Pfingstrosen
Ich gehe nun schon seit Stunden durch den Wald, links und rechts nur Bäume und doch habe ich das Gefühl keinen Schritt weiterzukommen. Alles sieht gleich aus. Jeder Baum und jeder Strauch, der Schnee auf den Ästen: Einfach alles erinnert mich an sie Ich will das nicht, aber ich fühle mich zu schwach mich dagegen zu wehren. Immer kommen meine Gedanken zurück auf sie. Und ich weiss genau, dass das auch so bleiben wird, egal, was ich dagegen zu machen versuche. Mein Vater meint, das sei normal. Sie sei schliesslich meine Mutter gewesen. Und doch, seit ihrem Tod fühle ich mich nur noch müde und schwach. Eigentlich hätte ich damit rechnen müssen, schliesslich wusste ich, dass sie früher oder später sterben würde, denn schon vor meiner Geburt litt sie an Leukämie. Doch welches Kind will schon wahrhaben, wie krank seine Mutter wirklich ist? Die Ärzte gaben ihr damals nach meiner Geburt noch knappe 2 Jahre und nun hatte sie trotzdem noch 16 gelebt. Obwohl „leben“ ist völlig übertrieben. Die letzten Monate lag sie nur noch in ihrem Bett. Während der Chemotherapie verlor sie alle Haare und so kam es, dass sie eine schwarze Perücke trug. Früher schämte ich mich sehr manchmal, wenn sie nach einer Therapie damit zur Schule kam, um mich abzuholen.
Und dabei war sie doch einmal so schön gewesen. Sie hatte dunkelbraunes, lockiges Haar. Keine feinen Kringelchen! Nein, grosse, schwere, fallende Locken. Und im Sommer trug sie immer luftige Kleider mit Blumenmuster. Früher sass ich oft nur da und bewunderte sie oder versuchte die Blumen auf ihrem Kleid zu zählen.
Sie hatte eine edle Blässe, nur ihre Wangen wurden manchmal ein kleines bisschen rot, wenn sie verlegen war. Doch das war sie selten. Sie wusste auf alles eine Antwort und wenn nicht, konnte sie die Masse mit ihrem Lachen zum schweigen bringen. Sie hatte grosse, rehbraune Augen und wenn sie mich damit ansah, wusste ich, dass ich nicht alleine bin.
Doch jetzt kann sie niemanden mehr so anblicken und niemand schaut mich mehr so an. Ich mag meinen Vater sehr! Doch er kann mir nicht das gleiche, liebevolle Gefühl geben wie sie es konnte. Er ist nicht wie sie und ich bin es auch nicht! Überhaupt kein bisschen! Schon früher sagten meine Verwandten immer, ich käme ganz nach meinem Vater. Sie scherzten darüber, ob mein Vater damals fremdgegangen sei.
Ich habe blonde Haare doch ohne jeglichen Glanz, kleine, grün-braune Augen und mein Teint gleicht mehr einer Tomate als dem eines zarten Renaissance Engels. Ich bin nicht so schön wie meine Mutter. Alle lobten ihr bezauberndes Aussehen, ihre Ausstrahlung. So etwas besichte ich gar nicht! Ich bin das graue, unscheinbare Mäuschen. Nicht gehasst, nicht geliebt, nicht da! Ich habe nicht viele Freunde, doch was sind schon Freunde? Sie sind da, wenn es mir gut geht und wenn nicht? Freunde hören einem zu, doch vielleicht will ich gar nicht mit ihnen sprechen, vielleicht kann ich das schlichtweg nicht. Ich bin keine schillernde Persönlichkeit, wie sie es war. Manchmal habe ich das Gefühl, gar keine Persönlichkeit zu sein und nicht zu existieren. Dann schwebe ich in einer Seifenblase. In meinem kleinen, heilen Reich in das keine Gefühle dringen können. Nur der Schmerz kann mich aus diesem Zustand befreien. Doch der Schmerz lässt auf sich warten. Er will und will nicht kommen. Eher beschleicht mich ein Gefühl der Freude. Endlich schenkt MIR jemand Aufmerksamkeit, beachtet mich und hat Mitleid mit mir. Ich hasse mich dafür, so etwas zu empfinden! Ich liebte meine Mutter, wie kann ich froh sein, dass sie tot ist? Ich bin ein kleines, egoistisches Arschloch! Ich verabscheue mich, ich verachte mich, ich hasse mich!
Ach ja, ihre Lieblingsblumen waren die Pfingstrosen, die Pinkfarbenen.
Nun bin ich also hier, keinen Schritt weiter als zuvor und trotzdem hat es gut getan all dies einmal durch meinen Kopf gehen zu lassen. Danke, danke lieber Leser, dass sie mir zugehört haben! Aber nun ist es Zeit zu gehen. Auf Wiedersehen!
Langsamen Schrittes ging sie voran.
Ein dumpfer Knall, ein Aufschlag.
Ein kleines Rinnsal Blut färbte den Schnee tief rot.