnenstrahl. Sie geht hin und hebt den Gegenstand auf, ein gerahmtes Foto, das Glas ist gesprungen.
Als sie den Staub wegwischt, kommt Omamas liebes, faltiges Gesicht zum Vorschein. Marie betrachtet es lange, eine Träne tropft auf das Bild.
„Weine nicht, Marie. Ich habe doch gesagt, wir sehen uns wieder.“ Die Stimme steht einen Moment lang klar im Raum, doch Marie ist nach wie vor allein. Das Bild scheint ihr zuzuzwinkern, und Marie lächelt. Sie nimmt die Kerze aus der Tasche, die sie aus einem Gefühl heraus eingesteckt hat, zündet sie an und stellt sie gemeinsam mit dem Bild auf den Kaminsims.
„Mögest du hier und in meinem Herzen ewig leben, Omama“, sagt sie feierlich und geht dann, ohne einen letzten Blick zurückzuwerfen, hinaus in ihr neuen, endlich vollständiges Leben.
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30.05. - 04.06.2006