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Personalpronomen
In meiner Kindheit war es immer mein Wunsch ein silbergrauer Esel zu sein. Ich bin mir nicht mehr sicher woran das lag. Vielleicht hatte ich in einem der Bücherberge, hinter denen sich mein Vater in seinem Arbeitszimmer zu verstecken pflegte, irgendwann mal solch einen Esel gesehen und mir gedacht, dass es ein einfaches Leben wäre. Als silbergrauer Esel.
Eigentlich mochte ich Esel nicht, aber es besteht ein Unterschied darin, ob man Esel mag oder selber der Esel ist. Meine Mutter sagte mir, ich solle das denken lassen und meine Hausaufgaben machen.
„Mach deine Hausaufgaben“
Und mein Vater nickte nur mit dem Kopf, wenn ich ihm davon erzählte, dass ich eigentlich kein Mensch, sondern ein Esel sein wollte.
Irgendwann wollte ich dann Doktor sein. In diesem Fall weiß ich allerdings genau, warum. Ich wollte auch solch einen schwarzen Aktenkoffer aus Kunstleder besitzen, wie ihn die Doktoren, die ich kannte, für gewöhnlich mit sich herumtrugen. Genauer gesagt ging es mir um die kleinen Zahlenschlösser, die den Inhalt der Aktenkoffer vor neugierigen Nasen schützte.
Ich besaß für lange Zeit keinen verschließbaren Koffer, keinen Zimmerschlüssel oder sonst etwas, das es mir ermöglicht hätte, die Außenwelt vor meinen Gedanken zu schützen. Also schloss ich sie in den Tiefen meiner Gehirnwindungen ein und machte einen Knoten in ein Taschentuch für all die Dinge, die ich zwar nicht vergessen, aber auch mit niemanden teilen wollte. So kam es, dass ich nach einigen Jahren eine stolze Sammlung verknoteter Tücher, Schnüre, sogar Papierstreifen hatte und immer noch nicht schreiben konnte.
Meine Mutter, die von Zeit zu Zeit einige Knoten im Restmüllkontainer entsorgte, sorgte sich um mich und ging mit mir zu unterschiedlichen Ärzten und Psychologen. Keiner konnte herausfinden, was mit mir falsch war. Was meines Erachtens am ehesten daran lag, dass nichts an mir falsch war. Nur war das Festhalten dessen, was sich bei anderen Menschen auf Papieren, in Dateien, Tagebüchern oder auf unzähligen Videokasetten befand, damit es vergessen und in irgendeine Mappe oder einen Schrank einsortiert werden kann, so anstrengend, dass es dem Erlernen des Schreibens im Wege stand. Außerdem fand ich, dass Schreiben eine relativ nutzlose Sache war. Wozu all die wichtigen Dinge auf gelbe Klebekärtchen kritzeln und dorthin kleben, wo man sie nicht übersieht, wenn man sie auch gleichzeitig in seinem Gehirn verankern kann und dort immer an der richtigen Stelle hat?
„Fühlst du dich gut?“ Summte die Stimme aus dem Ledersessel. Und ich: „Ja.“
„Glaubst du, dass Lügen eine Möglichkeit ist deine Probleme zu lösen?“
Ich könnte natürlich die mit kleinen Zahlenschlössern versehenen Siegel hinter meinen Augen, unter meiner Haut, in meiner Seele öffnen und versuchen mich dem Doktor und der Welt zu erklären. Aber das würde zum Einen voraussetzen, dass ich mich in Worte fassen könnte und zum Anderen, dass ich mich selbst verstehen würde, was nicht der Fall ist. Letztlich aber würde solch ein Vorhaben wohl daran scheitern, dass der Doktor seine Diagnose bereits gestellt hatte, bevor ich seine Praxis betreten hatte.
Ab diesem Tage hatte ich also ein Problem und trug es fortan mit Würde. Faktisch handelte es sich nicht mal um eine Lüge, denn der Umstand von nun an all die Dinge, die der Doktor hören wollte, zu erfinden war nicht nur anstrengend, sondern widersprach auch meiner intuitiven Moral. Dies brachte mich zu dem Schluss, dass die Funktion einer perfekten Gesellschaft eben darin bestehe, dass sie Probleme erzeugt und nicht löst. Auch wenn ich zu dieser Zeit nichts davon wusste, lag ich an dieser Stelle in gewisser Weise nicht allzu weit von Marx´ Staatsanalyse entfernt. Hätte ich es aber gewusst, so hätte ich es wahrscheinlich ausgesprochen und wäre dafür möglicherweise in ein dunkes Loch gesperrt worden, eines das schlimmer gewesen wäre als die harte aber vergleichbar annehmliche Couch des Doktors.
Der Obsthändler, der an der Ecke der Straße jeden Dienstag und Donnerstag einen kleinen Pavillon aufschlägt und 18 Sorten Obst zu Preisen anbietet, die von der Mehrheit seiner insgesamt 13 Kunden als gerecht betrachtet werden, kommt pünktlich. Ich beobachte ihn, wie er – so wie jeden Dienstag und Donnerstag – darum bemüht ist, die vier Pfeiler des Pavillons aufzustellen. Etwa eine Viertelstunde dauert es, eine weitere Vierteilstunde bis alle 18 Sorten in Kästen unter dem Pavillon liegen. Ich schließe die Wohnung ab und gehe ihn an seinem Stand besuchen.
„Nicht alles ist perfekt“, sagt er zu mir. Obwohl stumm und mit einem Apfel in der Hand stimme ich ihm zu.
„Allerdings“, ziehe ich in Erwägung, „allerdings hängt es wohl davon ab, was man erwartet und will und überhaupt: Was ist schon perfekt?“
„Wie profan Fragen sein können“, meint er, „das Wort allein ist doch ein Witz. Was bedeutet das schon... perfekt, perfekt ist etwas, von dem wir denken, wir wüssten was es ist, doch in Wirklichkeit ist es etwas Unnatürliches, etwas vollkommen Fremdes.“
Dem folgt eine kurze Pause und das Krachen meiner Zähne in den Apfel.
„Völlig. Völlig idiotisch. In einer Welt, die stets imperfekt war ist perfekt ein trost- und endloses Epos der ständigen Gegenwart. Das Wort schmeckt nach Plastik und es riecht nach Verrat. Wer nah genug heran geht, sieht, dass es aus unregelmäßigen Farbflecken besteht, dass die Stimme wackelt, wenn es den Kehlkopf verlässt. Von weitem freilich sieht die Schrift gestochen scharf aus, klingt der Ton kristallklar
und rund.“
Er nimmt einen Prototyp von Pfirsich aus der Kiste, die in der Mitte der drei sechser Reihen steht, und sucht ihn nach Fehlern ab.
„Manche würden sagen, der Tag ist nicht die Sorgen wert. Und wie recht sie haben. Sie leben in den Tag, in die Woche, in den kleinsten Sekundenbruchteil. Unbedacht. Sie werfen keinen Blick zurück. Einfach ist es nicht, aber einfacher. Wer begreifen will, sucht sich Modelle, die sich drehen und berühren lassen, ein Karussel aus klappernden Metallpferden. Austarierte, mechanische Kunstwerke, die alles sein können, nur nicht ihr reales Abbild.“
„Ich begreife nicht“, werfe ich entnervt ein.
„Sie auch nicht“, erwidert er. „Ihr Leben besteht aus Kinderzimmern, vollgestopft mit feinster Mechanik. Sie spielen Menschen, obwohl sie es sind. Nur anders. Sie glauben, sie werden erwachsen, dabei fallen sie nur in ein immer tieferes Trauma.“
„Und sie, das bist auch du“, meine ich und er nickt.
„Natürlich. Wir alle sind verdammt. Aber dafür auch verdammt glücklich. Die einen formen die Welt als Lehmkugel und Künstler malen sie an. Mehr ist es nicht.“
Wer es sich leisten kann, lernt zu sprechen wie ein Akademiker, zu gehen wie ein Diplomat und zu denken wie ein König. Das Fatale ist, dass der Weg zurück schwer fällt, denn wer nicht nur nach den Sternen greift, sondern sie auch fassen will, der ist zu diesem Zeitpunkt bereits Lichtjahre von der Erde entfernt. Aus diesem Grund schließe ich die Augen, wenn ich auf die Straße gehe, so wie jetzt. Ein Auto fährt vorbei, das nächste erfasst mich. Denke ich.
Es dämmert und ziegelrote Schwaden zersetzen die Wolkenungetümer, die wie dicke Tränensäcke den Himmel bedecken. Ich brauche keinen Spiegel, um zu wissen, wie ich aussehe, aber mich würde interessieren wie spät es ist.
„Zu spät“, sagt er. „Wen interessiert schon Zeit in einer Welt, dessen Anfang und Ende wir uns weder vorstellen noch ausmachen können. Mit der Zeit ist es wie mit dem Krieg: Es gibt immer eine nächste Stufe, einen nächsten Tag, einen nächsten Schlag. Unausweichlich. Dennoch, wir scheinen gut damit klar zu kommen. Eine Sisyphosarbeit, frustierend und doch kehren wir immer wieder an den Ausgangspunkt zurück.“
„Was ist die Alternative“, frage ich, „wenn nicht der Tod?“
Und er: „Wer weiß, ob die Zeit nach unserem Tod tatsächlich stehen bleibt.
Ein berechtigter Einwand, wie ich in diesem Moment, da ich noch lebe, denke.
In dieser surrealen Welt stehe ich Kopf“, sagt er, „und rede rückwärts. Ich darf es, habe ich mir gesagt. Du dagegen verstehst nicht was ich meine. Und selbst wenn du denkst, du verstündest, du tust es nicht. Niemand versteht. Nicht einmal ich.“
„Surreal“, konstatiere ich.
„Nach dem Zweiten Prager Fenstersturz“, fährt er fort, „übernahmen die deutschsprachigen Katholiken die Macht in den böhmischen Städten. Die tschechischsprachigen Protestanten dagegen flohen in die Dörfer. Es entwickelte sich ein soziales vor allen aber auch sprachliches Gefälle, dass der städtische Reisende bald nicht mehr verstand und nur noch kopfschüttelnd durch die Landschaften ziehen konnte. Ebenso wie du mit dem Kopf schüttelst. Das sind mir böhmische Dörfer, pflegte man zu sagen. Und man tut es noch heute.“
„Wie klug das klingt“, sage ich. Und das obwohl ich nichts verstehe. Eben das ist die Crux.
Der Raum, in dem ich seit einer Woche wohne ist weiß. Wer ihn betritt weiß, was ich meine. Natürlich ist er nicht überall weiß, es stehen Möbel in anderen Farben darin, ein Schrank, ein Schreibtisch, zwei Stühle, ein einfaches Bett , auf den Vorhängen ist ein himmelblaues Blumenmuster gedruckt, auf dem Boden liegen braune Kieferpanelen, die knirschen bei jedem einzelnen Schritt. Darauf liegt ein Flickenteppich. Trotzdem ist der Raum weiß. Das klingt nicht logisch und es ist nicht logisch, aber eben das macht ihn weiß. Weiß ist nicht logisch.
Als ich aufwache und verschlafen nach dem Wecker suche, denke ich nicht daran, dass Zeit eine Erfindung der Menschen ist. Es ist genau 2:32. Vielleicht ein bisschen später. Uhren sind so wie Menschen. Man kann ihnen nicht vertrauen. Ich stehe auf, gehe zum Fenster. Die Straßen sind leer und schimmern blau. Fast Vollmond. Das Fenster quietscht als ich es öffne und kühle Luft strömt in den Raum. Das Leben zieht an mir vorbei. Bis 2:35. Ich versuche ein schönes Wort zu sagen, aber mir fälllt irgendwie keines ein. Heimat. Mein erster Einfall, aber es passt nicht, weil ich nicht weiß, wo es liegt. Auf der Erdmasse, aus der wir mit Zirkel und Lineal einen neuen Begriff malen: Land? In dieser Stadt, die ich nie zuvor gesehen habe und nie wieder sehen werde, so wie sie in diesem Moment ist, wenn ich sie erst verlassen habe? Vielleicht in diesem Zimmer, in diesem weißen Zimmer, so weiß, dass es nicht nur unecht wirkt, sondern ist? Wie kann ein Wort schön sein, wenn man nicht weiß, was sich dahinter verbirgt? Kann es schön klingen ohne den Schimmer seiner Bedeutung?
Als ich begann die Sprachen dieser Welt zu lernen fand ich eine Vielzahl von Geräuschen, die mir auf Anhieb gefielen, ohne dass ich ihre Bedeutung kannte. Ich kann keine Beispiele dafür nennen, denn je mehr ich die Sprachen lernte, desto mehr rückte die Bedeutung vor den Klang bis irgendwann alle Geräusche in meinem Kopf zu einer einzigen Masse verschmolzen. Information. Rational und funktional. Ein kalter Stein, der sich sowohl jeglicher Schönheit als auch Hässlichkeit entbehrt, weil er einfach ist. Wollte ich das Wunderbare und das Scheussliche wiederentdecken, ich müsste beginnen wegzuhören, mir selbst zu widersprechen, mich gegen die Kommunikation stellen. Welten verdrehen und gleichzeitig begradigen. Ein Ding der Unmöglichkeit. Es gelingt nur, wenn es nicht gelingt.
„Du hast Angst“, sage ich zu ihr. „Angst das loszulassen, was dir Halt gibt.“
Sie: „Und du? Was ist mit dir? Du hältst dich doch auch fest an deinen Floskeln und Formeln.“
„Sie halten sich an mir fest“, entgegne ich ihr etwas unsicherer.
„Wir beide sind gefangen in dieser Welt. Der Unterschied ist, dass ich mich damit abgefunden habe. Du bist auf der Suche nach deinem Sinn, nach deinem Gott und du findest ihn nicht, obwohl du schon an ihn glaubst.“
„Ich verstehe nicht?“ sage ich, und meine es auch so, auch wenn das, was sie sagt, unglaublich logisch klingt.
„Sie verstehen auch nicht“, antwortet sie mit leiser Stimme.
Ich habe ein Dejavu, deshalb beschließe ich aufzuwachen. Hinein in die Welt. Egal welche. Hauptsache weg von hier. Ich frage mich manchmal, ob irgendwann der Punkt kommen könnte, an dem ich mir recht gebe. Oder aber ich täuschte mich und hatte mir schon vor langer Zeit recht gegeben. Ohne es zu merken.
Die Stadt und ihre logischen Bauwerke, Straßen und Menschen sind schwarz. Dahinter geht die Sonne auf. Auf der Brücke bin nur ich. Kein Auto, kein Mensch. Als ob jemand den ganzen Film auf Pause gedrückt hätte. Nur mich nicht. Silberne Stille, die ich hinunterschlucke, bevor ich beschließe, dass es weder inkonsequent noch konsequent wäre zu springen. Ich möchte etwas Schönes sehen. Deswegen stelle ich mich an die Haltestelle drei Meter von mir und warte bis der Bus kommt.
Bis zur Endhaltestelle bezahle ich beim Fahrer zwei fünfzig. Der Bus ist voll. Berufsverkehr. Ich finde einen Platz neben einer alten Frau, einer braunäugigen Studentin und ihrem Hund und schließe die Augen, um zu träumen.
Sie hat keinen Namen und ich weiß nicht wie alt sie ist. Sie begleitet mich als ich aus dem Bus steige und singt dabei ein Lied, das ich kenne, aber ich komme nicht auf den Namen.
„Was singst du da?“
„Das ist das Lied des Abschieds. Ich mag Abschiede.“
Ich sage ihr, dass ich keine Abschiede mag. Und sie hakt nach. „Warum nicht?“ Weswegen ich gezwungen bin, meine Aussage zu reflektieren.
„Weil sie einem das Gefühl geben, zurückgelassen zu werden. Egal auf welcher Seite man steht“, erfinde ich.
„Und auf welcher Seite stehst du?“
„Ich sage doch, es ist egal“, entgegne ich genervt. „Warum magst du Abschiede?“ Und sie innerhalb eines Sekundenbruchteils:
„Weil ich spüre, dass sich etwas ändert, etwas bewegt. Erst der Abschied gibt dem Leben seine Geschwindigkeit. Der Beweis, dass wir nicht auf der Stelle stehen. Abschied nehmen heißt, anfangen zu leben.“
Vielleicht will ich nicht leben. Aber wer weiß das schon. Überhaupt, was ich will und was ich nicht will, werde ich ohnehin nie wissen. Nur glauben.
Die Welt ist voll von Idioten. Und ich bin einer von ihnen. Ich lese meine Bücher, versuche die niedergeschriebenen Dinge zu begreifen, reflektiere, schreibe Texte und werfe sie in den nächsten Mülleimer. Dann fange ich an zu handeln.
Andere sparen sich den Umweg und handeln direkt.
„Wer ist ehrlicher? Derjenige, der eine Meinung vertritt, weil er sie nach langen Prüfen und Überlegen annimmt oder derjenige, der die Meinung annimmt, weil sie ihm auf dem ersten Blick plausibel erscheint?“ sage ich laut zu mir, als ich auf einer Parkbank sitze und bunten Kindern beim Spielen zusehe.
„Der Unterschied ist lediglich quantitativ. Der eine handelt intuitiv, der andere wartet und entscheidet dann. Ebenfalls intuitiv. Würde er ein wenig länger warten, vielleicht würde er zu einer anderen Meinung kommen. Qualitativ machen beide das gleiche. Sie entscheiden sich und handeln“, antworte ich, nachdem ich um etwa 50 Zentimeter nach links gerutscht bin.
Sie glaubt, dass man der Wahrheit näher kommen kann, indem man zweifelt und prüft, aber das sagt sie jetzt nicht. Stattdessen rückt sie 100 Zentimenter nach links, umarmt mich und bittet mich darum, mit ihr das Lied des Abschieds zu singen. Ich werde ihr diese Bitte nicht verwehren.
Der Sommer ist seltsam. Seltsam kühl. Vielleicht liegt es an mir. Ich erwarte einfach zuviel. Oder so: Ich setze mich mehr mit dem Wetter auseinander als es rational notwendig wäre. Manchmal denke ich, dass das Wetter ausschließlich dazu dient, dass Menschen sich darüber ärgern können. Kommunizieren können. Das Wetter ist die Grundbedingung jeder Kommunikation.
„Unsinn“, sagte damals mein Professor. Ich dagegen kommentierte nicht die Aussage, sondern lediglich den Metakontext.
„Der Unterschied zwischen Sinn und Uninn liegt lediglich in der Vorsilbe.“
Das war natürlich Unsinn im eigentlichen Sinne und ich sagte es damals in einer Phase des gefühlt revolutionären und unkonstruktiv motivierten Widerspruchs. Es ging um Morphologie, nicht um Semantik. Auch wenn sich um Semantik das Leben dreht.
Wenn ich heute darüber nachdenke war die Konklusion jedoch gar nicht so abwegig, denn weder Sinn noch Unsinn bedeuten irgendetwas. Beide Wörter lassen sich lediglich durch Antonyme und Synonyme beschreiben, die ebenso nichtssagend sind. Sinn und Unsinn haben keine kommunikative Funktion, sie dienen lediglich der Abgrenzung zweier Gegenstände, mit denen man sonst nichts anzufangen wüsste. Ebenso wie gut und böse, wie rot und grün, männlich und weiblich.
In der Realität definieren wir Wörter nicht. Wir reden nicht über ihre Bedeutung, wir deuten sie durch das Reden. Nicht weil es zu aufwendig oder zu anstrengend wäre, die Wörter zu bestimmen, sondern weil es unmöglich ist. Den sprachlichen Konsens, den wir versuchen durch das Drucken von Wörterbüchern herbeizubeschwören, existiert nicht. So sind wir letztlich alleine in einem Gefängnis ohne Aus- und Eingang, das allerdings gut versteckt ist in der von uns gemalten Welt. So gut, dass wir es oft selber nicht finden und vorbehaltlos glauben wir verstünden uns. Der Glaube an Verstehen ist allerdings der größte Betrug an uns selber.
Professoren nehmen ihre Studenten manchmal nicht so ernst, insbesondere wenn man – wie in meinem Fall – eine Frau ist. In diesem Fall war der eine Kommentar, der meiner zwanzigminütigen Ausführung folgte unglaublich respektvoll und zugleich passend:
„Das Schlimme ist“, sagt er, „dass Sie mit aller Kraft daran arbeiten, an kein Ziel zu gelangen. Ein Paradoxon.“
Ich bedauere das auch. Aber es gibt keinen anderen Weg. Ich wünschte es wäre anders. Ich wünschte ich könnte einfach loslassen und mich unterordnen. Aber dafür ist es zu spät. Abgesehen davon hat es ja auch Vorteile: Wer nicht nur nicht über Recht und Unrecht schreibt, sondern auch nicht daran glaubt, spart sich eine Menge Sorgen.
„Ich kenne keine bessere Umschreibung für Luxus“, meint sie. „Sich über Recht und Unrecht keine Gedanken zu machen ist Luxus. Mehr: es ist die pure Form der Gedankenlosigkeit. Und es ist brutal.“
Ich denke „es ist ja aber auch kaum Zeit dafür.“, aber sie liest meine Gedanken oder fügt etwas hinzu, was sie ohnehin sagen wollte.
„Es ist mehr Zeit als man glaubt.“
Ich beginne meine Verteidigung: „Die Begriffe sind zu komplex, als dass man in 30 Minuten wüsste, was richtig und was falsch wäre.“
„Es geht nicht darum zu wissen, was richtig und was falsch ist. Es geht um sagen oder nicht sagen. Egal was.“
An einem Freitagmorgen ging ich in die Kirche zur Beichte.
„Ich habe gesündigt, aber ich weiß nicht womit“, sagte ich.
Doch das verstand der Pfarrer nicht und bat mich auszuführen.
„Ich spüre, dass ich Dinge falsch gemacht habe, aber ich kann sie nicht benennen. Ich habe das Gefühl, ich treibe in einem Strom aus Wörtern und Fragen und finde keinen Halt.“
Die Antwort kam schnell und ähnelte einer Visitenkarte, die durch das Gitter gereicht wurde.
„Dann kann ich dir auch keine Beichte abnehmen, mein Kind. Suche zunächst Gott. Er wird dich finden.“
Es gibt Momente da glaube ich, dass die Kirche irgendwie Recht hatte. Ich meine mit Adam und Eva. Und vor allem der Erbsünde. Sprache könnte solch eine Erbsünde sein: Je mehr man spricht, desto mehr Wörter werden aufgeworfen, desto mehr milchglasige Buchstabenreihen durch die man nicht blicken kann. Ein Teufelskreis. Aber man gibt nie auf:
„Was bedeutet Gott, Vater?“ Und wiederum kam die Antwort schnell.
„Gott bedeutet Frieden. Gott ist Licht in der Dunkelheit. Und Leben.“
Um es kurz zu machen. Ich habe Gott nicht gefunden. Oder aber er hat mich nicht gefunden, oder gesucht. Was weiß ich. Ich habe auch nicht wirklich gesucht. Ich wusste ja nicht wo und wie und überhaupt. Zwei Tage später las ich beim Durchblättern der Zeitung die Horoskope und fühlte mich auf seltsame Weise zurück in den Beichtstuhlsessel versetzt: „Suche dein Glück und es wird dich finden.“
Nun ergaben sich zwei Möglichkeiten: Entweder Gott wollte mir etwas mitteilen. Oder aber Priester verdienen ihr Geld nebenberuflich als Horoskopierer. Oder umgekehrt.
Nachdem ich die Bibel in 23 Sprachen gelesen hatte. war ich mir endgültig sicher, dass der ganze Aufwand umsonst gewesen war. Und das lag nicht daran, dass Gott mir in keiner einzigen Zeile begegnet oder zumindest an mir vorbeigegangen war. Es lag vielmehr daran, dass ich eines Tage auf Golgatha stand und feststellte, dass die Kreuze grünlich leuchteten und leicht schräg standen.
Ich unterbroch den Lesefluss, schlug das Buch zu und stellte fest, dass ich genau diese Stelle bereits einige Jahre zuvor gelesen hatte. Damals waren die Kreuze jedoch grau gewesen und ragten hoch und gerade in den Himmel. Wie Pfeile. Was war passiert? Nicht das Buch hatte sich verändert, nicht die Stelle, nicht der Satz, der Buchstabe, nicht einmal die Sprache: Ich hatte mich verändert. Es war ein Wintertag, nicht nur vor den Fenstern, sondern auch in mir. Auf allen Kanälen des Fernsehens sprach man vom Weltuntergang und auf der Straße sang man irgendwelche monotonen Lieder. Ich hatte nicht Gott gefunden, sondern mich selber.
Wie in jeder anderen Geschichte, in jedem anderen Ton, jeder Berührung war die Bibel eine Aneinanderreihung von Fakten, der vielleicht dickste Band Malen-nach-Zahlen, den ich je in meinen Händen gehalten hatte. So trivial, so hässlich und so schön, wie jeder andere Hohlkörper auch. Vielleicht auch wie ein Lehmklumpen, der in meinen Händen zu einem zierlichen Pferd wird und in deinen zu einem altersschwachen Tiger.
„Ich hätte nie einen Tiger geformt“, meint sie.
„Was hättest du denn geformt?“
Sie überlegt kurz und antwortet: „Eine Träne.“
„Ich denke, du hättest eine Flamme geformt, die ausgesehen hätte wie eine Träne.“
„Ich hätte eine Träne geformt.“
Am Ende stand der Tod und wartete auf mich. Aber ich sah ihn schon von weitem, winkte ihm zu und gab ihm somit zu verstehen, dass ich noch ein wenig auf den Meeren umhertreiben wollte, bevor ich mich dazu entschloss an Land zu gehen. Ich war damals in Jakarta und suchte nach den Geistern, von denen mir berichtet worden war. Kurz darauf reiste ich ab, enttäuscht darüber, dass die Geister nicht aus irgendwelchen Baumstämmen krochen, und dass sie keine eigenen Augen hatten, sondern nur die meinen. Dass sie kein Leben hatten, nur das meine.
Überhaupt hatte ich mich nicht wohlgefühlt und das beunruhigte mich, denn ich wusste nicht warum.
An einer Kreuzung traf ich auf sie. Sie saß dort und überlegte in welche Richtung sie gehen sollte. So wie ich. Das war einer der Momente an denen ich bedauerte, dass meine Zunge nicht genauso inkonkret war, wie mein Gesicht.
„Rechts oder Links?“
„Du könntest auch fragen oben oder unten. Aber du tust es nicht.“
„Ich würde dort keine konkreten Orte finden.“
„Was macht dich so sicher, wenn du nicht dort warst.“
„Könnte ich mir sicherer sein, wenn ich dort gewesen wäre?“
„Letztlich ist es egal in welche Richtung du gehst. Gehst du nach Osten kommst du im Westen an. Gehst du nach Norden kommst du im Süden an. Egal wohin man geht, man kommt letztlich immer dort an, wo man nicht hinwollte.“
Manche Diskussionen führen in eine unglaubliche Leere. Sie zwingen dazu die Seile loszulassen, an denen wir uns festhalten. Und dann stellen wir uns die Frage, warum wir das machen sollten. Warum? Eine gute Frage in der sich der Kreis schließt. Schließlich verbirgt sich hinter jedem warum eine Intention, ein Interesse. Warum sollte man sonst fragen? Wem hilft es, wenn ich all die schönen aber falschen Metallpferdchen aus meinem Zimmer entferne. Mir selber?
„Die Frage ist berechtigt. Aber sie fordert dich auch dazu auf zu fragen, warum du deinen Anzug trägst.“
„Ich trage keinen Anzug.“
„Jeder trägt einen Anzug. Du merkst es nur nicht. Du merkst es nicht einmal, wenn er so eng ist, dass er dir die Luft abdrückt.“
Worte klingen wie das Flattern von Flügeln direkt neben dem Ohr und ziehen ihre Linien über meinen Kopf, wie die Seegans über der Stadt.
Oder auch nicht.
Die Beschreibung von Situationen ist wie die Definition von Worten: Es gibt tausende von Ihnen. Um die passende Beschreibung, die passende Definition zu finden könnten wir jede einzelne, die wir auf dem relativ kurzen Weg unseres Lebens finden in eine Tabelle eintragen, sie speichern neben anderen, sie zugänglich machen. Wissen sammeln. So dass wir nur noch den Begriff suchen müssten, Wort, wenn wir ihn kennen lernen wollten.
Aber das würde vermutlich der Kunst jeglichen Zauber nehmen. Es würde schnell so aussehen, als ob jede neue Beschreibung lediglich eine Kopie der verstaubten Daten ist.
Und selbst wenn es so wäre: Käme es wirklich darauf an, ob tatsächlich alles neue nur eine Kopie des alten ist, oder nicht vielmehr darauf, ob es in uns den Zauber der kindlichen Begeisterung wecken kann?
Mein Zeichenlehrer trat für gewöhnlich nah an mich heran, wenn er zu mir sprach. Hinzu kam, dass seine Stimme einen unangenehmen Flüsterton einnahm – aber das auch nur, wenn er zu mir sprach.
„Du musst deine Hand gerade durchstrecken und den Pinsel leicht nachziehen.“
„Warum?“, fragte ich
„Weil es dir erleichtert die Realität auf deine Leinwand zu bringen.“
Also brach ich mir meine Hand und legte den Pinsel in Kleister ein. Ich wollte nicht die Realität auf die Leinwand, sondern die Leinwand auf die Realität bringen. Was half mir ein weiterer Plastikklon in einer ganzen Armee von Spielfiguren?
„Du malst das Stilleben nicht, weil du es magst, sondern weil es dich einen Schritt weiter zur Autonomie des Malens bringt. Zu deiner Unabhängigkeit. Ohne Schweiß kein Preis.“
Aber das war mir ohnehin von Anfang klar gewesen. Nur wollte ich diesen Preis gar nicht haben. Für das, was ich wollte, hätte ich sogar all das gezahlt, was sich im Laufe meines Lebens um mich herum gesammelt hatte.
Viel war das zugegebenermaßen nicht, denn ich war Jäger und in Zeiten der Arbeitsteilung überließ ich das Zusammenstellen verstaubter Exponate in hässlichen Biedermayerkühlschränken denjenigen, die Lust und Zeit dazu hatten.
Zuletzt saß ich in der Mitte eines runden Tisches, an dem all die Schatten saßen, die mich in meinem Leben begleitet und geleitet hatten, unsicher darüber, was sie eigentlich die ganze Zeit von mir gewollt hatten. Jetzt da es vorbei war, wollte ich mich entspannt zurücklehnen und ihren Ausführungen lauschen. Doch da war nichts als Stille. Stille in meinem Kopf. Leere mit Ausnahme von mir, der ich auf den marmornen Boden starrte und mich fragte, wieso hier eigentlich Marmorfliesen liegen und nicht zum Beispiel Teerpappe. Und da ich der Einzige war, der die Fähigkeit besaß zu sprechen, sprach ich und traf die Entscheidung.