Pein
Pein
(In der Nacht kann man sie sehen.)
Nacht
Der Hergang dieser Unannehmlichkeit, wie sie peinlicher und lächerlicher nicht hätte sein können, begann an einer kleinen Station der U-Bahn. Die Menschen zerrten sich immer näher zum Ufer, an dem in nur wenigen Augenblicken die Bahn halten sollte. Sie quetschten und schoben, schubsten und drückten einander.
Unter ihnen war auch ein junger Mann. Auch er drückte und schob, aber er hatte keine andere Wahl, denn alles ging immer schneller, so dass kein Zögern oder freundliches Warten von Nutzen gewesen wäre. In der Menge würde ein unbeteiligter Zuschauer ihn bald gut erkennen, denn als einziger drückte und schob er vorsichtig, damit sich keiner verletzte. Um ihn herum begann aber bald eine unangenehme Veränderung, die er beobachtete, während man ihn weiter drückte:
Immer weiter und weiter das Stöhnen, Schimpfen und Wüten der Masse, die wie ein Haufen Käfer oder gar scheußlicheres Insekt sich in wabbelnden, ekelhaften Tunneln erhob und wieder niederging wie eine Welle, die gegen die Brandung der Angst und Enge schlug. Unerträglich das Gejaule eines sabbernden Hundes, das Jammern eines Kindes, das Stöhnen der Mutter, das Schimpfen der Alten, welche kauzig und grimmig mit ihren Stöcken, die bis an die Decke der Tunnel schlugen, sich einen Weg prügelten durch den Moloch aus Schleim und Blut, denn nichts anderes war die Menge.
Es waren nur noch Menschen, weil es nicht möglich war, einen Begriff zu vernichten. Sie hatten das, was sie menschlich machte, noch nicht verloren, aber ohne Zweifel würde es in der Bahn selbst geschehen.
(Wenn die Dämmerung bei uns ist, verlieren wir die Sicht.)
Dämmerung
So sah er sich schweigend um und versteckte einen kurzen Anflug des Bedauerns. Fortan schob er immer leiser und fast schon zart, um nicht aufzufallen. Er beugte den Kopf nach vorn, damit niemand ihn erkennen konnte. Doch ein krächzendes Geräusch eilte durch die Menge, und er sah wieder auf:
Enge und Hitze, die sich langsam in der kriechenden und krächzenden Käferkolonie ausbreitete, verbunden mit Dampf und Sekreten, trieb ihn immer weiter voran, so als wenn es nur ein Vorne, aber kein Hinten geben würde.
Und fiel einer von den riesigen Käfern heraus, dann wurde er wieder Mensch und wurde von den anderen Käfern mit spitzen Beinen gepackt und langsam zerdrückt. Speichel und Schleim flossen dann aus den runden Öffnungen am Kopf, zersetzten langsam den Leib des gefallenen Menschen. Die sich bildende Suppe schleckten dann gelbe Zungen, besetzt mit kleinen Löchern, aus denen kleinere Käfer krochen, auf, während ein satter Käfer sich langsam setzte und lächelte.
Ihm war nicht wohl. Hitze trieb Angst und Geschrei in die Glieder. Er hielt sich zurück und schob nur ab und an den Vordermann, damit er nicht auffiel. Er sah an sich herab und erkannte, dass er ein Mensch blieb. Die anderen aber machten weiter.
Die Käfer bissen einander gegenseitig und krächzten laut und wild. Getöse und Geschrei hallte durch die Schächte, als die Käfer sich verschleimten zu einem nassen Dottersack, der aufquoll und fast platzte, würden nicht kleinere Käfer für Halt sorgen.
Feine Adern plusterten sich auf zu großen Schläuchen, aus denen weißer Saft platschte. So tauchten die Käfer und der große Dottersack, der langsam zu einem Riesenkäfer wurde, durch die Bahn und krächzten.
Ein schlammiges Gebilde aus Organ und Käfer ergoß sich in der Bahn, denn der Sack platzte. Es roch wie Harn, Mist und alte Nahrung zusammen. Der junge Reisende übergab sich und hielt sich an einem noch freien Platz fest. Er beobachtete den Fortgang der Peinlichkeit:
Die kleineren Käfer indes, die sicher mehr als tausend Beine hatten, krabbelten übereinander, steckten sich einander ihre Stacheln und Mandibeln in den Körper. Mit scharfen Dornen am Kopf bohrten sie sich Löcher in die facettenhaften Augen, aus denen neue Käfer fielen. Jene vermehrten sich auf die gleiche Weise. Dann fuhr jeder zweite Käfer einen kleinen Schlauch aus seinen Unterleib. Diesen richteten sie auf und schoben sie anderen Käfern in eine Öffnung an der Unterseite. Dann bewegten sie sich auf und nieder.
Nach einigen Augenblicken hörten die Bewegungen auf. Grüne Milch schob sich aus den Öffnungen hervor. Darin suhlten sich die Käfer und formten dann einen festen Kuchen, auf den sie sich setzten.
Er sah dies mit Schrecken und kämpfte sich durch den Kuchen in die hinteren Sitzreihen, wo dies alles noch nicht geschah. Die Bahn, ein großes Nest, hielt an keiner Station. Der junge Reisende geriet in Schrecken, denn einer der Käfer erkannte ihn und griff an.
Feste Stacheln bohrten in sein Fleisch, das Blut spritzte über den Käfer hinweg.
Der Mensch aber trat fest gegen eine Scheibe. Er befreite sich und sprang heraus. Er landete im Schacht der U-Bahn, die weiter fuhr. Er sah noch die Fahrgäste, wie sie in die Dunkelheit rasten.
(Am Morgen gibt es die Wahrheit nicht mehr.)
Morgen
Eine junge Mutter tröstete ihr weinendes Kind, ein junger Mann bot einer Dame den Platz an.
Schnell lief er in einen Seitenschacht des Tunnels. Dort versteckte er sich in einer Nische, übergab sich und zögerte. Dann hörte er Schritte.
Aus dem Schwarz heraus kam, wie durch einen Vorhang gehend, ein Mann. Er trug die Uniform eines Polizisten.
„Was tun Sie hier, junger Mann ?“ fragte er mehr bestrafend als hilfsbereit.
„Nein, nein, ich habe ein Problem“, antwortete er.
Er erklärte dem Polizisten, was geschehen war. Er sagte ihm, dass aus den Menschen Käfer wurden, dass die Käfer aber Menschen waren. So oder so ähnlich, sagte er, müsse es wohl gewesen sein.
„Kommen Sie mit“, befahl der Polizist.
Der junge Mann, endlich in Sicherheit, folgte seinem Retter bis in einen Seitentunnel.
Dort warteten weitere Männer. In den Händen hielten sie schwere Stöcke und Handschellen. Trotzdem fühlte der Reisende sich sicher. Sein Eindruck verging, als man ihn fest packte und gegen eine kalte Wand drückte. Seine Arme drehten sie auf den Rücken –dabei knackte es in der linken Schulter schmerzlich- und legten die Handschellen so fest um die Gelenke, dass sie sofort aus den Striemen bluteten.
Er schrie laut; er wurde stumm durch einen Faustschlag ins Gesicht; er zappelte winselnd; er wurde getreten; er weinte; er stürzte.
Die Beamten schlugen ungezählt auf den Leib des jungen Menschen. Immer schneller und fester wurden die Schläge, die er kaum noch vernahm, denn die Peinlichkeit nahm mit dem endgültigen Schließen seiner Augen ihr Ende.
(Keinen Titel, wenn das Ende schon war.)
Wäre er nicht schon gestorben, so hätte er noch gesehen, wie in einem anderen Tunnel eine U-Bahn durch die Dunkelheit jagte, dem Leben entgegen.
Er sah auch nicht mehr, wie die Polizisten seinen Leib den Käfern übergaben.
Sicherlich hätte er fliehen können.