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Perpetuum Mobile
Jonathans Sterben und Leben
Es war noch dunkel draußen als ein Schrei Jonathan Fischer im Bett hochfahren ließ. Er schob den Vorhang zurück und sah im Park gegenüber zwei Schatten in der Dunkelheit mit einander kämpfen. Hatte einer nicht ein Messer in der Hand? Einer der Männer brach zusammen, der andere zog ihn ins Gebüsch. Jonathan sprang aus dem Bett und wählte den Notruf der Polizei. Er teilte seine Beobachtung mit. Er sah wieder hinaus, jetzt kämpften die beiden Männer offenbar erneut miteinander. Wieder ging einer zu Boden und der Zweite schleifte ihn hinter einen Strauch. Dann herrschte Stille. Jonathan riss das Fenster auf, nahm seinen Mut zusammen und schrie aus Leibeskräften.
„Hey! Die Polizei ist gleich da!“
Irgendwie hoffte er, auf diese Weise dem brutalen Treiben ein Ende zu setzen. Er zog sich eilig an und wartete. Nach scheinbar endlosen Minuten war ein Streifenwagen zur Stelle.
Die beiden Beamten beleuchteten mit ihrem Scheinwerfer den Park und bewegten sich mit aller Vorsicht. Es war niemand da. Sie suchten mit ihren Taschenlampen jeden Strauch ab, doch es gab weder Täter noch Opfer. Jonathan war nach draußen gegangen.
„Guten Morgen Herr Fischer. Sie haben uns verständigt?“
„Genau hier war es! Ist denn niemand da?“
„Nein, aber wir haben das hier gefunden. Passen Sie auf, dass Sie nicht hineintreten.“
Frisches Blut im Gras sorgte für die Gewissheit, dass Jonathan nicht geträumt hatte. Die Beamten bestellten über Funk die Kollegen von der Spurensicherung und begleiteten Jonathan zurück in seine Wohnung. Er zeigte ihnen das Fenster, von wo er die schreckliche Szene beobachtet hatte. Die Polizisten notierten seine Aussage und rückten wieder ab. Inzwischen war es hell geworden. Im Park sammelten Spezialisten in Schutzanzügen Spuren der Bluttat. Jonathan hob die Zeitung auf, die vor seiner Wohnungstür lag. Er las die Schlagzeile:
Peter Koppel zum Bundespräsidenten gewählt
Wer? Er blickte auf das Datum. Die Zeitung war vom 20. August 2082. Es musste sich wohl um einen dummen Scherz seiner Freunde handeln. Er hatte schließlich seine Pläne zum Bau einer Zeitmaschine nicht vor ihnen geheim halten können. Obwohl er Physiker war und alles ganz plausibel erklärt hatte, nahm ihn keiner so richtig ernst und jetzt haben sie ihm vermutlich diesen Streich gespielt.
Die Maschine, mit der er in die Zukunft reisen konnte, war über ein Display am Handgelenk zu bedienen. Er musste sich nur noch die Bauteile beschaffen. Dann sah Jonathan das Gekritzel unten rechts. Ein mit der Hand geschriebener kurzer Satz:
„Hallo Jonathan, Viel Spaß bei der Lektüre, dein Jonathan".
Es war eindeutig seine eigene Handschrift! Sofort war ihm alles klar: Er hatte sich selbst eine Zeitung aus der Zukunft geschickt. War sein zukünftiges Ich etwa persönlich vor seiner Wohnungstür erschienen? Jonathan fragte sich, ob er sein zweites Ich aus der Zukunft selbst einmal treffen könnte. Der Gedanke jagte ihm einen gehörigen Schrecken ein. Was dieser zweite Jonathan so alles anstellen könnte! Kommt einfach in die Vergangenheit zurück und verändert die Dinge. Wie gefährlich! Angst packte ihn. Er zerriss die Zeitung in kleinste Schnipsel und verbrannte sie. Kaum war es getan, bedauerte er den Verlust dieses einmaligen Dokuments aus der Zukunft. Als er die Asche zur Mülltonne trug, bemerkte er einen Umschlag im Schlitz seines Briefkastens. Er zog den Brief heraus und erkannte wieder seine Handschrift.
"Lieber Jonathan, lass bloß die Finger von dieser Zeitmaschine! Baue sie nicht! Du stürzt Dich - also uns - und viele andere in ein großes Unglück! Wir kriegen das nicht mehr in den Griff! Das ist Deine letzte Chance! Lass die Finger von dieser Maschine oder ich muss Dich - also uns - beseitigen! Was das heißt, weißt Du am besten! Dein völlig verzweifelter Jonathan"
Eine Morddrohung. Genau genommen eine Selbstmorddrohung. Auch den Brief ließ Jonathan in Flammen aufgehen.
Doch sogleich gewann der Forscherdrang wieder die Oberhand. Er wusste, dass er die Maschine logischer Weise irgendwann bauen würde, denn sonst hätte er nicht Besuch von seinem zukünftigen Ich bekommen. Nun war es langsam Zeit für eine Tasse Kaffee.
Eine gewaltige Explosion zerstörte die Einrichtung.
Die Polizei fand heraus, dass mit dem Einschalten der Kaffeemaschine ein Sprengsatz detoniert war. Der Anschlag war natürlich das wichtigste Thema in den Zeitungen:
Bombe tötet Physiker - Rätselhafte Blutspur im Park
Jonathan beobachtete aus einiger Entfernung die Beerdigung seines ursprünglichen Ichs. Er war nicht im Geringsten darüber erstaunt, dass er nach der Explosion nicht ebenfalls aufgehört hatte zu existieren. Er, der zurück Gereiste, war ein realer Teil der Gegenwart geworden. Er hatte den Erfinder getötet, es würde also keine Zeitmaschine und künftigen Jonathans mehr geben, die zurückreisen würden. Da war der zweite Jonathan gewesen, der sein früheres Ich mit der Zeitung hatte foppen wollte. Wohl einer der ersten Zeitreisenden seiner selbst, der alles noch recht lustig fand. Dann jener Jonathan, der den Drohbrief verfasst hatte und offensichtlich davon ausgegangen war, damit alles zum Guten wenden zu können. Und ihn, der die Drohung wahr gemacht und auch gleich seine beiden anderen zeitreisenden Existenzen beseitigt hatte.
In seinem Hotelzimmer bastelte Jonathan einen neuen Sprengsatz. Diesmal würde er den ganzen Spuk beenden. Er musste schließlich noch den Drohbrief und die Zeitung verhindern, dafür hatte er beim ersten Versuch keine Zeit mehr gehabt. Nichts durfte an die Zukunft erinnern. Er wollte die beiden Jonathans diesmal erwischen, bevor sie das Haus erreichten. Er tippte eine Zahlenkombination in das Gerät an seinem Handgelenk und zappte sich bewaffnet mit Messer und Bombe wieder ein Stück in der Zeit zurück. Er wählte einen Zeitpunkt, als die Zeitung noch nicht vor der Tür abgelegt und noch kein Drohbrief eingeworfen waren. Mit dem festen Entschluss, seiner vielfältigen Existenz ein umfassendes Ende zu setzen, legte er sich hinter einem Gebüsch im Park wieder auf die Lauer. Nach ein paar Minuten sah er seine Gestalt, die sich mit der Zeitung unter dem Arm dem Haus näherte. Jonathan zog das Messer, sprang aus dem Gebüsch hervor und stürzte sich auf sein weiteres Ich. Das Opfer schrie auf und sackte röchelnd zusammen. Er zog die Leiche in das Gebüsch. Gleich müsste der Jonathan mit dem Brief erscheinen. So war es und auch er starb nach einem kurzem Kampf einen raschen Tod. Aus dem Haus gegenüber hörte er seine Stimme rufen.
„Hey! Die Polizei ist gleich da!“
Er zog er die Bombe aus dem Buschwerk und wollte gerade zum Haus hinüber schleichen, als er drei Schüsse hörte und tödlich getroffen zu Boden ging. Ein weiterer Jonathan lief herbei und zog die drei leblosen Körper nebeneinander. Er sah in die Gesichter. Eines wirkte ein wenig älter als er selbst es war. Er musste sich beeilen, gleich würde die Polizei auf der Bildfläche erscheinen. Er stellte die Zeitmaschinen an den Handgelenken seiner Klone neu ein und schickte sie weit in die Erdgeschichte zurück, als die Erdatmosphäre noch im Entstehen und arm an Sauerstoff war. Aus jener Zeit dürften selbst gewiefteste Paläontologen keine versteinerte Reste mehr finden. Unmittelbar nachdem die drei toten Jonathans mitsamt Zeitung, Brief und Messer verschwunden waren, sah Jonathan den Streifenwagen um die Ecke biegen. Er schlich sich mit der Bombe unter dem Arm zum Haus. Jetzt verließ der Ur-Jonathan die Wohnung und ging zur Polizei. Sein viertes Ich kletterte durch das geöffnete Fenster in die Wohnung. Innerhalb weniger Minuten war der Sprengsatz in die Kaffeemaschine eingebaut. Sein Plan war eigentlich gewesen, sich selbst mit in die Luft zu sprengen. Doch jetzt wollte er doch den weiteren Fortgang der Geschehnisse beobachten.
Die Zeitungen berichteten in großer Aufmachung von der Explosion:
Bombe tötet Physiker - Rätselhafte Blutspur und Schüsse im Park
Jonathan beobachtete aus einiger Entfernung die Beerdigung seiner ursprünglichen Gestalt. Dann erblickte er noch einen weiteren Jonathan, der sich ebenfalls als Zaungast eingefunden hatte. Plötzlich beschlich ihn das Gefühl, dass in diesem Augenblick mehrere Augenpaare ihn selbst fixierten. Er wusste nun, es würde ewig so weitergehen.